Das veränderte sich in der Klinik Ottakring nach dem Streik
Von Clara Peterlik
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Die Schicht ist zu Ende, Severin Ehrengruber steht entspannt vor der Wiener Klinik Ottakring. Rechts das hohe Hauptgebäude, links die ebenerdige Notaufnahme. Vor gut einem Jahr protestierte der junge Arzt mit seinen Kolleginnen und Kollegen hier mit Pfeifen und Schildern. „Ärzte am Limit, Patienten in Gefahr“ oder „Patientin todkrank, Ärztin todmüde“ stand etwa darauf. Jetzt ist es ruhig im Eingangsbereich der Notaufnahme, sechs Menschen warten sitzend, vier liegend auf Krankenhausbetten, bis sie drankommen, währenddessen wird in den vier Behandlungskojen untersucht. Der Raum daneben ist noch in Arbeit. Ein Schockraum für Notfälle öffnet hier in Kürze. „Das war auch eine unserer Forderungen“, sagt der Ausbildungsarzt nicht ohne Stolz.
Die Ärztinnen und Ärzte der Notaufnahme forderten mehr Personal, mehr Gehalt und eine bessere Verteilung der Notfälle in Wien. Der 60-Minuten-Streik schlug Wellen. Es war das erste Mal seit sieben Jahren, dass Mitarbeiter in Wiens städtischen Spitälern die Arbeit niederlegten. Und der Streik der Ottakringer Mediziner wurde zum Sinnbild für das, was alles schiefläuft: Viele Spitäler befanden sich nach der durchgestandenen Pandemie in einer schwierigen Phase. Lange Zeit Covid-Ausnahmezustand, Babyboomer gingen in Pension, Mitarbeiter verließen die Branche, weil es ihnen zu viel wurde. In der Klinik Ottakring in Wien eskalierte die Situation. Wie schaut es ein Jahr später aus? Hat sich etwas verändert? „Es hat sich einiges getan“, sagt Ehrengruber.
Die Bilanz eines Streiks. Ein Forderungskatalog in drei Kapiteln.
Der Rückblick
Vor Severin Ehrengruber liegt ein dicker Ordner. Der junge Arzt rückt seine Brille zurecht und blättert durch. Er arbeitet seit 2018 in der Klinik Ottakring. Mittlerweile ist er im letzten Ausbildungsjahr zum Internisten, derzeit für ein paar Monate auf der Intensivstation. „Wir begannen im Herbst 2022 zu dokumentieren, Gefährdungsmeldungen, E-Mails, alles, was schieflief.“ Im Dezember 2022 warnten sie 15 Mal vor einer Überlastung. Damals trafen eine Grippe- und eine Coronawelle gleichzeitig die Stadt und füllten die Notaufnahme. Die Lage spitzte sich zu.
„Wir mussten teilweise stundenlang telefonieren, bis wir ein freies Bett für Patienten bekamen. Die Menschen stapelten sich, es war zermürbend.“ Und mit der Zeit schlugen immer mehr Missstände in den Medien auf. Schlagzeilen wie „Spitalsmisere: Acht Stunden warten auf Intensivbett“ in der „Kronen Zeitung“ waren für den Wiener Gesundheitsverbund (WIGEV) höchst unangenehm.
Im Herbst und Winter 2022/23 wurde aus einer dauerhaft angespannten Lage ein nicht mehr tragbarer Zustand. Viele in der Mannschaft wären kurz vor dem Hinschmeißen gewesen. „In der Pflege gab es 25 bis 30 Menschen, die in kürzester Zeit gegangen sind, bei den Ärzten waren es auch einige“, erzählt der junge Mediziner. Sie schrieben Überlastungsmeldungen, Gefährdungsmeldungen – ohne Reaktion. Als die Ärztinnen und Ärzte die Probleme öffentlich machten, holte der zuständige Stadtrat Peter Hacker aus zur Gegenattacke. Das Problem sei, viele Ärztinnen und Ärzte der Notaufnahme seien nur Teilzeit beschäftigt, das erschwere die Einteilung. „Ich kann Dienstplan“, polterte Hacker.
Ich bereue es nicht, der Streik war dringend notwendig. Es war zu einem Zeitpunkt, wo viele kurz davor waren zu kündigen.
Die Akteure
Bei jedem Konflikt gibt es verschiedene Sichtweisen, die aufeinanderprallen. In diesem sind es drei: Der zuständige SPÖ-Stadtrat Peter Hacker spricht noch immer von einem „inszenierten „Streik“ von gewissen Teilen der Ärztekammer. Im Wiener Gesundheitsverbund betont man, dass Verbesserungen bereits in der Pipeline waren. Und dann gibt es die streikenden Ärzte, die viele ihrer Forderungen erfüllt sehen. Aber der Reihe nach.
"Wir sind von Stadtrat Hacker massiv angefeindet worden“, sagt Jungarzt Ehrengruber. Ehrengruber ist in der Ärztekammer aktiv, die Vertretung würde den Konflikt instrumentalisieren, wurde ihm vorgeworfen. Die Ärztekammer versank in der Zeit des Streiks tatsächlich in internen Streitereien. Der Streik als zweiter Schauplatz kam da sicher nicht ungelegen.
Aber im Interesse der Ärztekammer diesen Streik zu wagen, kann man der Nummer zwei des Streikkomitees der Wiener Klinik wirklich nicht vorwerfen. Aglaia Kotal ist SPÖ-Bezirksrätin in Hernals und Notfallmedizinerin. Sie zeigte sich damals im „Falter“ enttäuscht von „ihrer“ SPÖ. Es sei beschämend, wie mit ihnen umgegangen werde. Man habe Wege gesucht, sie aus dem Unternehmen zu entfernen, erzählt sie heute. „Ich bereue es nicht, der Streik war dringend notwendig. Es war zu einem Zeitpunkt, wo viele kurz davor waren zu kündigen.“ Es habe eine monate-, ja, jahrelange Vorgeschichte gegeben, da hätte man früher reagieren können.
Aber auch karrieretechnisch gibt es für Kotal nichts zu bereuen. Die Ärztin stieg innerhalb des Spitals auf und ist jetzt die Ausbildungsbeauftragte in der Klinik Ottakring in der Ärztlichen Direktion. Wie geht sich das aus? „Der Ärztliche Direktor ist sehr professionell, er hat uns den Rücken gestärkt und gleichzeitig zwischen uns und der Unternehmensführung vermittelt“, sagt sie. Öffentlich trug er den Streik allerdings nicht mit. Im Gegenteil, in seinem Namen veröffentlichte der Wiener Gesundheitsverbund kurz vor dem Streik einen Faktencheck, der zeigen sollte, fast alle Forderungen der Ärzte seien schon erfüllt worden.
Severin Ehrengruber
Notfallmediziner und Streiksprecher ein Jahr später
Das Personal
Die Forderung: 40 ärztliche Dienstposten und mehr Pflegedienstposten
Ein Jahr später hat sich einiges getan. Die Pflege bekam sechs Dienstposten dazu, das heißt, pro Dienst ist fast eine Pflegekraft mehr da. Auch der Chef habe gewechselt, das sei mit ein Grund für die hohe Fluktuation gewesen, heißt es aus dem Spital. „Bei den fachärztlichen Stellen ist es schwierig, wen zu finden“, erzählt Ehrengruber. Im Vorjahr gab es 31 Dienstposten, nur 27 waren besetzt. Von den 40 Dienstposten ist die Abteilung noch weit entfernt, aber sie hat im Vergleich zum Vorjahr vier Vollzeitäquivalente dazubekommen. Derzeit bekommt sie noch Unterstützung aus anderen Abteilungen, ab September brauche es diese Hilfe nicht mehr.
Viele arbeiten Teilzeit, sowohl in der Pflege als auch bei den Ärzten. „In Bereichen mit vielen Nachtstunden bei hoher Arbeitsbelastung ist es nicht anders möglich“, so Ehrengruber. Auch der Chef der Notfallambulanz Alexander Spiel sagt: „Teilzeit ist nicht das Problem, sondern Teil der Realität. Mehrere vertreten in allgemeinmedizinischen Ordinationen, Wahlärzte haben wir de facto keine.“
Auch wienweit hat sich die Personalsituation verbessert. Konkret verließen 3047 Mitarbeiter den Betrieb, 3171 fingen im Jahr 2023 an dort zu arbeiten, steht im Personalbericht des WIGEV. Insgesamt fehlen in den Einrichtungen allerdings noch 195 Ärzte und 879 Pfleger. Im Bericht zeigt sich auch die Pensionswelle in Zahlen – 2019 gingen 70 Ärzte in Pension, 2022 99. Aber auch die Abgänge aus nicht näher definierten „anderen Gründen“ stiegen: 387 hörten 2019 auf, 529 2022. 2023 480. Und 336 Ausbildungsärzte schmissen 2022 hin, im Vergleich dazu waren es 2019 248. Dafür stieg auch die Zahl an Neuaufnahmen 2023 bei Fachärztinnen (108 statt 83) und Ausbildungsärztinnen (475 statt 377).
Streik im Juni 2023
Die Ärztinnen und Ärzte legten für eine Stunde die Arbeit nieder.
2. Das Gehalt
Forderung: eine Notaufnahmezulage und ein Fortbildungsbudget
In der Notfallambulanz wird von 8 Uhr bis 20.30 Uhr gearbeitet, in der Nachtschicht von 20 Uhr bis 8.30 Uhr in der Früh. Zwölf-Stunden-Schichten, sieben bis neun Nachtdienste im Monat und die volle Bandbreite an Fällen. Das ist für viele junge Ausbildungsärzte spannend und aufregend. „Fachärzte längerfristig zu halten, ist jedoch nicht einfach“, sagt auch Notaufnahmechef Spiel. Gibt es doch viele Ärztejobs mit angenehmeren Arbeitszeiten, weniger stressigen Nachtdiensten und auch besserem Gehalt. Zusätzliche Anreize wie Sonderklassegelder gebe es etwa auf der Notaufnahme kaum. Das heißt zwar nicht, dass Notfallärzte schlecht verdienen, sie haben aber in Zeiten eines Ärztemangels viele attraktive Optionen.
Eine der Forderungen der Streikenden war daher eine Erhöhung der Notfallzulage von sechs auf 25 Euro. Das ist bisher nicht passiert. Die Gehälter der Bediensteten aller Spitaler wurden im Frühling inflationsangepasst, und sie erhielten ein Ausbildungsbudget in Höhe von 1000 Euro. Erstmals werden auch Einspringerdienste für die Pflege höher bezahlt. Und derzeit werden neue Gehaltsbänder verhandelt.
Klinikchef Peter Gläser
In seinem Namen veröffentlichte der Wiener Gesundheitsverbund kurz vor dem Streik einen Faktencheck, der zeigen sollte, fast alle Forderungen der Ärzte seien schon erfüllt worden.
3. Die Verteilung
Forderung: neues System für Rettungszufahrten, Umsetzung von Schockraum
Peter Gläser holt ein Papier hervor, er ist der Ärztliche Leiter der Klinik Ottakring. Der WIGEV überarbeitete die Rettungszufahrten grundlegend. Das sei schon vor einem Jahr in Vorbereitung gewesen, betont er. Seit der Coronapandemie sind öfter Betten in Häusern gesperrt – wegen Personalmangels, aber auch wegen Renovierungen. Bei der Aufteilung der Rettungszufahrten auf die Wiener Krankenhäuser wurde das allerdings nicht berücksichtigt, der Verteilschlüssel ging von der Gesamtbettenzahl aus. Jetzt wurde der Schlüssel adaptiert. Kleinere Ordensspitäler, wie die Barmherzigen Brüder etwa, übernehmen mehr Patienten von der Rettung. Das schafft Entlastung in den großen Krankenhäusern. Und wenn ein Rettungspulk kommt – also sieben Rettungen nacheinander –, gibt es einen Aufnahmestopp, bis die Patienten versorgt wurden.
Alle öffentlichen Wiener Spitäler werden jetzt auch von der Rettung bei kritischen Fällen sofort benachrichtigt, damit sie sich vorbereiten können, bis die Patienten kommen. Bisher hatte jedes Haus andere Regeln und die Rettung keine klaren Anweisungen. Vor dem Spital steht eine Erstversorgungsambulanz. Sie soll die Notfallambulanz entlasten. Die Öffnungszeiten wurden seit dem Vorjahr ausgeweitet, wie auch im Streikpapier gefordert. Eine eigene Bettenmanagerin verbessert jetzt auch die Patientenverteilung auf den Stationen.
Auch bei der Ausrüstung gab es Bewegung. In der Nacht vor dem Streik bekam die Ambulanz zwei neue Leihgeräte. Der lange diskutierte Schockraum, in dem etwa Menschen mit Herzinfarkt versorgt werden können, sei plötzlich auf Schiene gewesen und wird in Kürze eröffnet.
Sobald dort gesehen wird, dass es ein Problem gibt, schlagen sie am nächsten Tag in der Morgenbesprechung auf. Einen Streik im Haus wollen sie nicht.
Die Zukunft
Aber wäre das auch ohne Streik gegangen? Ja, sagt Peter Gläser. Er sitzt keine 200 Meter von der Notaufnahme entfernt in einem anderen Pavillon des Krankenhauses. „Wir waren an den Themen schon dran und haben in den letzten Monaten bewiesen, dass wir qualitativ gute Dinge in schneller Zeit umsetzen können.“ Das Jahr 2022/23 sei weltweit für viele Krankenhäuser schwierig gewesen. Es ging darum, nach dem langen Ausnahmezustand und der Erschöpfung wieder einen Alltag zu finden.
Nein, sagt Notfallmediziner Ehrengruber. Es habe sich viel verändert, aber es wäre nie in dieser Geschwindigkeit ohne den Streik passiert. „Wir haben so oft das Gespräch gesucht, niemand hat uns zugehört.“ Es gebe noch immer Krisenabteilungen in Wiener Krankenhäusern. Geändert habe sich aber das Bewusstsein der Generaldirektion: „Sobald dort gesehen wird, dass es ein Problem gibt, schlagen sie am nächsten Tag in der Morgenbesprechung auf. Einen Streik im Haus wollen sie nicht.“
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.