Krisenexperten: „Wirtschaft leidet an Long Covid“
Von Marina Delcheva
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Schlafen Sie beide derzeit gut?
Harold James
Ja, danke, ich schlafe gut. Aber das liegt daran, dass ich gerade an einer sehr schönen Anstalt, am Wissenschaftskolleg zu Berlin, forschen darf und von den Krisen rundherum ein bisschen abgeschottet bin.
Alexandra Habeler-Drabek
Diese Frage bekommen Risiko-Vorstände oft gestellt. Bei meinem Job braucht man einen guten Schlaf. Aber das heißt nicht, dass es tagsüber keine Themen gibt, die mir Sorgen machen.
Die letzte Finanzkrise hat mit einer Immobilienkrise begonnen. Derzeit sehen wir wieder gröbere Verwerfungen am Immobilienmarkt. Ist das schon der Vorbote einer neuen Finanzkrise?
Alexandra Habeler-Drabek
Ich glaube, dass die Lehman-Pleite im Jahr 2008 mit den schlecht besicherten Hypothekenkrediten eine andere Ausgangssituation war. Das europäische Bankensystem ist seit der Finanzkrise viel stärker und robuster geworden. In den letzten vier Jahren haben uns viele Schocks auf Trab gehalten. Diese Schocks haben sich aber weder auf das europäische noch auf das US-Bankensystem übertragen. Dass das System heute so stark ist, verdanken wir den Regulatoren. Auch wenn wir uns – teilweise zu Recht – über die überbordende Regulatorik beschwert haben, muss man anerkennen, dass diese Regeln das Bankensystem viel robuster gemacht haben. 2024 wird zweifellos ein schwieriges Jahr, aber ich glaube, dass wir die Krisen und Verwerfungen am Immobilienmarkt gut bewältigen können.
Harold James
Die Banken stehen heute viel besser da als 2008. Die Risiken kommen von zwei Seiten: Erstens war die Zinswende der vergangenen eineinhalb Jahre gewaltig. Wir haben lange in einer Zeit sehr niedriger oder sogar negativer Zinsen gelebt, und das ist jetzt zu Ende. Immobilien sind sehr sensibel für Bewegungen im Zinsniveau. Aber wir haben auch ein längerfristiges Problem: die gewerblichen Immobilien. Die Nachfrage nach Gewerbeimmobilien ist nach Covid stark eingebrochen. In den großen Metropolen wie New York, London und San Francisco stehen ganze Bürotürme leer. Vor allem ältere Gebäude sind derzeit sehr schwer zu vermieten, und das wird sich nicht ändern. Viele Menschen können von überall auf der Welt arbeiten, sie müssen nicht jeden Tag ins Büro fahren.
Alexandra Habeler-Drabek
Da muss ich kurz einhaken. Der Zinsanstieg in so kurzer Zeit war dramatisch. Das absolute Zinsniveau würde ich nicht als dramatisch bezeichnen. Wenn man sich einen längeren Zeitraum als die vergangenen zehn Jahre ansieht, ist es ein durchwegs normales Zinsniveau, und wir gehen davon aus, dass wir jetzt das Plateau bei den Zinsen erreicht haben.
Mit Signa ist einer der mächtigsten Immobilien-Player in Europa ins Wanken geraten. Befürchten Sie Dominoeffekte in der Branche, wenn einer der Größten in sich zusammenfällt?
Alexandra Habeler-Drabek
Derzeit kann niemand absehen, wie viele Signa-Gesellschaften noch in Konkurs gehen, und das verursacht Unruhe am Markt. Das halte ich für die größte Gefahr. Ansonsten denke ich nicht, dass es viele Verschränkungen zwischen den großen Immobiliengesellschaften gibt und es deswegen zu Dominoeffekten kommt. Ich kann nicht für alle Banken sprechen, was hier tatsächlich abzuschreiben ist. Wenn die einzelnen Kredite gut besichert wurden, muss das alles nicht zwangsläufig mit großen Abschreibungen einhergehen.
Harold James
Ich glaube jedenfalls nicht, dass es wegen einer großen Immobilienfirma zu ganz massiven Umbrüchen kommen wird. Benko hat versucht, die Warenkaufhäuser Karstadt/Kaufhof aufzuputzen, aber wir sehen schon länger einen Trend in Richtung Spezialgeschäfte und Onlinehandel.
Herr James, in Ihrem Buch „Schockmomente“ beschreiben Sie die Wirtschaftskrisen der vergangenen 150 Jahre. Mit Blick auf alles, was derzeit auf der Welt passiert: Arbeiten Sie schon an einem Folgewerk?
Harold James
Was wir jetzt erleben, ist noch immer die längerfristige Auswirkung von Covid und den Schocks, die diese Pandemie verursacht hat. Die Medizin hat sich verändert, das Bildungssystem, die Arbeitswelt. Und wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklungen. Hinzu kommen die Knappheiten in den großen Lieferketten, geopolitische Spannungen. Jeder, der auf einer knappen Ware sitzt, hat gemerkt, dass man diese als Waffe benutzen kann. Nicht nur Russland als Gaslieferant. Unsere Abhängigkeit von Rohstoffen aus China für die Energiewende ist sehr hoch, und die Zulieferer haben hier einen Hebel, den sie im Extremfall nutzen können.
Leidet die Wirtschaft an Long Covid?
Harold James
Ja, eindeutig. Aber wenn Sie „Schockmomente“ lesen, erfahren Sie auch, dass es eine optimistische Version des Ganzen gibt. Nach all diesen Krisen – der Hungerkrise im 19. Jahrhundert, der Ölkrise in den 1970er-Jahren – hat sich die Weltwirtschaft erheblich verändert. Sie wurde besser und effizienter. Im Moment leiden wir tatsächlich unter Long Covid, aber mittel- und langfristig ist das auch ein Prozess der Anpassung.
Sie haben den Krieg Russlands gegen die Ukraine einen „Kampf über die Norm der globalisierten Welt“ genannt. Was bedeutet dieser Krieg für unser wirtschaftliches Gefüge?
Harold James
Die Märkte sind trotz dieses Krieges derzeit recht euphorisch. Die Welt von heute ist sehr ambivalent. Auf der einen Seite sehen wir sehr große und schnelle technologische Fortschritte. Auf der anderen Seite sehen wir starke Fragmentierungstendenzen – der Angriff auf die Ukraine, Spannungen zwischen China und den USA, der schwelende Taiwan-Konflikt, der Hamas-Angriff auf Israel. Was Russlands Präsident Wladimir Putin gemacht hat, war nicht nur der Versuch, die Ukraine zu unterwerfen. Er hat auch versucht, die NATO zu sprengen und die EU zu destabilisieren. Er hat versucht, die Demokratie in den USA auszuhebeln. Es war ein sehr ambitioniertes Programm und ein Angriff auf die gesamte globalisierte Welt.
Welche Lehren ziehen Sie daraus?
Harold James
Solange Wladimir Putin an der Macht ist, ist es für uns unmöglich, mit dieser Regierung und diesem Russland zusammenzukommen. Die Angriffsgefahr beschränkt sich nicht nur auf die Ukraine. Auch Moldawien, die baltischen Staaten und sogar Polen fühlen sich bedroht. Putin ist ein Wagnis eingegangen: Er dachte, die Ukraine würde schnell kapitulieren. Jetzt aber, mit Fortschreiten des Krieges, sehen die Aussichten für Russland immer schlechter aus. Die russische Bevölkerung wird irgendwann dagegen aufbegehren. Das, was jetzt in Russland passiert, ist eine Tendenz der Selbstzerstörung.
Rechnen Sie eigentlich mit Übergewinnsteuern, falls es nächstes Jahr zum Beispiel einen Kanzler Kickl gibt?
Alexandra Habeler-Drabek
In Tschechien und in Ungarn gibt es schon eine Bankensteuer, in der Slowakei wird das Thema immer konkreter. Und auch in Österreich gibt es Bankenabgaben. Alle österreichischen Banken zusammen haben seit 2011 über zehn Milliarden Euro an den Abwicklungsfonds, in die Stabilitätsabgabe und in den Einlagensicherungsfonds eingezahlt. Die politischen Ankündigungen lesen und hören wir auch. Ein starker Standort braucht ein starkes Finanzsystem – wenn in einen normal funktionierenden Markt eingegriffen wird, hindert man Banken daran, ihrer Rolle als Geldgeber für Wachstum nachzukommen.
Die zehn Milliarden, die Sie angesprochen haben, flossen in Schutzmechanismen, die nach der Finanzkrise aufgezogen wurden, um einen volkswirtschaftlichen Schaden im Falle einer Bankenpleite zu vermeiden. Übergewinne würden direkt ins Bundesbudget fließen.
Alexandra Habeler-Drabek
Ja, das stimmt.
Harold James
Zur Frage von Bankensteuern: Das hat in Ungarn eine lange Geschichte, auch in Polen. Viele haben dort Kredite in Euro oder in Schweizer Franken aufgenommen, weil die Zinsen günstiger waren als in der heimischen Währung. Diese Menschen hatten dann ein sehr böses Erwachen, als diese Kredite plötzlich teurer wurden. Und die Banken, die diese Kredite begeben haben, wurden zu Recht von den Regierungen in die Pflicht genommen. Aber was wir jetzt auf dem Zinsmarkt erleben, ist eine Normalisierung.
Im Moment leiden wir unter Long Covid, aber langfristig ist das auch ein Prozess der Anpassung.
Alle Banken erwirtschafteten im Vorjahr Rekordgewinne. Angesichts der Rezession und Abkühlung der Wirtschaft – rechnen Sie damit, dass die Party bald vorbei ist?
Alexandra Habeler-Drabek
Ich würde die guten Ergebnisse nicht als Party bezeichnen. Es gibt schon Unterschiede zwischen den europäischen Banken. Wir als Erste Group verzeichnen noch immer ein Kreditwachstum, und das trotz des schwierigen Umfelds. Die Kunden veranlagen ihr Geld immer häufiger längerfristig, weil sie höhere Zinsen bekommen. Die Inflation ist da, und die Menschen müssen sich wieder an längerfristige Anlagebindungen gewöhnen. Unsere Kosten steigen, wir gehen davon aus, dass sich die Lohnabschlüsse in der Branche nach der Inflation richten werden. Die Regulatorik trägt zwar zur Stabilität der Banken bei, ist aber mit Kosten und viel Aufwand verbunden. Hinzu kommen die zahlreichen Krisen. Insofern wird 2024 für Banken herausfordernd.
Harold James
Die deutsche Wirtschaft ist sehr pessimistisch. In den USA gibt es einige Unsicherheitsfaktoren. Viele Analysten stellen sich auf eine „weiche Landung“ der Wirtschaft ein. Wenn das tatsächlich gelingt, wäre das ein überraschender Erfolg der Notenbanken, die sich lange mit der Anhebung von Zinsen zurückgehalten und damit die Inflation befeuert haben.
Die Finanzmarktaufsicht hat angesichts der fragilen wirtschaftlichen Lage, vor allem am Immobilienmarkt, Banken empfohlen, sich bei der Ausschüttung von Dividenden zurückzuhalten. Werden Sie dieser Empfehlung Folge leisten?
Alexandra Habeler-Drabek
Es ist allen Regulatoren unbenommen, ihren Sorgen Ausdruck zu verleihen. Ich kann nur für uns sprechen: Die Erste Group hat eine sehr transparente und umsichtige Ausschüttungspolitik. Ich gehe davon aus, dass die Aufsicht das auch entsprechend würdigt.
Herr James, ein paar Ökonomen beschwören angesichts all der geopolitischen Umbrüche und neuer Blockbildungen das Ende der Globalisierung, wie wir sie bisher kannten. Wie sehen Sie das?
Harold James
Ich sehe überhaupt kein Ende der Globalisierung. Das war im vergangenen Jahr eine Schlagzeile von Larry Fink (CEO von Black Rock, dem weltgrößten Vermögensverwalter, Anm.), der natürlich ein sehr bedeutender Unternehmer ist. US-Finanzministerin Janet Yellen sprach auch von Friend-Shoring (verstärkter Handel mit befreundeten Staaten, Anm.). Aber heute sprechen wir eher von De-Risking. Friend-Shoring ist auch irrsinnig, denn Länder und Regierungen ändern sich. Freunde werden zu Feinden. China und die USA erkennen auch langsam, dass beide Seiten die jeweils andere brauchen. Das Gesprächsklima ist heute wesentlich besser als vor einem Jahr. Russland ist ein Sonderfall. Es ist das Risiko eingegangen, sich von der Welt abzuschotten. China geht dieses Risiko nicht ein. Die neue Formel von Jake Sullivan (nationaler US-Sicherheitsberater, Anm.) lautet: kleine Höfe, hohe Zäune. Das bedeutet, dass man nur einen kleinen Teil der Wirtschaft, zum Beispiel militärisch kritische Hochtechnologie, abschottet. Der Rest soll wie gewohnt weiterlaufen.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Alexandra Habeler-Drabek
Bei Banken geht es darum, das Risiko zu streuen, auch das Kreditrisiko. Globalisierung ist kein Allheilmittel. Was gefährlich ist, sind einseitige Abhängigkeiten, wie wir das etwa bei der Abhängigkeit von russischem Gas gesehen haben.
Harold James
Wenn man ein Schlagwort wählen möchte, plädiere ich für Resilienz. Das ist ein besserer Begriff als De-Risking. Resilienz bedeutet auch, dass man bei sich selbst ansetzt, die Bildung verbessert, eigene Investitionen und Innovationen stärkt.
Alexandra Habeler-Drabek
Resilienz ist ein gutes Stichwort. Die vielen Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass Resilienz das Einzige ist, das uns wirklich hilft. Niemand hat mit einer globalen Pandemie gerechnet, aber wir hatten trotzdem Pandemiepläne in der Schublade, die dann angepasst werden konnten.
Resilienz ist aber teuer: wenn man mehrere Lieferwege offenhalten muss, Produktionsstätten nach Europa zurückholt …
Alexandra Habeler-Drabek
Am teuersten, mit Abstand, ist es, nicht resilient zu sein. Wenn Sie nur einen Lieferanten haben und dieser aus irgendeinem Grund ausfällt, sind Sie in ernsthaften Schwierigkeiten. Abhängigkeiten können viel teurer sein. Meine Hochachtung für Unternehmer und das unternehmerische Risiko ist in den letzten Jahren noch weiter gestiegen. Weil auch die Unternehmen und große Teile der Wirtschaft viel resilienter geworden sind. Dazu gehört manchmal auch, nur sehr selektiv zu investieren, wie es derzeit der Fall ist.
Harold James
Der fiskalische Spielraum ist nach den zahlreichen Krisen in vielen Ländern eingeschränkt. Demnach müssen sich viele Regierungen wieder darauf besinnen, wie man sehr gezielt staatlich fördert, und nicht mit der Gießkanne. Das vergangene Jahrzehnt war mit seinen niedrigen Zinsen eine sehr ungewöhnliche Epoche. Das hat die Denkweise gefördert, dass es so etwas wie Gratisgeld gibt und wir endlos viele Kredite aufnehmen können. Das ist jetzt vorbei und eine wirkliche Herausforderung für die Politik.
Zur Person
Alexandra Habeler-Drabek, 53, ist seit 2019 Risiko-Vorständin der Erste Group und seit 2021 im Vorstand der Erste Bank Österreich, wo sie ebenfalls den Bereich Risikomanagement verantwortet. Die studierte Ökonomin war bis 2010 bei der Bank Austria Creditanstalt, später Unicredit Bank Austria tätig. Sie ist außerdem Aufsichtsrätin bei der Österreichischen Kontrollbank.
Zur Person
Harold James, 67, ist ein britischer Wirtschaftshistoriker, der an der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey lehrt. In seinem aktuellen Buch „Schockmomente“ (erschienen im Herder Verlag, Anm.) zeichnet er die Gemeinsamkeiten der größten Wirtschaftskrisen seit 1840 nach. Aus jeder Krise ergaben sich Mechanismen, die wiederum zur Überwindung folgender Krisen beitrugen.
Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".