Interview

„Kein großer Akteur möchte zu sehr vom Weltmarkt abhängig sein“

Ex-Siemens-Chefin Brigitte Ederer und SPÖ-Politiker Niko Kowall über gute und böse Globalisierung, unbequeme Wahrheiten und warum es auch gut sein kann, wenn China Werke in Europa baut.

Drucken

Schriftgröße

Brigitte Ederer war Managerin bei Siemens Österreich und im Vorstand der Siemens AG in Deutschland. Nikolaus Kowall ist promovierter Ökonom und Hochschullehrer. Beide sind bei der SPÖ – Ederer verhandelte als Staatssekretärin den EU-Beitritt Österreichs mit. Kowall möchte jetzt für die SPÖ in den Nationalrat. profil traf beide am Rande der Buchpräsentation von Kowalls neuem Buch „Raus aus der Globalisierungsfalle“. Ein Gespräch über wirtschaftliche Abhängigkeiten, Industriebetriebe unter Druck und ein kleines bisschen über Politik:

Herr Kowall, Sie haben ein Buch mit dem Titel „Raus aus der Globalisierungsfalle“ geschrieben. Sehen Sie sich denn als Opfer der Globalisierung?
Kowall
Die Globalisierung hat ihre Meriten. Sie hat globale Kosteneffizienz geschaffen, weil sie durch die globale Arbeitsteilung dafür gesorgt hat, dass am Weltmarkt die Produktion dorthin verlagert wird, wo sie am günstigsten ist. Das hat in vielen Entwicklungsländern dazu geführt, dass diese sich in den Weltmarkt integrieren konnten und zu Schwellenländern geworden sind. Dass die Mehrheit der Menschen nicht mehr in Entwicklungsländern lebt, sondern in Schwellenländern, ist eine Verdienst dieser Form der Globalisierung.
Aber was stört Sie daran?
Kowall
Gleichzeitig hat diese Form des Wirtschaftens keine Regulierung gekannt, also das, was wir auf nationalstaatlicher Ebene regulieren – Konsumentenschutz, Umweltrecht, Kollektivvertragslöhne, Steuern. All das findet im globalen Handeln nicht statt. Die Globalisierung war eine Wild-West-Expansion des Kapitalismus. Das hat auch den Druck auf Europa erhöht und auf die Standards, die wir uns hier über 100 Jahre erkämpft haben, der Lohndruck ist gestiegen.
Frau Ederer, Sie waren Vorständin bei Siemens, einem Weltkonzern, der von genau diesen Entwicklungen ja auch profitiert hat. Sehen Sie das auch so?
Ederer
Der Vorteil der Globalisierung war, dass heute viel weniger Menschen in extremer Armut leben. Es sind aber in dieser Zeit extreme Abhängigkeiten entstanden. Wir sind in Europa von zahlreichen Gütern und Rohstoffen aus Asien abhängig, und das macht uns verletzlich. Wenn China morgen sagt, wir liefern keine Magneten für die Windräder, können wir uns den Ausbau der Windenergie an die Wand zeichnen.
Weltweit nehmen derzeit die De-Globalisierungs- und Nationalisierungstendenzen zu: Handelshemmnisse werden aufgebaut, Zölle werden angehoben, China und die USA sind in einem beinharten Handelskrieg. Das verursacht auch Kosten. Was heißt denn das für kleine, offene Volkswirtschaften wie Österreich?

Die Energiewende ist mir sehr sympathisch, aber wir haben nicht darauf geschaut, dass wir sie auch in Europa realisieren können.

Brigitte Ederer

Ederer
Im Buch wird sehr gut beschrieben, dass der nationale Mark viel zu klein ist und eigentlich müssten wir den großen, europäischen Binnenmarkt betrachten. Hier sind wir ungefähr gleich groß wie China oder die USA. Und hier kann man ruhig protektionistischer sein. Die Frage ist, geht das? Wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir noch die Solar-Produktion aus China nach Europa zurückholen können, würde ich nein sagen. Dass wir sie aber ganz verloren haben, zeigt auch, dass wir nicht gut genug darauf geachtet haben. Die Energiewende ist mir sehr sympathisch, aber wir haben nicht darauf geschaut, dass wir sie auch in Europa realisieren können.
Kowall
Was wir als EU exportieren, macht nur 13 Prozent unserer europäischen Wertschöpfung aus. Das ist nur eine Spur mehr als die USA, ähnlich hoch wie Japan – und auch China fokussiert sich immer mehr auf den eigenen Binnenmarkt. Kein großer Akteur möchte in einem zu großen Ausmaß vom Weltmarkt abhängig sein. Aus österreichischer Sicht muss uns klar sein, dass der europäische Hebel entscheidend ist, um Souveränität zu garantieren. Österreich ist kein eigener Wirtschaftsraum, dafür sind wir viel zu klein. Die interessante Frage ist, wie es Europa schafft, bei wesentlichen Gütern weniger abhängig vom Weltmarkt zu werden. Wenn sich alle über die hohen Energiepreise beschweren, dann liegt das daran, dass wir derzeit viel und teure fossile Energie importieren. Wir sollten Energie und wichtige Medikamente selbst herstellen und kritische Rohstoffe möglichst recyceln und im Kreislauf halten. Möglicherweise müssen wir auch Grundstoffe wie seltene Erden wieder selbst abbauen.

Wenn wir wollen, dass Europa eine gewisse Autonomie hat, dann heißt das Staub, Schmutz und Lärm. 

Nikolaus Kowall

Das ist eine sehr unpopuläre Forderung.
Kowall
Wenn wir wollen, dass Europa eine gewisse Autonomie hat, dann heißt das Staub, Schmutz und Lärm. Und zwar hier bei uns und nicht nur in Brasilien oder Indonesien. Und das muss man auch ganz klar sagen.
Stichwort Medikamenten-Eigenversorgung. Viele Hersteller haben nach den Engpässen in der Pandemie zumindest durchgerechnet, was es bedeuten würde, ihre Werke zum Beispiel aus Indien hierher zurückzuholen. Es wäre deutlich teurer und die große Rückholaktion bleibt noch aus.
Ederer
Also diese Rechnung würde ich mir gern mal anschauen. Es könnte an den Energiekosten liegen, die sind tatsächlich wesentlich höher. Die Personalkosten sind in diesem Zusammenhang marginal, das sind voll automatisierte Fabriken. Ich habe ein wenig den Verdacht, dass jene, die die Produktion vor der Pandemie verlagert haben, sich jetzt nicht die Mühe machen wollen, alles wieder zurückzuholen.
Auch Europa agiert protektionistisch in vielen Bereichen.
Kowall
Protektionistisch ist ein Begriff, den ich nicht verwende. Sehen wir uns zum Beispiel den Klimazoll an. Die Europäer sagen zum ausländischen Konzern: Ja, du darfst Industriegüter einführen, aber die Kosten, die wir unseren Unternehmen für den CO2-Emissionshandel aufschlagen, verrechnen wir dir als Zoll, weil es das in deinem Land nicht gibt. Der Ökonom Nordhaus hat den Begriff Klimaklub geprägt. Im Prinzip macht Europa jetzt genau das. Auch beim Lieferkettengesetz sagt die EU: Alle Unternehmen, die im Ausland produzieren, müssen gewisse Standards erfüllen, wenn sie bei uns verkaufen wollen. Die Europäer lieben Regulierungen. Und weil wir alles durchregulieren, ist es so, dass andere Märkte das oft übernehmen, weil es praktikabler für sie ist, wenn sie ihre Güter bei uns einführen. In der Wissenschaft nennt sich das Phänomen Brussels effect.
Ederer
Aber wie kompliziert das in der Praxis ist, sehen Sie an der Diskussion um die Zölle für E-Autos aus China. Sie haben Überkapazitäten und überschwemmen den Markt mit hoch subventionierten Billigprodukten. Tesla und BMW produzieren in China für den Export. Und ein erheblicher Teil dieser Zölle würde auch Tesla treffen, das kein chinesischer Produzent ist. Und chinesische Hersteller umgehen das, indem sie Produktionsstätten in Europa aufziehen. BYD in Ungarn zum Beispiel.
Kowall
Ja, aber das ist dann ein Technologietransfer von der anderen Seite. Das Magna-Werk in Graz ist zum Beispiel prädestiniert für ein Landing (für die Ansiedelung, Anm.) von einem Produzenten aus China. Ich sehe das nicht so kritisch, wenn chinesische Hersteller hier produzieren sind sie zwar vom Zoll befreit, bringen aber Technologie, Wertschöpfung und Arbeitsplätze mit.
Sie beschreiben im Buch die Kreislaufwirtschaft als neue Möglichkeit für Wertschöpfung und wirtschaftliche Entwicklung. Was meinen Sie damit? Und ersetzt dies das riesige Rückgrat der Industrie, die über die letzten Jahrzehnte sehr viel Wertschöpfung auch in Österreich generiert hat?
Kowall
Wir sind das am zweithöchsten industrialisierte Land in Westeuropa. Bei uns macht der Anteil der Industrie 22 Prozent an der Wirtschaftsleistung aus. Das ist nur in Deutschland höher. Unsere Industrie ist unglaublich stark und wir wollen, dass sie stark bleibt. Und Recycling und Kreislaufwirtschaft sind aus meiner Sicht Möglichkeiten, um sowohl den Industriestandort zu halten als auch die planetaren Grenzen zu achten. Obendrein verringern wir damit internationale Abhängigkeiten. Beim Aluminium-Recycling hat die heimische AMAG um bis zu 90 Prozent weniger Energieeinsatz als bei der Originalherstellung mit der Elektrolyse. Und es gibt heimische Unternehmen, die genau dies Art von Metall-Recycling machen.
Die Industrie ist seit einem Jahr in der Rezession. Wo sehen Sie die Gründe dafür und wie kommt man hier wieder raus, Frau Ederer?
Ederer
Es gibt erhebliche Schwierigkeiten in der Industrie, das ist leider Fakt. An der Diskussion um die E-Autos und Verbrenner sieht man das auch sehr gut. Man müsste der Industrie schon etwas klarere Vorgaben machen, was man von ihr will. Und die Industrie selbst hat auch lange gebraucht, um sich zu positionieren. Ich sehe aber auch in der Recycling-Wirtschaft große, neue Potenziale für Wachstum. Obwohl der Herr Kowall den Begriff „Wachstum“ nicht mag.
Kowall
Ich bin Wachstums-Agnostiker. Ich halte die Debatte für oder gegen Wachstum für fehlgeleitet. Entscheidend ist, dass wir die Dekarbonisierung hinbekommen und den Wohlstand halten können.
Sie sind beide SPÖ-Mitglieder, Herr Kowall, Sie führen auch eine Vorzugsstimmenwahlkampf, um in den Nationalrat einzuziehen. Gleichzeitig gilt die SPÖ unter Andreas Babler als „Gottseibeiuns“ der Industriellenvereinigung und der Wirtschaftskammer.
Ederer
Die Industriellenvereinigung ist viel zu stark, als dass sie sich vor irgendetwas fürchten müsste.
Kowall
Ich sage, dass der Herr Nehammer mit dem Verbrenner in die falsche Richtung geht. Die Unternehmen sind schon viel weiter. Ich glaube, dass wir für viele Dinge, die die Industrie für die ökologische Transformation braucht, der bessere Ansprechpartner sind – etwa, wenn es um das Beschleunigen von Genehmigungsverfahren geht.

Zu den Personen:

Brigitte Ederer (68) war im Vorstand der Siemens AG in Deutschland und war davor als SPÖ-Politikerin in den 1980er- und 1990er-Jahren im Nationalrat. Als zuständige Staatssekretärin verhandelte sie etwa Österreichs EU-Beitritt mit. Zudem war sie Aufsichtsrätin in zahlreichen Unternehmen – etwa bei den ÖBB, bei Böhringer Ingelheim oder Schoeller Bleckmann.

Nikolaus Kowall (42) ist stellvertretender Vorsitzender der SPÖ-Alsergrund und Gründungsmitglied der Sektion 8. Der promovierte Volkswirt ist seit 2019 Inhaber einer AK-Stiftungsprofessur für internationale Wirtschaft an der Fachhochschule des BFI Wien. Davor lehrte er an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin.

Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".