Warum Erdgas von den Sanktionen ausgenommen wurde
Keine Frage, die Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland infolge des Überfalls auf die Ukraine sind hart geworden. Die USA, die Staaten der EU und viele andere haben Russland regelrecht den Wirtschaftskrieg erklärt. Nicht nur der vieldiskutierte Ausschluss von Teilen des russischen Bankensektors vom Bankennetzwerk Swift wird das Land hart treffen. Vielleicht noch mehr auswirken wird sich die Sperre jener Finanzreserven der russischen Zentralbank, die bei westlichen Notenbanken lagern. Das bedeutet, dass Russland auf rund 630 Milliarden US-Dollar, angehäuft in Jahrzehnten, zu großen Teilen nicht zugreifen kann. Dieses Geld bräuchte das Putin-Regime wohl bald, um eine schwere Wirtschaftskrise zu bekämpfen und den weiteren Absturz des Rubels aufzuhalten.
Bei aller Härte gibt es allerdings eine große Ausnahme: Russlands Handel mit Öl und vor allem Erdgas. Er ist, samt fast aller damit einhergehenden Geschäfte, von den Sanktionen ausgenommen.
Für den Westen würde ein Boykott des russischen Energiesektors nämlich bedeuten, dass die weltweiten Energiepreise (derzeit ohnehin hoch) noch weiter ansteigen würden. Dies würde die Inflation (derzeit ohnehin hoch) in vielen Ländern weiter befeuern. Es brauche daher die große Ausnahme, um negative Effekte der Sanktionen "auf die globalen Märkte zu minimieren", rechtfertigte die Sprecherin von US-Präsident Joe Biden gegenüber dem Fernsehsender ABC News die Entscheidung.
Was das für Russland bedeutet, illustrieren einige Zahlen: Vergangenes Jahr kamen 36 Prozent aller Staatseinnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Gemeinsam machen die Rohstoffe fast die Hälfte der russischen Exporte aus (der überwiegende Großteil davon geht in Richtung Europa).Es ist die wichtigste Finanzierungsquelle für Russland. Und sie sprudelt auf absehbare Zeit weiterhin reich.
Die Staaten und Energiekonzerne in Europa (in der EU sind beispielsweise Österreich, Deutschland und Italien in besonders hohem Maß von Gas aus Russland abhängig) zahlen gut für die gelieferte Energie. "Jeden Tag geben wir 350 Millionen Euro einem russischen System, das wir damit in die Lage versetzen, in Waffen zu investieren, mit denen gerade Kiew und andere Orte beschossen werden", kritisiert der irische Klimaminister Eamon Ryan gegenüber Reuters.
Derzeit sind die Summen, die Russland lukriert, gar besonders hoch. Seit vergangenem Herbst sind die Gaspreise in Rekordhöhen gestiegen-teils infolge des Wirtschaftsbooms nach der Corona-Krise (der mit erhöhtem Energieverbrauch einherging),teils wegen der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine. So lag der Großhandelspreis für Erdgas laut dem heimischen Gaspreisindex im Februar 2022 um ganze 493 Prozent höher als im Februar 2021. Im Dezember letzten Jahres erreichte der Gaspreis in Österreich kurzfristig 170 Euro pro Megawattstunde-ein einsamer Rekordwert, der erst vergangenen Freitag infolge des Krieges eingestellt wurde: Da knackte der Preis die 200-Euro-Marke.
Darüber hinaus zeigen neueste Zahlen, dass Europas Gasimporte seit der Invasion der Ukraine nicht weniger werden. Im Gegenteil: "Die Menge des russischen Erdgases, die in Europa ankommt, hat sich in den vergangenen Tagen erhöht und liegt jetzt wieder ungefähr auf dem Stand vom vergangenen Dezember",erklärt Karina Knaus von der Österreichischen Energieagentur (AEA).Selbst durch die Pipelines in der umkämpften Ukraine fließt gerade mehr Gas als vor Kriegsbeginn.
Warum die Erhöhung mitten im Krieg? Das lässt sich nicht genau sagen, weil die genauen Modalitäten des Gashandels geheim sind. Nur die jeweils beteiligten Unternehmen-der russische Monopolist Gazprom und sein jeweiliges westliches Partnerunternehmen, etwa Österreichs teilstaatliche OMV-kennen die Verträge. Die Erklärung für die höheren Mengen liegt wohl in den sogenannten Mengengleitklauseln, die Gashandelsverträge gewöhnlich vorsehen. Das bedeutet, es gibt keine fixen Lieferungen, sondern lediglich Bandbreiten bei der Menge des zu liefernden Gases. Nach dieser Theorie hat gerade eine Phase begonnen, in der Russland wieder mehr Gas schickt, nachdem es zuvor weniger gewesen ist. Für Expertin Knaus ist allerdings "derzeit noch nicht ersichtlich, ob es sich tatsächlich um eine dauerhafte Trendwende handelt oder ob nur kurzfristig mehr Gas geschickt wird".
Fest steht, Russland braucht angesichts der gravierenden Sanktionen derzeit jedes Geld, das es bekommen kann. Da kommen höhere Gasexporte hoch gelegen. Dies umso mehr, weil in Gasverträgen üblicherweise nicht nur die Liefermengen flexibel gestaltet sind, sondern auch der Preis. Selbst wenn also ein Gasvertrag auf viele Jahre abgeschlossen wird, schwankt der aktuell zu zahlende Preis je nach Weltmarktpreis. Heißt, wenn Europa derzeit viel Gas bezieht, zahlt es auch hohe Summen dafür.
Diese werden von Russland auch dafür verwendet, um die Sanktionen zu konterkarieren-mit durchaus gefinkelten Maßnahmen. So hat die russische Zentralbank alle russischen Unternehmen, die Einnahmen aus Exporten lukrieren (meist in US-Dollar), angewiesen, selbige Einnahmen zu 80 Prozent in Rubel umzuwechseln. "Die Maßnahme dient dazu, den Rubel zu stabilisieren", erklärt Vasily Astrov, Russland-Experte vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Denn die solcherart geschaffene Nachfrage nach Rubel hält den Wert der Landeswährung einigermaßen hoch; ansonsten würde er wegen der Sanktionen ins Bodenlose stürzen.
All dies zeigt eindrücklich, wie abhängig Europa von russischem Erdgas ist. In Österreich beispielsweise sind 80 Prozent des Gases, das hierzulande in Thermen und Kraftwerken verheizt wird, russischer Herkunft. Europa braucht den Rohstoff, Russland die Einnahmen. Es gäbe zwar Alternativen zum russischen Gas: der Umstieg auf andere Staaten mit Gasvorkommen und-mehr noch-ein massiver Ausbau Erneuerbarer Energie wie Wind-oder Solarkraft. Doch derartige Programme erfordern viele Jahre Zeit. Die EU wie auch Österreich haben in den vergangenen Jahren versäumt, sich rechtzeitig und ausreichend um Alternativen zu kümmern (siehe Interview mit Gerhard Roiss).
Jetzt müssen sie russisches Gas kaufen, das mitten durchs Kriegsgebiet fließt. Und strikte Sanktionen mit dem Schönheitsfehler versehen, dass der mit Abstand wichtigste russische Wirtschaftssektor von ihnen ausgenommen ist. Eine rasche Schwächung des Landes ist so nicht zu erwarten.