Klimaökonom Wagner: „Werden auf Nuklearenergie nicht verzichten können“
profil: Herr Wagner, weltweit gesehen stammen aktuell zwei Drittel der Stromerzeugung aus fossilen Energien. Ist die Klimawende ohne Atomstrom überhaupt zu schaffen?
Wagner: Diese von Ihnen genannte Tatsache zeigt schon, wie schwierig es wird, die Wende mit den jetzigen Technologien zu schaffen. Allerdings ist die Nuklearenergie nicht die einzige Form einer CO₂-armen, stabilen Technologie, die es uns ermöglichen wird, das Energiesystem vollständig umzukrempeln. In Österreich ist glücklicherweise die Wasserkraft ganz vorn mit dabei; außerdem denke ich an Geothermie, Biogas und Carbon Capture and Storage, also das Abscheiden und Speichern von CO₂. Das sind nur ein paar der möglichen Technologien, die wichtig sind, um einem Elektrizitätsnetz, das vor allem aus Erneuerbaren gespeist wird, Stabilität zu verleihen.
profil: Das heißt, wir können auf Kernenergie verzichten?
Wagner: Aus österreichischer Sicht: Ja. Wir haben ausreichend Wasserkraft und genug andere Möglichkeiten für den Einsatz erneuerbarer Energien. Aus globaler Sicht wahrscheinlich nicht. Die Frage ist ja: Was ist das Ziel? Erneuerbare Energie oder CO₂-freie Energie? Die Kernkraft ist die ultimative nicht erneuerbare Energie. Aber wenn China statt Hunderter Kohlekraftwerke ein paar Nuklearanlagen bauen würde, wäre das aus Klimasicht zu befürworten.
profil: An der weltweiten Stromerzeugung hat die Atomkraft aktuell einen Anteil von zehn Prozent. Um wie viel müsste dieser Ihrer Meinung nach erhöht werden, um die Klimaziele zu erreichen?
Wagner: In den Niedrigemissionspfaden der Internationalen Energieagentur (IEA) spielt die Nuklearenergie eine etwas größere Rolle als bisher. Meine Schätzung ist, dass es aus globaler Sicht kurz- und mittelfristig mehr Atomkraft geben wird.
profil: Allerdings läuft uns die Zeit davon. Denn auch die Atomkraft lässt sich nicht von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Wir sehen in Europa Atomkraftwerke, an denen seit 15 Jahren gebaut wird und die immer noch nicht fertig sind. Die Chinesen sind da vielleicht ein bisschen schneller, aber vermutlich auch nicht schnell genug.
Wagner: Wenn jede neue Anlage wie bisher von Grund auf neu konzipiert wird, wird das natürlich nichts. Aber es geht da auch um neue Technologien. Diese kleinen modularen Reaktoren sollen im Prinzip in der Fabrik gefertigt und dann einfach installiert werden. Bill Gates hofft natürlich, dass diese Reaktoren eine Alternative sein werden. Klar, er hat da ja auch viel Geld hineingesteckt. Schon möglich, dass das funktionieren wird, aber wir wissen es nicht.
profil: Wenn so viele Ressourcen in die Atomkraft fließen, besteht die Gefahr, dass diese dann für die Weiterentwicklung und den Ausbau weniger riskanter Technologien fehlen.
Wagner: Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte Milliarden in die Nuklearindustrie investiert. Wenn dieses Geld stattdessen in erneuerbare Energien, in Speichertechnologien, in den Ausbau der Netze gesteckt worden wäre, wo stünden wir jetzt? Da geht es natürlich um Investitionen, die man Jahrzehnte im Vorhinein tätigt, die dann den Weg für die nächsten Jahrzehnte vorzeichnen. Frankreich hat einen Atomstromanteil von 70 Prozent und ist CO₂-effizienter als Deutschland und Großbritannien, trotz Energiewende und Kohleausstieg. Vielleicht hat Frankreich das ja richtig gemacht. Das bedeutet aber nicht, dass es für andere Länder auch richtig wäre.
profil: Sind Sie, was die Klimawende betrifft, grundsätzlich eher positiv oder eher negativ gestimmt?
Wagner: Für Optimismus ist es zu spät. Diesen Satz habe ich zwar schon vor ein paar Jahren in einem Interview gesagt, aber er stimmt noch immer. Irgendwie müssen wir die Wende schaffen, das ist klar. Ist es offensichtlich, dass wir sie schaffen werden? Eindeutig Nein. Eine intelligente Klimapolitik sollte jedenfalls die Notwendigkeit einer intelligenten Nuklearpolitik miteinbeziehen. Aber ich beneide keinen Politiker, der heute diese Entscheidungen treffen muss.