Kündigungen bei Fahrradboten: „Anreiz bei Rot über die Ampel zu fahren“
Anton liefert seit rund einem Jahr Speisen für Lieferando aus – auf dem Fahrrad, bei Wind, Regen und Schnee. Seinen echten Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen, das Management sei nicht gut auf mitteilungsfreudige Fahrer zu sprechen. Anton ist kein Betriebsrat, kein Gewerkschafter, kein Aktivist – er ist pragmatisch. „Die Miete zahlen und etwas zu essen haben“, das sei seine Motivation. Ursprünglich stammt Anton aus der Ukraine, sein Studium führte ihn nach Wien. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist die elterliche Unterstützung aus der Heimat versiegt – er muss selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Wie viele andere Migranten landete er in Branchen, die leicht zugänglich sind und permanent Arbeitskräfte suchen: Gastronomie, Catering – und eben Essen auf dem Fahrrad auszuliefern.
Der Markt der Essenszusteller ist hart umkämpft. Lieferando, in Orange unterwegs und Teil des niederländischen Just Eat Takeaway-Konzerns, reagiert nun auf den steigenden Konkurrenzdruck: die bisherigen Dienstverträge werden auf freie Dienstverhältnisse umgestellt. Für Mitarbeiter bedeutet das: Kaum Rechte, mehr Risiko und vielleicht sogar: weniger Geld. Damit reihe man sich der Konkurrenz ein, kommuniziert das Unternehmen.
Für 25 Wochenstunden verdient Anton rund 1200 Euro netto im Monat – 14 Mal im Jahr. Trinkgeld kommt dazu, ebenso wie bezahlter Urlaub und Krankenstand. Hätte er ein eigenes Fahrrad, bekäme er außerdem 24 Cent pro Kilometer als Steuerpauschale – ein kleiner Bonus, der wegen seiner niedrigen Steuerklasse kaum ins Gewicht fällt.
Was für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Österreich selbstverständlich klingt, war in der Branche der Fahrradkuriere ein hart erkämpftes Privileg. Erst seit vier Jahren gibt es einen Kollektivvertrag für Fahrradboten.
Mit einem Vollzeit-Bruttolohn von 1730 Euro – etwa 1400 Euro netto – gehört der Job zu den am schlechtesten entlohnten in Österreich. Dennoch regelt der Kollektivvertrag Mindestrechte: bezahlte Überstunden, Nachtzuschläge, geregelte Arbeitszeiten und Kündigungsfristen.
Rund 5000 Fahrradboten sind österreichweit unterwegs – darunter auch Kuriere für Eilpost oder Medikamente. Den Großteil machen die Essenslieferanten für die drei großen Anbieter Foodora (ehemals Mjam), Lieferando und Wolt aus. Nur ein kleiner Teil der Beschäftigten unterliegt dem Kollektivvertrag – meist langjährige Mitarbeiter und bis dato auch die komplette Lieferando-Belegschaft. Für die anderen Unternehmen fahren fast nur freie Dienstnehmer.
Essen auf dem Fahrrad auszuliefern, ist ein Knochenjob, erzählt Anton. Die Branche ist männerdominiert und migrantisch geprägt. Weibliche Fahrerinnen trifft man selten. „Viele gehen lieber kellnern“, meint Anton. Er würde gerne mehr arbeiten, um seiner Familie Geld in die kriegsgebeutelte Heimat zu schicken, aber der Job sei körperlich extrem fordernd. Zwei bis drei Lieferungen pro Stunde schafft er im Schnitt, an einem stressigen Tag fährt er bis zu 80 Kilometer mit dem Rad.
Moderne Tagelöhner
Rund 650 Mitarbeiter sind von der geplanten Vertragsumstellung betroffen. Das bedeutet konkret: Kündigung – mit der Option, künftig freiberuflich für Lieferando zu arbeiten. Bezahlt wird dann pro Lieferung. Wie viel genau, ist unklar. In den profil vorliegenden Musterverträgen fehlt jegliche Angabe zur Entlohnung. Branchenüblich sind rund fünf Euro pro Auftrag – bei voller Auslastung wären rechnerisch also bis zu 2400 Euro monatlich möglich. Also 600 Euro mehr als mit Kollektivvertrag?
Nicht ganz. Freie Dienstnehmer müssen noch Sozialversicherung und Steuern abziehen. Urlaubs- oder Weihnachtsgeld gibt es keines. Für Ausrüstung und Instandhaltung ist man selbst verantwortlich, ebenso für die Haftpflicht. Dass es genügend Aufträge gibt, ist auch nicht sicher. Immerhin: Lieferando verpflichtet sich und seine Partner „alle Regeln zur Bekämpfung der Sklaverei“ einzuhalten.
Die Konkurrenz beobachtet jedenfalls genau, was Lieferando ihren Fahrern bietet. Foodora wirbt mit einem Stundenlohn „von bis zu 20 Euro“. Lieferando lockt hingegen mit einem Zusatzbonus von zwei Euro pro Auslieferung, den Grundlohn verschweigt der orange Lieferdienst dennoch.
Im Rennen um Marktanteile zählen Geschwindigkeit und Flexibilität. Das Geschäftsmodell folgt dem Prinzip: Hire and Fire – Personal wird kurzfristig aufgestockt und bei Bedarf wieder abgebaut. Mit dem Frühling beginnt die Saison fürs Aussortieren, erzählt Anton. In den Wintermonaten werde mehr bestellt, wetterbedingt wollen viele nur in den warmen Monaten radeln. Kollektivverträge mit Kündigungsfristen stehen da eher im Weg. Freie Dienstnehmer lassen sich schneller ersetzen.
Andreas Zechner kennt das Auf und Ab der Branche. Seit zehn Jahren ist der ehemalige Geschichtsstudent als Fahrradkurier tätig. Angefangen hat er beim pinken Konkurrenten Foodora, später wechselte er zu Lieferando – damals der erste große Anbieter, der seine Fahrer anstellte. Heute ist Zechner Betriebsrat. Noch. Die Stimmung in der Belegschaft sei miserabel, berichtet er: „Den Kollegen wird täglich schlecht, wenn sie den Rucksack anziehen. Alle sind ziemlich ang’fressen.“
Offiziell begründet Lieferando den Schritt mit dem Branchendruck: Die Konkurrenz arbeite seit Jahren mit freien Dienstverträgen – das verschaffe ihnen Wettbewerbsvorteile. Für die Belegschaft bedeutet das, den Verlust des hart erkämpften Kollektivvertrags.
Egal ob Essenslieferung, Personentransport oder Reinigungskräfte, die Europäischen Union sieht in der Plattformarbeit eine problematische Scheinselbstständigkeit. Eine Richtlinie zur Regulierung wurde bereits im Vorjahr verabschiedet. Bis Betroffene die Verbesserung spüren, könnte allerdings noch ein Jahr vergehen, bis entsprechende nationale Gesetze verabschiedet werden.
„Spiel mit dem Risiko“
Zechner selbst hätte sich jederzeit für einen freien Dienstvertrag bei Foodora entscheiden können – viele seiner Kollegen kämen von der pinken Konkurrenz. „Wir haben uns bewusst für Lieferando entschieden“, sagt er, „sich ständig im Verkehr aufzuhalten, ist gefährlich. Alle, die lange dabei sind, haben irgendwann Unfälle.“ Wer freiberuflich unterwegs ist, muss für Schäden und Reparaturen selbst aufkommen. Wer verletzungsbedingt ausfällt, bekommt erst ab dem vierten Tag Krankengeld in der Höhe des halben Lohns.
Es gibt eine geringe Chance viel Geld zu verdienen, aber du kannst dabei auch alles verlieren.
Lieferando-Zusteller
Die Online-Lieferdienste werben mit freier Zeiteinteilung und hohen Stundenverdiensten. Auch Anton fühlte sich davon zunächst angezogen. Doch er entschied sich für die Anstellung bei Lieferando: „Andere Anbieter sind ein Spiel mit dem Risiko. Wenn Geschwindigkeit mit Geld belohnt wird, hast du einen Anreiz, bei Rot über die Ampel zu fahren.“ Um möglichst viele Aufträge zu erledigen, setzen einige Fahrer auf frisierte E-Mopeds – offiziell gelten sie als Fahrräder. Strafen werden dabei in Kauf genommen und miteinkalkuliert. „Es gibt eine geringe Chance viel Geld zu verdienen, aber du kannst dabei auch alles verlieren“, erzählt Anton über seine ukrainischen Landsleute, die freiberuflich ausliefern. Die Online-Plattformen nehmen sich hingegen aus der Verantwortung – immerhin handle es sich nicht um das eigene Personal.
Kritik am Management
„Viele Aufträge sind unlogisch. Man kann von einem McDonalds am anderen Ende der Stadt bestellen, dann radeln wir an drei McDonalds-Filialen vorbei und der Kunde wohnt in einem Häuserblock mit einem McDonalds“, bemängelt Zechner. „Vielleicht wollen manche Kunden nur den Cheeseburger von dieser Filiale“, witzelt Anton. Was beide Fahrer berichten, Feedback pralle beim Management in der Zentrale im Neunten Wiener Gemeindebezirk ab. Ineffiziente Verteilung von Bestellungen stünden an der Tagesordnung. Zwangspausen, in denen Fahrer ohne Aufträge zum Stehen verdonnert werden, kosten Trinkgeld. Eine Interviewanfrage ließ der Lieferdienst gegenüber profil unbeantwortet.
Wann genau die Umstellung der Verträge erfolgt, ist noch unklar. Immerhin: Die Geschäftsführung habe einen Sozialplan verhandelt, findet Zechner dann doch noch ein lobendes Wort für seinen Betrieb. Wer bis zum 20. Mai das Dienstverhältnis einvernehmlich beende, bekommt eine Abfertigung – abhängig von der Betriebszugehörigkeit und der Arbeitserschwernis im Winter. Zwei Jahre im Dienst bedeuten eineinhalb Bruttomonatsgehälter, bei vier Jahren sind es etwas über drei. Ältere Mitarbeiter über 50 und Menschen mit Behinderung erhalten zusätzlich einen Monatslohn extra.
Ob die Lieferando-Belegschaft als Freiberufler weitermachen will, ist fraglich. „Sehr viele sind so wütend, dass sie für diese Firma nicht mehr fahren wollen“, sagt Zechner. Kurzfristig werde aber vielen nichts anderes übrig bleiben. Die Post wirbt bereits um die frei gewordenen Arbeitskräfte. Vereinzelt gebe es Interesse, meint Zechner: „Aber viele haben keinen Führerschein – für sie kommt das nicht infrage.“
Anton sieht sich derweilen nach einem neuen Job um. Als Einwanderer sind seine Möglichkeiten aber beschränkt: „In Österreich ist es sehr schwer, einen Plan B zu haben.“ Das Ausliefern mit freien Dienstvertrag kommt für ihn nicht in Frage – auch weil ihm niemand garantieren kann genügend Bestellungen ausliefern zu können. „Ich brauche die Sicherheit, dass ich in zwei Wochen noch arbeite und am Monatsende etwas bekomme, damit ich Brot und Butter kaufen kann.“