Herr Naimer, ich unterstelle, dass, abgesehen von ein paar Spezialisten, kaum jemand den Namen Ihres Unternehmens kennt. Dennoch sind Sie Weltmarktführer bei Nockenschaltern. Könnte ich, als elektrotechnische Laiin, so einen Schalter schon einmal benutzt haben?
Naimer
Wetten, dass? Kann gar nicht anders sein.
Gmeiner
Nockenschalter kommen immer dann zum Einsatz, wenn man höhere Ströme schalten muss, und das mit Lichtschaltern, wie wir sie alle kennen, nicht mehr möglich ist. Zum Beispiel bei Garagentoren. Oder wenn Sie in der Wohnung irgendeinen größeren elektrischen Verbraucher, wie einen Elektroofen oder eine stärkere Kaffeemaschine, benutzen. Manche haben eine Notstromversorgung mit einem kleinen Generator zu Hause. Da muss man vom Netz- auf den Notbetrieb umschalten. Das sind klassische Anwendungen für den Nockenschalter.
Sie erinnern tatsächlich ein bisschen an die Lichtschalter, wie man sie manchmal noch in alten Häusern findet. Waren das auch Nockenschalter?
Gmeiner
Das waren Drehschalter, aber keine Nockenschalter. In der klassischen Hausinstallation wurden sie vom Kippschalter völlig verdrängt. Wir sind aus technischen Gründen beim Drehen geblieben.
Was genau ist denn nun ein Nockenschalter?
Naimer
Ein Trumm, das den Strom ein- und ausschaltet.
Gmeiner
Vorn haben Sie einen Drehgriff, mit diesem betätigt man die gesamte Konstruktion. Im Schalter selbst befindet sich eine Scheibe, die nennt man Nocke. Diese Nocke hat Ausnehmungen. Durch das Drehen werden die Kontakte geöffnet oder geschlossen. Sie dienen also dazu, eine elektrische Verbindung herzustellen oder zu trennen. Das ist das Herzstück.
Und Kraus & Naimer hat das erfunden?
Gmeiner
Es gab auch vorher schon Nockenschalter, aber die hatten einen anderen Aufbau. Mit einer starren Säule, meistens aus Metall, die händisch gefräst wurde. Man kann sagen, das waren Einzelstücke. Der Vater von Ted Naimer hat sich gedacht, er macht das anders. Statt einer langen Säule steckte er kleine Scheibchen hintereinander. Mit so einer gesteckten Nocke hat man ein komplettes Baukastensystem, das industriell gefertigt werden kann. Das war eigentlich das Revolutionäre Ende der 1940er-Jahre.
Naimer
Mein Vater war 1948 oder 1949 auf einer internationalen Messe in Basel. Dort hat er das Nockenschalterprinzip gesehen und festgestellt, dass es eigentlich viel zu unflexibel ist. Daher kam die Idee der Stecknocke, die der Ernst gerade beschrieben hat. Wir können in die Nocke, in Verbindung mit dem Rastenwerk, beliebig viele Einschnitte fräsen. Dadurch bekommen wir ein programmierbares Schaltgerät. Denn jede Schaltkammer, bei uns heißen sie Fluchten, kann ihre eigene Nocke haben, die eigene Einschnitte hat. Dadurch kann man im Extremfall bis zu zwölf Schaltkammern hintereinander mit bis zu zwölf Funktionen über diese Nocke steuern.
Das heißt, vorn dreht man Schritt für Schritt weiter …
Gmeiner
Und hinten kann unheimlich viel Unterschiedliches passieren.
Naimer
Wenn man versucht, sich auszurechnen, wie viele Kombinationen möglich sind, ergibt das so viele Nullen, dass das Zimmer hier gar nicht ausreichen würde.
Joachim (Ted) Laurenz Naimer, 73,
trat nach einem Wirtschaftsstudium in Los Angeles in das Familienunternehmen ein, seit 1981 ist er in der Geschäftsführung tätig. 2004, nach dem Tod seines Vaters, übernahm er die Leitung des Gesamtkonzerns. Der leidenschaftliche Hobbyschlagzeuger ist Schweizer Staatsbürger und lebt im Tessin und in Wien.
Welche Anwendungen kann man sich da vorstellen? Mehr als zwei Positionen – einschalten und ausschalten – wird man wohl nicht so häufig brauchen.
Gmeiner
Fahren Sie Ski?
Gelegentlich.
Gmeiner
Bei Seilbahnen finden Sie unsere Produkte sehr häufig. Damit die Leute ein- und aussteigen können, kann der Liftwart am Sessellift unterschiedliche Geschwindigkeiten schalten und im Notfall ganz abschalten. Dadurch hat man bereits mindestens drei unterschiedliche Schalterstellungen und Funktionen.
Naimer
Wir können auf Kundenwunsch die unterschiedlichsten Spezialschalter mit beliebig vielen Kombinationen herstellen. Und unsere Kunden haben immer Sonderwünsche. Weswegen wir auch keine Massenproduktion haben, die der Rede wert wäre.
Gmeiner
Das klassische Ein- und Ausschalten macht natürlich einen Großteil der Anwendungen aus. Kleine Steuerschalter werden zwar aufgrund elektronischer Möglichkeiten immer weniger, aber wenn es um Sicherheit geht – also für Hauptschalter, Sicherheits- oder Wartungsschalter –, dann ist man nach wie vor bei diesem Produkt. Denn die Elektronik kann das nicht eins zu eins sicher nachbilden. Bei einem elektronischen Schaltkreis hat man immer eine galvanische Verbindung, einen Leckstrom. Das heißt, es ist nicht wirklich ausgeschaltet. Wenn beim Nockenschalter die Kontakte geöffnet sind, hat man eine Luftstrecke. Durch diese Luftstrecke kann man sicher sein, dass man keinen Stromschlag bekommt, wenn man vorn abschaltet und hinten an der Maschine arbeitet. Bei einer elektronischen Abschaltung kann man das nicht.
Nockenschalter
Das Funktionsprinzip wurde in den späten 1940er-Jahren entwickelt.
Hat sich, seit Ihr Vater diesen Nockenschalter in den 1940er-Jahren entwickelt hat, etwas daran verändert oder ist es im Prinzip noch das gleiche Produkt?
Naimer
Das Funktionsprinzip ist das Gleiche geblieben. Es ist immer noch die Nocke, der Stößel, die Kontaktbrücke. Aber all die Teile, aus denen das Produkt besteht, haben sich über die Jahre und Jahrzehnte erheblich verändert: anderes Material, andere Fertigungstechniken, andere Möglichkeiten, Kontakte zu formen.
Gmeiner
Wenn man das Produkt so anschaut, könnte man denken, altmodischer geht’s nimmer. Es sind natürlich Anwendungen weggefallen, die durch Elektronik ersetzt wurden. Aber es kommen auch immer wieder neue dazu. Man muss die Augen immer offen halten, um sie zu entdecken. Zum Beispiel werden unsere Schalter in Serverfarmen verwendet. Oder bei Robotern in der Logistik. Auch die muss man mal warten – da braucht man unsere Schalter.
Naimer
Vor 15 Jahren haben 98 Prozent der Anforderungen an den Schalter den Wechselstrom betroffen. Dann kam die Photovoltaik, und da hat man Gleichstrom. Und ein Gleichstromschaltgerät muss völlig andere Bedingungen erfüllen als ein Wechselstromgerät. Da mussten wir alle möglichen Tricks neu lernen, die wir zwar in der Theorie von der Universität kannten, aber nun praktisch verwerten mussten. Das war eine Herausforderung, aber letztlich ist unser Produkt für Gleichstrom recht gut geeignet.
Gmeiner
Jedes unserer Produkte wird zudem vollständig digital abgebildet. Wir haben dafür eine eigene Software entwickelt. Wenn ein Mitarbeiter in Amerika ein spezielles Produkt benötigt, kann er es am Computer bis auf die letzte Schraube abarbeiten. Dann schickt er das File direkt in die Fabrik in Weikersdorf, und dort wird es produziert. Ohne Digitalisierung ginge heute gar nichts mehr. Wir wären nicht mehr konkurrenzfähig.
Naimer
Das ist der Grund, warum wir in einem Hochlohnland wie Österreich überhaupt überleben können. In unserer Fabrik in Weikersdorf passiert sehr viel in Handarbeit. Die Vielfalt unserer Produkte lässt sich durch die Automation nicht effizient bewältigen. Für den allerletzten Schritt, das Zusammenbauen des Schalters, braucht es immer noch den Menschen. Meistens sind es Frauen – die haben im Regelfall feinere Finger und mehr Geduld als die Männer.
Ernst Gmeiner, 62,
begann seine Karriere bei Kraus & Naimer vor rund 40 Jahren als Vertriebsmitarbeiter. 2004 avancierte er zum Geschäftsführer. Er ist nicht nur Ted Naimers rechte Hand, sondern zählt auch zu dessen besten Freunden.
Was ist denn die exotischste Anwendung oder der ungewöhnlichste Ort, an dem einer Ihrer Schalter verwendet wird?
Naimer
In den USA sollte eine neue U-Boot-Station eingeweiht werden. Wenige Tage vor der feierlichen Eröffnung durch den Präsidenten ist man draufgekommen, dass man den Hauptschalter vergessen hat. Da haben sie bei uns angerufen. Der Schalter wurde hier in Wien innerhalb von ein paar Stunden gebaut, zum Flughafen gebracht und nach Amerika geflogen. Ein Luftwaffen-Jet hat ihn übernommen und zur U-Boot-Basis gebracht. Zwei Tage später wurde die Basis eröffnet – mit dem Präsidenten und dem Schalter.
Welcher Präsident war das?
Naimer
Oh, bitte fragen Sie mich nicht. Damals durfte ich noch keinen Alkohol trinken, das ist also schon etwas länger her.
Gmeiner
Mir fällt noch eine andere Geschichte ein. Erinnern Sie sich noch an den Sturz Gaddafis im Jahr 2011? Da gab es dann Videoaufnahmen aus seinem Bunker. Und da waren unsere Schalter zu sehen. Das war eine ziemliche Überraschung.
Wissen Sie, wie der libysche Diktator an Ihre Schalter gekommen ist?
Gmeiner
Es ging offenbar über die Schweiz, wir hatten keine Ahnung davon. Aber man konnte den Namen einer Schweizer Firma auf diesen großen Schalttafeln lesen.
Naimer
In den meisten Fällen kennen wir den Endkunden gar nicht.
Wie wird man eigentlich zum Marktführer? Ist Ihr Produkt anderen tatsächlich überlegen oder sind Sie einfach besser im Marketing?
Gmeiner
Wir haben die modulare Bauweise erfunden und dann immer weiter entwickelt. Damit waren wir schon immer Marktführer.
Naimer
Mein Vater war Qualitätsfanatiker. Ich bin es noch viel mehr, deswegen bin ich nicht immer so beliebt. Qualität ist nicht nur, dass das Ding funktioniert. Das muss selbstverständlich sein. Qualität fängt beim Bestellvorgang an und endet in dem Moment, in dem der Kunde mit dem Schalter weggeht. Dazu kommen die weltweite Präsenz und unsere Verkaufsingenieur-Philosophie mit Vertretern, die den Kunden tatsächlich technisch beraten können und nicht einfach nur einen Verkaufsabschluss machen wollen. Das hat außer uns kaum jemand.
Aber so ein Schalter dürfte in China relativ schnell kopiert sein …
Gmeiner
Wir haben ein Know-how, das kann man nicht kaufen, das muss man sich selbst über Jahrzehnte erarbeiten. Das heißt, die Eintrittsbarriere für andere Unternehmen ist recht hoch. Aber wir werden durchaus kopiert. In China gibt es jede Menge Schalter, die genauso ausschauen wie unsere. Mit den gleichen Farben, alles genau gleich.
Naimer
Das geht so weit, dass sie Logos draufkleben, da steht dann „Klaus & Reimer“. Und der Kunde, der nicht genau hinschaut, merkt das nicht, sondern erst, wenn das Biest nach 14 Tagen schon wieder kaputt ist. Dann kommt er zu uns und beschwert sich.
Herr Naimer, Sie führen das Unternehmen in dritter Generation. Gibt es auch noch Nachkommen der Familie Kraus?
Naimer
Nein. Franz Kraus ist 1962 kinderlos gestorben und hat seine Unternehmensanteile meinem Vater vererbt.
Wollten Sie diesen Beruf immer ergreifen oder wären Sie lieber Profimusiker geworden?
Naimer
Zu Letzterem fehlt mir das Talent. Die Frage hat sich aber auch nie gestellt: Der Zweck meiner Zeugung war, einen Nachfolger für den Betrieb zu bekommen.
Dagegen hätte man nicht rebellieren können?
Naimer
Hätte man schon können, aber es war für mich so selbstverständlich, dass ich die Firma übernehmen würde, dass mir der Gedanke gar nicht kam.
Kraus & Naimer Produktion GmbH
1907 von Franz Kraus und Lorenz Naimer in einem kleinen Keller in Wien gegründet, entwickelte sich das Unternehmen in zweiter Generation unter Hubert Naimer zu einem Weltkonzern. Bereits in den 1970er-Jahren wurden international Produktionsstätten errichtet, unter anderem in Neuseeland und Brasilien.
In insgesamt sechs Fabriken (die größte befindet sich im niederösterreichischen Weikersdorf) und 18 Vertriebsgesellschaften werden weltweit rund 1000 Mitarbeiter beschäftigt. Kraus & Naimer ist ein auf Schalttechnik spezialisierter Hidden Champion. Die jährlich rund 4,3 Millionen hergestellten Geräte kommen etwa in der Fahrzeugtechnik, bei Seilbahnsteuerungen, in der Lebensmittelindustrie oder der Photovoltaik zum Einsatz. Kraus & Naimer produziert auch den kleinsten Nockenschalter der Welt, im Unternehmen liebevoll „Butzi“ genannt. Der familiengeführte Konzern – mit Ted Naimers Neffen steht die vierte Generation bereits in den Startlöchern – domiziliert im 18. Wiener Gemeindebezirk und steht im Eigentum einer Stiftung.