Kritik an Amazon: „Die Mitarbeiter werden regelmäßig überwacht“
Im Interview erklärt Gewerkschaftssekretär Stefan Najda, was er Amazon genau vorwirft und wieso er keinerlei Angst hat, dass Amazon seine Standorte ins billigere Ausland verlegt.
profil: Herr Najda, Ihre Gewerkschaft hat nun sogenannte „Inaktivitätsprotokolle“ von Amazon kritisiert. Was sieht man denn auf diesen Protokollen? Stefan Najda: Wir haben ein Originalpapier eines solchen Protokolls veröffentlicht, das Amazon-Führungskräfte den Mitarbeitern aushändigen – speziell Mitarbeitern, die befristet beschäftigt sind, oder die an Streiks teilgenommen haben. Mir stellen sich bei diesen Dokumenten die Nackenhaare auf. Hier werden sogenannte „Inaktivitäten“ von Mitarbeitern penibel erfasst, wobei der Begriff „Inaktivität“ extrem ausgelegt wird, weil es sich nur um Unterbrechungen von einer Minute, zwei Minuten, neun Minuten handelt. Den Mitarbeitern gegenüber wird so getan, als wären diese Protokolle ähnlich wie Abmahnungen, die man in der Personalakte abheftet. Arbeitsrechtlich sind diese Papiere wertlos, sie haben kein Gewicht. Aber Beschäftigte werden damit unter Druck gesetzt.
profil: Woher weiß denn Amazon, wenn ein Mitarbeiter kurz einmal inaktiv war? Najda: Das haben einige Beschäftigte auch gefragt. Daraufhin eierten die Führungskräfte herum, sie meinten, sie hätten das selbst beobachtet. Wir haben einen anderen Verdacht: Amazon zeichnet das mit den Scannern auf, die die Mitarbeiter mit sich herumtragen.
profil: Alle Mitarbeiter laufen mit Geräten zum Scannen herum? Najda: In den Versandzentren arbeiten „Picker“, „Packer“ und „Stower“ und sie haben alle solche mobilen Scangeräte, ähnlich wie Sie es aus dem Supermarkt kennen. Der Picker rennt in diesen riesigen Lagerhallen herum und holt die bestellten Waren, der Packer verpackt sie, der Stower sortiert neue Produkte ein. Sie scannen dabei das Regal ab, die Fachnummer, die Ware. So kann Amazon im Prinzip sogar sekundengenau sehen, wo ein Mitarbeiter gerade ist. Unser Eindruck ist: Die Mitarbeiter werden regelmäßig überwacht. Und wenn sie zwischendurch miteinander reden, wird ihnen unterstellt, dies seien persönliche Gespräche und somit Inaktivitäten.
profil: Amazon streitet Ihre Vorwürfe ab und sagt: Dieses „Inaktivitätsprotokoll“ sei ein unglücklicher Einzelfall aus dem Vorjahr gewesen. Najda: Mir liegen andere Informationen und mündliche Rückmeldungen vor, es ist kein Einzelfall und es ist auch nicht nur an einem Standort passiert. Amazon bestreitet nicht einmal, dass es dieses Dokument gibt, sie sagen, das Dokument sei alt, stamme aus dem Vorjahr und sei eine Ausnahme. Wer Einblick hat, wie Amazon funktioniert, weiß jedoch: Dieses Unternehmen hat straffe Hierarchien, die einzelnen Standortleiter dürfen wenig selbst entscheiden. Die Unternehmensstrategien kommen aus den USA. Dass Mitarbeitern Inaktivität vorgeworfen wird, ist nicht neu, das passiert auch in anderen Ländern.
Im Prinzip sind die Amazon-Mitarbeiter menschliche Roboter
profil: Wirklich? Najda: Ja, rund um den Globus führt Amazon sogenannte Feedbackgespräche, wo den Mitarbeitern etwa gesagt wird: Du musst 16 Picks mehr pro Stunde schaffen, also 16 Waren mehr pro Stunde zuordnen, sonst fliegst du raus. Hier wird Druck aufgebaut. Ich gebe zu: Wir wissen nicht, ob Amazon die Inaktivitäten von Mitarbeitern auch in anderen Ländern minutengenau protokolliert, das werden wir recherchieren. Es ist aber eine Amazon-Strategie, extrem auf die Aktivität der Mitarbeiter zu achten und in Zahlen vorzugeben, wie viele Picks man pro Stunde schaffen muss. Im Prinzip sind die Amazon-Mitarbeiter menschliche Roboter.
profil: Ihre Gewerkschaft, ver.di, streikt nun erneut gegen Amazon. Ist Amazon für Sie der derzeit wichtigste Fall? Najda: Nein, das würde ich so nicht sagen. ver.di verhandelt derzeit auch über die Tarife im öffentlichen Dienst oder bei der Post, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber politisch gesehen ist Amazon extrem wichtig. Amazon will radikal den Markt verändern, nicht nur im Einzelhandel. Der Onlinehändler verkauft auch Telefone, bietet Firmendienste und Speicherplatz an. Für uns ist Amazon von hoher strategischer Bedeutung, weil alle Mitbewerber genau beobachten: Was macht Amazon, wie reagiert die Gewerkschaft darauf, kriegen die das in den Griff oder nicht? Wir sind auf eine mittel- bis langfristige Auseinandersetzung eingestellt: Bei Ikea dauerte es auch jahrelang, bis das Unternehmen den branchenüblichen Tarifvertrag akzeptiert hat.
profil: Vor rund zwei Jahren begannen Ihre Streiks gegen den Onlinehändler. Was fordern Sie denn konkret von Amazon? Najda: Im Mai 2013 begannen Streiks am Standort Bad Hersfeld. Im letzten Dezember haben wir an insgesamt sechs von acht Standorten der Versandzentren gestreikt. Insgesamt haben sich rund 2700 Kollegen beteiligt. Die zentralste Forderung ist: Wir wollen einen Tarifvertrag mit Amazon abschließen, der die Mitarbeiter nicht mehr vom Goodwill des Arbeitgebers abhängig macht. In solchen Tarifverträgen werden etwa die Bezahlung, die Zuschläge für Spätarbeit, Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld genau geregelt, der Arbeitgeber kann dies nicht einfach willkürlich und einseitig gewähren, wie es derzeit bei Amazon der Fall ist. Unsere Streiks zeigen bereits Wirkung: Amazon wollte niemals Weihnachtsgeld zahlen, mittlerweile zahlt es zumindest ein bisschen Weihnachtsgeld, wobei die Höhe weit vom tarifierten Weihnachtsgeld im Einzel- und Versandhandel entfernt ist.
Amazon verschafft sich auf dem Rücken der Beschäftigten einen Wettbewerbsvorteil
profil: Das sind aber bestenfalls kleine Teilerfolge, oder? Najda: Das Kernproblem ist: Amazon verschafft sich auf dem Rücken der Beschäftigten einen Wettbewerbsvorteil. Mitbewerber zahlen die Tarife des Einzel- und Versandhandels. Das verweigert Amazon und hat somit einen Vorteil bei den Personalkosten.
profil: Amazon meint, es soll nicht ins Gehaltsschema des Onlinehandels fallen, sondern in jenes der Logistikbranche. Was ist denn so schlimm, wenn Amazon lieber die Tarife der Logistikbranche zahlt? Najda: Wenn Sie glauben, dass Amazon irgendeinen Tarif zahlt, dann gehen Sie denen auf den Leim. Amazon ist nicht tarifgebunden und wendet keine Tarifverträge an – auch nicht den der Logistik- und Speditionsbranche. In deren Tarifen sind nämlich auch Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld festgeschrieben. Urlaubsgeld zahlt der Onlinehändler keines, das Weihnachtsgeld ist mickrig. All diese Behauptungen sollen vom Grundsatzkonflikt ablenken: Amazon will überhaupt nicht mit Gewerkschaften verhandeln und verweigert jedweden Tarifvertrag.
profil: Eine Verständnisfrage: Die meisten österreichischen Arbeitnehmer erhalten 14 Monatsgehälter, das 13. und 14. Gehalt sind das Weihnachts- und Urlaubsgeld. Die Amazon-Mitarbeiter bekommen also nur 12 Gehälter? Najda: Genau, sie bekommen 12 Gehälter und dazu ein Weihnachtsgeld, meistens nur 400 Euro im Jahr.
profil: Ihre Gewerkschaft kritisiert das lautstark. Bei einigen deutschen Bürgern kommt das gar nicht gut an. In den Internetforen liest man immer wieder: Wenn die Gewerkschaft Stunk macht, riskiert sie Arbeitsplätze. Najda: Nein, hier wird mit gefährlichem Halbwissen gearbeitet. Wir haben acht Versandzentren in Deutschland, permanent rund 15.000 Beschäftigte, zur Weihnachtszeit kommen noch einmal etwa 10.000 weitere Beschäftigte hinzu. Amazon verdient vor allem aufgrund des Versprechens, dass „Prime“-Kunden alle bestellten Waren noch am selben Tag oder spätestens am nächsten Tag erhalten. Alle anderen deutschen Kunden bekommen die Ware spätestens am zweiten Tag. Dieses Lieferversprechen zu erfüllen wird schwierig, wenn all die Waren nach Frankreich, Polen oder die Tschechischen Republik verlagert und von dort versendet werden. Sie brauchen die Zentren in Deutschland, um weiterhin rasch zustellen zu können. Es stimmt, derzeit werden auch Produkte aus Polen und Tschechien nach Deutschland gesendet. Aber Amazon startet bald die polnische Webseite Amazon.pl und will zunehmend den osteuropäischen Markt, sogar Russland beliefern. Diese Versandzentren rings um Deutschland sind Expansionsstandorte. Trotzdem beobachten wir, wie mit der Angst vor Standortschließungen gearbeitet wird. Es gibt derzeit aber keinen konkreten Anlass, zu fürchten, dass Amazon deutsche Versandzentren zusperrt. Amazon ist 2014 in Deutschland kräftig gewachsen – nicht zuletzt, weil es die Ware in Deutschland so schnell zustellen kann.
Streik ist die ultima ratio, das letzte Mittel, aber wir müssen Druck auf Amazon ausüben
profil: Sie streiken nun erneut und wollen verhindern, dass einige Pakete rechtzeitig zum Osterfest ankommen. Erzürnen Sie mit solchen Aktionen nicht einige Konsumenten? Najda: Dass es vielen nicht gefällt, wenn ihre Ware zu spät ankommt, verstehe ich. Deswegen haben wir uns vorab an die Medien gewendet und diese Streiks angekündigt, damit die Konsumenten Bescheid wissen und ihre Produkte rechtzeitig anderswo kaufen können. Natürlich: Streik ist die ultima ratio, das letzte Mittel, aber wir müssen Druck auf Amazon ausüben, damit sich das Unternehmen endlich mit uns an den Verhandlungstisch setzt. Bürger können uns übrigens auch mit einer Onlinepetition auf der Webseite change.org unterstützen, sie heißt: „Amazon sei fair!“
profil: Als Gewerkschafter haben Sie sicher oft mit Konzernen zu tun, die einfach möglichst wenig zahlen wollen. Ist Amazon nur ein weiterer Lohndrücker oder ist es sogar härter als die anderen? Najda: Als Gewerkschafter erleben wir das immer wieder, wir haben Erfahrungen mit T-Mobile, Ikea oder H&M gesammelt. Mit all diesen Unternehmen hat es aber Gespräche gegeben, man hat sich immer wieder an den Verhandlungstisch gesetzt und sich letztlich auf Tarifverträge geeinigt. Amazon aber lehnt Gewerkschaften weltweit ab und verweigert kategorisch Tarifverhandlungen. In der Vehemenz, wie das Unternehmen das macht, ist das durchaus außergewöhnlich. Deswegen werden wir den Druck auf Amazon erhöhen.