Krise oder Flaute: Wo sind die Jobs in der Industrie geblieben?
Von Clara Peterlik
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Ein nicht mehr ganz so junger Mann kommt näher. Mit einem Zettel in der Hand steuert er das Gebäude des Arbeitsmarktservice (AMS) am Linzer Bulgari-Platz an. Er hat lange bei einer großen Firma gearbeitet, sieben Jahre, erzählt er. Im Lager, als Staplerfahrer. Vor einer Woche wurde er gekündigt. „Nicht so viel Aufträge“, mutmaßt er. Eine Woche hat er sich ausgeruht und den Schock verdaut, seine Augen werden immer ein bisschen wässrig, wenn er davon erzählt. Jetzt steht er vor dem AMS. Was er sucht? „Alles Mögliche.“
Seit einigen Wochen kündigen immer mehr Firmen an, dass Teile ihrer Stammbelegschaft gehen müssen. Beim Solaranlagenbauer Fronius, bei Steyr Automotive und beim Automatisierungsexperten B & R etwa. Das schlägt sich mittlerweile auch in den Arbeitslosenzahlen nieder. Österreichweit stieg die Arbeitslosigkeit in der Warenproduktion überdurchschnittlich um 17,9 Prozent im Juli im Vergleich zum Vorjahr, im Industriebundesland Oberösterreich sogar um über 30 Prozent – der Österreich-Schnitt liegt bei knapp zehn Prozent. Woher kommt dieser massive Anstieg? Befinden wir uns in einer Flaute oder hat die heimische Industrie ein strukturelles Problem?
AMS-Chef Kopf sieht dunkle Wolken
Vor einem Jahr fuhren viele Betriebe noch Extraschichten und suchten Fachkräfte, um ihre Aufträge fristgerecht zu erfüllen. Doch jetzt ist alles ganz anders. Katerstimmung. „Das fing im Herbst 2023 an. Da haben immer mehr Firmen begonnen, unsere Arbeiter zurückzuschicken“, erzählt Klaus Mayrhofer. Er ist Betriebsrat in der Personalfirma TTI. Auf halbem Weg zwischen Linz und Steyr befindet sich der Firmensitz des Unternehmens, viele Mitarbeiter werden als Leiharbeiter an Metallproduktionsbetriebe in den beiden Industriestädten vermittelt. Derzeit haben sie 1590 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor einem Jahr waren es 2000, vor zwei Jahren sogar 2500. Leiharbeiter sind ein guter Gradmesser für die wirtschaftliche Lage. Bevor die Stammmannschaft gekündigt wird, verzichten Firmen meist auf die Dienste der quasi geliehenen Beschäftigten. „Wenn 200 Mitarbeiter gekündigt werden, dann berichten alle darüber. Wenn 500 Zeitarbeiter auf die Straße gestellt werden, dann schreibt niemand was.“
„Es hängen also Wolken über Österreichs Industrie, wir müssen daher dieser Branche besonderes Augenmerk schenken, denn auch der zukünftige Erfolg der wichtigen europäischen Automobilindustrie ist alles andere als gewiss“
Die Produktion ist derzeit das Sorgenkind in der Arbeitslosenstatistik. In einem Bericht des Arbeitsmarktservice formuliert es deren Chef Johannes Kopf so: „Mit deutlichen Beschäftigungszuwächsen und einer weit unter dem Schnitt liegenden Arbeitslosenrate machte die Warenproduktion dem AMS jahrelang besondere Freude. Eine so große Bedeutung zeigt sich aber klarerweise auch dann, wenn’s mal nicht gut läuft.“ Und das ist jetzt. Die Arbeitslosenquote lag mit 3,6 Prozent in der Produktion zwar klar unter dem Schnitt der anderen Branchen (6,4 Prozent), aber sie steigt gerade so stark wie seit vielen Jahren nicht mehr. Und zwar um über 17,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. „Es hängen also Wolken über Österreichs Industrie, wir müssen daher dieser Branche besonderes Augenmerk schenken, denn auch der zukünftige Erfolg der wichtigen europäischen Automobilindustrie ist alles andere als gewiss“, schreibt Kopf weiter. Das Tief wirkt sich auch schon auf die Herstellung von Waren aus, der Produktionsindex sank im Juni um 3,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
AMS in Linz
In Oberösterreich stieg die Arbeitslosigkeit in der Produktion um über 30 Prozent im Juli im Vergleich zum Vorjahresmonat.
2022 und 2023 Ausnahmejahre
Diese dunklen Wolken zeigen sich im Industrieland Oberösterreich besonders deutlich. Das Bundesland hat von einer sehr niedrigen Arbeitslosenquote ausgehend prozentuell einen der größten Zuwächse. In der Produktion stieg die Arbeitslosigkeit im ersten Halbjahr 2024 um über 30 Prozent, in der schwächelnden Automobilbranche – der Untergruppe Herstellung von Kraftwagen – um fast 50 Prozent. Bei den Leiharbeitern ist ein ganzes Fünftel mehr ohne Job als noch vor einem Jahr. Gleichzeitig gibt es in dieser Branche ein Drittel weniger offene Stellen, heißt es vom AMS Oberösterreich.
Alles andere als rund läuft es auch in Tirol. Im Juli stieg die Arbeitslosigkeit mit 18,6 Prozent dort am stärksten. Das überrascht, ist doch der Sommertourismus voll im Laufen. „2022 und 2023 waren Ausnahmejahre, wir haben noch immer eine sehr niedrige Arbeitslosenquote“, sagt Philip Seirer-Baumgartner vom Arbeitsmarktservice. Vor allem der Handel und der Tourismus seien verantwortlich für das Tiroler Plus. „Wir sehen einen Nachholeffekt im Vergleich zu anderen Bundesländern.“ Eine Normalisierung nach einem Hoch, das kann auch in Oberösterreich Teil der Erklärung sein. Und ein Punkt zeige sich auch in der Statistik: Das Frauenpensionsalter stieg im ersten Halbjahr 2024 als Teil der stufenweisen Anhebung. Einige Frauen sind dadurch länger arbeitslos, bis sie offiziell in Pension gehen.
Auch bei einem anderen wichtigen Index schaut es gerade nicht so gut aus. Bei den Lohnstückkosten hat sich Österreich in den vergangenen Jahren tatsächlich verschlechtert. Allein im vergangenen Jahr um rund zehn Prozent; für heuer wird ein fast ebenso hoher Anstieg erwartet. Die Entwicklung der Lohnstückkosten zeigt an, wie sich die Kosten für Arbeit entwickeln, um ein bestimmtes Produkt zu erzeugen. Ein zentraler Grund dafür ist, dass die Inflation in Österreich monatelang über der der Eurozone lag, politisch wenig effektiv gegengelenkt wurde und zuletzt hohe Lohnabschlüsse erzielt wurden. Gleichzeitig haben österreichische Betriebe nach wie vor mit sehr hohen Energiepreisen zu kämpfen. Im internationalen Wettbewerb ist beides nicht von Vorteil.
„Pierer und Co jammern den Standort krank. Das würde mich als Investor auch abschrecken, wenn die Industriekapitäne so jammern.“
Besser werden, um das, was man teurer wurde
Ihren Unmut darüber äußern Vertreter der Industrie, etwa der oberösterreichische Geschäftsführer der Industriellenvereinigung Joachim Haindl-Grutsch: „Während die globale Konkurrenz technologisch aufgeschlossen hat, entwickelte sich Österreich zur Teilzeitrepublik mit hohen Kosten für Arbeit, Energie und Bürokratie. Der Arbeitsplatzabbau in der oberösterreichischen Industrie ist großflächig im Gange, das meiste davon passiert unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle.“ Es brauche eine „Innovationsoffensive“, man müsse um das, was man teurer wurde, innovativer werden.
Ganz so will das Betriebsrat Mayrhofer vom Personalüberlasser TTI nicht stehen lassen. Die Lage sei gerade nicht einfach, aber: „Pierer und Co jammern den Standort krank. Das würde mich als Investor auch abschrecken, wenn die Industriekapitäne so jammern.“ Vor der Wahl und vor Beginn der Lohnverhandlungen werden besonders heftige Töne angeschlagen. „Ich habe den Verdacht, dass die Stimmung plötzlich danach schlagartig besser werden wird.“
Anstieg der Arbeitslosigkeit
Tirol verzeichnete den stärksten Anstieg, gefolgt von Oberösterreich.
Steyrs Bürgermeister ruft zu Industriegipfel auf
Bei den 300 Firmen, an welche die TTI Personal vermittelt, zeigt sich ein sehr durchmischtes Bild. Darunter sind Industriegranden wie die Linzer Voestalpine, Baumaschinenhersteller Wacker Neuson und die Kugellagerproduktion SKF in Steyr. Sie schicken aber auch Arbeiter zu Manner nach Wien oder zum Gerätehersteller Stihl in Tirol. Und sie vermitteln auch an die steirischen Automobilzulieferer Magna. Dort hieß es vor einigen Monaten: 500 Stellen werden gestrichen. Aber die Bereiche, in denen die Leiharbeiter tätig sind, seien nicht betroffen. „Es ist nicht immer alles schlecht. In den Firmen gibt es Bereiche, wo es gut läuft, und andere, wo es gerade schwierig ist.“
Wenn die Wirtschaft läuft, merkt man das schnell in Steyr. Und auch, wenn es kriselt. Hier stieg die Arbeitslosigkeit im Juli um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Eine Handvoll großer Industriebetriebe prägen die Kleinstadt, etwa Steyr Automotives, früher MAN. 200 Mitarbeiter verlieren demnächst ihren Job, kündigte das Management vor Kurzem an, und das ist nicht der erste Jobabbau. Der Bürgermeister rief vor einigen Wochen zu einem Industriegipfel auf.
Der rapide Wechsel vom Fachkräftemangel zum Mitarbeiterabbau zeigt sich auch im Stadtbild. „Es stehen mehr Leute um das Café Pavillon und vertreiben sich die Zeit“, erzählt Klaudia Burtscher, Leiterin des Frauenberufszentrums. „Das Grundproblem bleibt aber das Gleiche: Wenn der Arbeitskräftebedarf hoch ist, rufen alle nach Fachkräften, wenn Leute freigestellt werden, sollten wir die Zeit zum Ausbilden nützen, aber das passiert oft nicht. Vor allem, wenn das AMS im kommenden Jahr weniger Budget für Arbeitsmarktprojekte hat.“ Aber: Während die Automobilzulieferer kriseln, expandieren IT-nahe Unternehmen in der Gegend weiter, die Stadt hat sich in den letzten Jahren diversifiziert.
Arbeiterbetriebsrat Klaus Mayrhofer
Er ist Betriebsrat bei der Zeitarbeitsfirma "TTI Austria". ein gutes Zeichen, seit März stabilisiert sich die Lage bei den Leiharbeitern.
Hoffen auf Erholung
Und jetzt? Nach einem Krisenjahr 2023 lässt die wirtschaftliche Erholung weiter auf sich warten. Und dennoch ist eine echte Job-Krise bisher ausgeblieben. Durch den Fachkräftemangel waren einige Unternehmen tendenziell unterbesetzt, das verzögerte den Druck beim Personalabbau. Die Pensionierungswelle der Babyboomer federte mit ab. Und letztlich haben sicher Firmen Lehren aus der Pandemie gezogen. Unternehmen, die damals schnell kündigten, hatten ihre Schwierigkeiten, Personal zu finden, als es wieder losging. In Oberösterreich rechnen einige mit einem harten Herbst, im kommenden Jahr sollen sich die Konjunkturaussichten wieder aufhellen.
Auch wenn es gerade nicht einfach ist, besteht Dynamik im Arbeitsmarkt. „Zwischen Herbst und März haben viele Firmen gesagt, wir brauchen weniger Leute, dann hat sich die Lage stabilisiert“, sagt Betriebsrat Mayrhofer vom Arbeitskräfteüberlasser TTI. „Es kann sich sehr schnell wieder drehen, dann sagen alle: Wir brauchen unbedingt Leute, und alle ziehen nach.“ Hoffentlich sind die Leiharbeiter auch für die wirtschaftliche Erholung ein Frühindikator.
Mitarbeit: Christina Hiptmayr
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.