Krieg in der Ukraine: Wohlstand oder Anstand?
Im Falle eines EU-Embargos auf russisches Gas „könnten wir vor einer Krise stehen, deren Ausmaß wir uns noch gar nicht vorstellen können“. Christoph Badelt, Vorsitzender des Fiskalrats und früherer Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts, sprach vergangene Woche Klartext. Kommt für längere Zeit kein russisches Gas aus der Pipeline, geht es um mehr als Klimaanlagen, Warmwasser und behagliche Stuben.
Vom österreichischen Gesamtverbrauch von 8,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr entfallen drei Milliarden auf die Industrie. Die Reserven reichen einen Monat. Dann könnte die Voest ihre Hochöfen nicht am Laufen halten. Papier wäre plötzlich Mangelware. Die Petrochemie könnte keine Grundstoffe für Medikamente liefern, die Nahrungsmittelindustrie müsste ihre Produktion zurückfahren. Österreich würde in eine Rezession mit hunderttausenden zusätzlichen Arbeitslosen stürzen. Kanzler Karl Nehammer lehnt das Embargo daher kategorisch und wortreich ab, auch während seiner Reise in die Ukraine am Wochenende (profil-Redakteurin Siobhán Geets begleitete ihn, ihren Bericht lesen Sie hier).
Dann erreichen uns die Bilder der Gräueltaten in Butscha bei Kyjiw und des Raketenangriffs auf den Bahnhof in Kramatorsk – und stellen uns vor die Frage: Zu welchen Opfern sind wir bereit?
Ikea geht, Putin bleibt
Auf den russischen Angriffskrieg hatte der Westen mit ökonomischen Mitteln geantwortet und Wirtschaftssanktionen verhängt. Die EU schnürte vergangene Woche bereits das fünfte Paket. Nun ist auch der Import von russischer Kohle in die EU verboten. Zuvor wurden die Devisenreserven der russischen Zentralbank im Westen eingefroren, russische Banken vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen, Exporte von Hochtechnologie nach Russland untersagt, die Verkehrswege von und nach Russland geschlossen. Diese Maßnahmen schaden Russland – aber nach sechs Wochen muss man auch feststellen: Ein Krieg wird mit Wirtschaftssanktionen alleine nicht gestoppt. McDonalds, Ikea und Apple ziehen sich aus Moskau zurück, die russischen Truppen bleiben vor Charkow und Mariupol.
Und indirekt wird der Angriffskrieg von der EU mitfinanziert, die pro Tag mehr als 700 Millionen Euro für russisches Öl und Gas ausgibt.
Ein Energie-Embargo wäre die stärkste Waffe des Westens gegen Wladimir Putin. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel deuteten schon an, dass ein Embargo auf Öl und Gas Teil des nächsten Sanktionspakets sein könnte. Die Entscheidung liegt allerdings bei den Mitgliedstaaten. Deutschland lehnt ein Embargo strikt ab.
Menschlichkeit statt Buchhaltung?
Allerdings riskiert die Bundesrepublik damit einen Reputationsschaden. In seiner Rede vor dem deutschen Bundestag am 17. März appellierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eindringlich an Kanzler Olaf Scholz, nicht nur an „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“ zu denken. Und er bedankte sich explizit bei „denjenigen deutschen Unternehmen, die Moral und Menschlichkeit über die Buchhaltung stellten. Über die Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“
Ist es so: Müssen wir zwischen Wohlstand und Anstand wählen, zwischen BIP und Moral?
Tatsächlich ist die Situation noch wesentlich komplexer. Ein – moralisch „richtiges“ – Gas-Embargo mag mittelfristig eine ökonomische Katastrophe bedeuten, könnte aber langfristig besser für die Wirtschaft sein, falls es Putin stoppt oder gar stürzt. Schlimmstenfalls könnten die wirtschaftlichen Folgen eines Embargos allerdings Massenproteste auslösen, westliche Regierungen zum Rücktritt zwingen und Putin-freundliche Rechtsparteien an die Macht bringen. Die Moral hätte doppelt verloren.
Aus derzeitiger Sicht dürfte die Einführung des Gas-Embargos durch die EU trotz des deutschen Widerstands nur eine Frage der Zeit sein. Die österreichische Regierung muss die Wirtschaft bestmöglich darauf vorbereiten; und bei der Bevölkerung rechtzeitig Verständnis für diese extreme Sanktion schaffen. Je öfter Bundeskanzler Nehammer in Interviews allerdings sagt, ein Gas-Embargo sei „keine intelligente Maßnahme“, desto größer wird sein Erklärungsbedarf sein.
Gernot Bauer