KV-Verhandlungen, Pleiten, Umsatzeinbußen: Die vielen Baustellen des Handels
Von Marina Delcheva und Christina Hiptmayr
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Regina S.* ist verkühlt. Sie hat Halsweh, Schnupfen und fühlt sich eigentlich nicht fit. Weil aber schon drei andere Kolleginnen im Krankenstand sind, sitzt sie heute trotzdem an der Kassa und schiebt den ganzen Tag Milchpackerl, Gebäck, Tiefkühlpizza und Tomaten über den Scanner. Sie arbeitet als Kassiererin in einer großen heimischen Supermarktkette. „Sie dürfen aber meinen Namen und meinen Arbeitgeber nicht schreiben, bitte. Ich will keine Probleme mit den Chefs“, sagt sie. Sie arbeitet in Teilzeit. Wegen der Teuerung wollte sie eigentlich Stunden aufstocken, aber man habe ihr gesagt, dass es am Standort keinen Bedarf für mehr Stunden gebe. „Vollzeit arbeiten hier nur der Filialleiter und eine andere Kollegin.“ Wie viel sie verdient? „Zu wenig, um damit anzugeben.“
Alma M.* ist zumindest beim Lohn offener: „Je nachdem, wie die Dienste fallen, komme ich auf maximal 1800 Euro brutto.“ Die Dienste entrichtet sie irgendwann zwischen sechs Uhr morgens und acht Uhr abends. Sie arbeitet in einer Drogerie, in Teilzeit. Und auch sie fürchtet Probleme mit dem Arbeitgeber, wenn sie mit Journalisten spricht. Die meisten ihrer Kolleginnen – es sind fast immer Frauen – lassen sich auf Gespräche erst gar nicht ein. Wie sind die Arbeitsbedingungen? Reicht der Lohn angesichts der hohen Inflation zum Leben? Würden sie gern mehr Stunden arbeiten? Würden sie im Extremfall – wie die Metaller – streiken, wenn die Arbeitgeber kein besseres Lohnangebot machen? Ein Blick über die Schulter, ob jemand mithört: „Ich will mich lieber nicht beschweren. Vielleicht finden Sie jemand anderen, der mit Ihnen spricht.“
Sie waren neben Ärztinnen und Pflegern die Heldinnen der Pandemie, die im ersten Lockdown pünktlich um 18 Uhr von den Balkonen beklatscht wurden – für ihren wagemutigen Einsatz für den Systemerhalt im Land, im Angesicht des noch unbekannten, gefährlichen Virus. Denn die Leute müssen ja einkaufen. In der Debatte untergegangen ist, dass sich der Großteil von ihnen nicht ins Homeoffice flüchten konnte, ohne den Job zu verlieren.
Derzeit verhandeln im Windschatten der Metaller Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Kollektivvertrag für 430.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie 15.000 Lehrlinge in 77.000 heimischen Handelsunternehmen. Zwei Drittel von ihnen sind Frauen, und davon arbeiten mehr als die Hälfte in Teilzeit. Oder anders gesagt: Fast jede fünfte Frau in Österreich arbeitet im Handel, und sie verdient im Durchschnitt 1700 Euro netto – auf Vollzeitbasis. Das letzte Angebot der Arbeitgeber lautete: um fünf Prozent höhere Gehälter und Einmalzahlungen in Höhe von 800 Euro. Die Gewerkschaft fordert 9,5 Prozent plus monatlich 40 Euro als Fixbetrag. Drei Verhandlungsrunden blieben ergebnislos, am Dienstag geht es weiter. Da wie dort sind die Fronten verhärtet, die Rahmenbedingungen für den Handel sind heuer besonders schwierig. Die Insolvenzen schießen in die Höhe. Auf der anderen Seite belasten die hohen Preise die niedrigen Löhne der Handelsbediensteten.
„Der Handel hat aktuell den größten Mitgliederzuwachs.“
Anders als bei den Metallern gibt es in den meisten Handelsbetrieben keinen Betriebsrat, und die Gewerkschaft erreicht nur einen Bruchteil der vielen unselbstständig Beschäftigten. Dabei handelt es sich beim Handel um nichts weniger als den zweitgrößten Arbeitgeber Österreichs.
„Die Stimmung unter den Betriebsräten ist wirklich aufgebracht“, erzählt Martin Panholzer. Der Sprecher der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) hat in den vergangenen Tagen und Wochen einige Betriebsversammlungen besucht, etwa jene bei Interspar im Wiener Donauzentrum. „Die Unterstützung und Entschlossenheit unter den Beschäftigten wird immer größer.“ Medien sind jedoch derzeit nicht gerne gesehen. Im Gegensatz zu den Metallern, die ganz bewusst auf den Druck durch die Öffentlichkeit setzen.
Tatsächlich tut sich die Handels-Gewerkschaft deutlich schwerer als ihre Metallerkollegen. Während Letztere einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von etwa 80 Prozent vorweisen können, sind die Mitgliederzahlen im Handel überschaubar. Während in den großen Supermarktketten rund 20 bis höchstens 30 Prozent Gewerkschaftsmitglieder zu finden sind, gibt es in den vielen kleineren Betrieben oft überhaupt keine Mitglieder. Entsprechend hat man hier eine deutlich schwächere Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern.
Gerade der Handel machte immer wieder mit Negativschlagzeilen auf sich aufmerksam, weil in manchen Betrieben versucht wurde, die Gründung eines Betriebsrats zu verhindern. Und noch immer gibt es große Handelsketten mit mehreren Tausend Mitarbeitern, wie etwa die Tiroler Lebensmittelkette MPreis oder XXXLutz, die keinen Betriebsrat haben. „Der Handel hat aktuell den größten Mitgliederzuwachs“, sagt Panholzer. Seit vergangenem Jahr habe man rund 3000 neue Gewerkschaftsmitglieder begrüßen können.
Ein bisschen Klassenkampf
Die Situation erinnert frappant an vergangenes Jahr. Damals wurde man erst nach knapp zehn Stunden in der fünften Verhandlungsrunde über einen neuen Kollektivvertrag handelseins. Die Streikfreigabe vom ÖGB war schon eingeholt. Zu einer Arbeitsniederlegung mitten im Weihnachtsgeschäft kam es dann doch nicht.
Diese Woche fanden Betriebsverhandlungen statt. Sollte die vierte Verhandlungsrunde am 28. November ergebnislos bleiben, rüstet man sich für Warnstreiks. „Es geht um das Weihnachtsgeschäft an den Adventeinkaufssamstagen und am 8. Dezember. Da sind die Arbeitgeber besonders sensibel“, sagt Panholzer. Die Euphorie Panholzers teilt Birgit M.* nicht. Auch sie arbeitet seit Jahrzehnten im Einzelhandel. „Ich war selbst Betriebsrätin. Vor ein paar Jahren bin ich aber aus der Gewerkschaft ausgetreten, die 300 Euro Mitgliedsbeitrag im Jahr waren mir zu viel. Und weder unsere Arbeitsbedingungen noch unsere Bezahlung sind wirklich besser geworden.“
Hier die ausgebeuteten, meist weiblichen Handelsbediensteten, dort die gierigen Arbeitgeber, die bei der Bezahlung knausern. So einfach ist diese Geschichte aber nicht, und sie endet nicht hier. Denn wie so oft ist die Situation viel komplizierter und verzwickter.
Pleitenrekord im Handel
Das zeigt zunächst ein Blick in die Insolvenzstatistik. 728 Handelsunternehmen im Bereich Einzel-, Groß- und KfZ-Handel haben heuer laut dem Kreditschutzverband von 1870 (KSV) bereits Insolvenz angemeldet. Das ist ein Anstieg von zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr. In die Insolvenzstatistik fallen auch ganz prominente Pleiten wie jene von kika/Leiner im Sommer oder jene des Autozubehörhändlers Forstinger. Beim Großteil handelt es sich aber um kleinere Geschäfte oder heimische Onlineshops, die mit dem steigenden Kostendruck nicht mehr zurechtkommen oder an der übermächtigen Online-Konkurrenz von Amazon, Zalando und Co scheitern.
Über 71.000 Arbeitslosenmeldungen aus dem Einzelhandel gab es heuer beim AMS. Rechnet man den Groß- und KfZ-Handel dazu, waren es bisher über 100.000. Allerdings: Fast die Hälfte der Betroffenen war weniger als drei Monate lang auf Jobsuche.
„Der Handel hat sich nach Corona nicht ganz erholt. Viele konnten sich noch mit Corona-Hilfen über Wasser halten, aber das ist jetzt vorbei“, sagt Karl-Heinz Götze vom KSV. Hinzu kommen die Teuerung und die allgemein schlechte wirtschaftliche Lage derzeit. Obwohl die Preise – zum Beispiel bei Lebensmitteln – in lichte Höhen geschossen sind, rechnet der Handelsverband in einer Studie heuer inflationsbereinigt mit Umsatzrückgängen von 3,9 Prozent. Bei Büchern und Zeitschriften, Haus und Garten oder im Möbelhandel brechen die Umsätze heuer um mehr als elf Prozent ein.
Franz Holzer ist einer der vielen Einzelhändler aus der diesjährigen Insolvenzstatistik. Er betrieb drei Schuhgeschäfte – Dominici – in der Wiener Innenstadt. Heuer musste er die letzten zwei schließen und Insolvenz anmelden. Die Kunden seien nach Corona nicht mehr zurückgekommen, den beantragten Verlustersatz III habe er noch immer nicht bekommen. Übrig geblieben sind Schulden im niedrigen sechsstelligen Bereich. Jetzt vertreibt er seine Markenschuhe über einen Onlineshop. „Irgendwann ging es nicht mehr. Die Schulden wurden immer größer, die Kosten sind gestiegen und gestiegen“, erzählt er. Er musste Insolvenz anmelden. 14 Menschen waren bei Dominici beschäftigt, die alle ihren Job verloren haben. „In der Innenstadt konkurrieren Sie mit Weltmarken, die bereit sind, jeden Mietpreis zu bezahlen“, klagt er über die Konkurrenz großer Luxusmarken im 1. Wiener Gemeindebezirk.
„Was uns auch große Sorgen bereitet, sind die stillen Schließungen“, sagt Rainer Will vom Handelsverband. Also Geschäfte, die ohne Insolvenz zusperren müssen, weil die Kosten irgendwann die Einnahmen weit übersteigen und sich der Betrieb einfach nicht mehr rechnet. 6400 Geschäftslokale hätten demnach heuer schon geschlossen. Rund 200 davon sind laut Handelsverband kleine Nahversorger am Land. „In der Praxis heißt das, dass viele kleine Ortschaften ihren Nahversorger verlieren“, meint Will.
Wie konnte es trotz massiver Preissteigerungen in so gut wie allen Warengruppen und milliardenschweren Anti-Teuerungsmaßnahmen der Regierung zu so vielen Schließungen und zu inflationsbereinigten Umsatzeinbrüchen kommen?
Mehr für Freizeit, weniger fürs Einkaufen
Zum einen haben die Konsumentinnen und Konsumenten zwar zu höheren Preisen eingekauft, aber dafür zu günstigeren Produkten gegriffen und sich bei Impulskäufen zurückgehalten. Zum anderen rechnet eine Studie des Beratungsnetzwerks „Kreutzer Fischer & Partner“ im Auftrag des Handelsverbands vor, dass die Kaufkraftunterstützungen und Einmalzahlungen von Bund und Ländern nicht in den Einkauf geflossen sind; sondern in die massiv gestiegenen Energie- und Wohnkosten und in Freizeitaktivitäten. Laut Untersuchung seien die Ausgaben im Bereich Freizeit und Urlaub 2022 um 45 Prozent gestiegen. Nach den Lockdowns und Kontaktbeschränkungen der Corona-Jahre dürstete es viele nach Erlebnissen – Essen mit Freunden, Urlaube, Thermenbesuche.
Hinzu kommt, dass sich viele Branchen von den harten Corona-Jahren erst gar nicht erholt haben. Ein Teil des Textil- und Schuhhandels ist dauerhaft in den virtuellen Raum und dort vor allem zu Zalando und Amazon abgewandert. Österreichische Onlinehändler hatten hier nie eine Chance, sich gegen die übermächtige Konkurrenz durchzusetzen. 47 heimische Onlineshops haben heuer Insolvenz angemeldet, ein Fünftel mehr als im Vorjahr.
„Streiken muss man sich erst einmal leisten können.“
„Die Teuerung schlägt überall voll zu. Ich verstehe beide Seiten“, sagt der Geschäftsführer zweier Bau- und Fachmarktgeschäfte in Niederösterreich. Er möchte nicht namentlich zitiert werden, weil er um seine Kreditwürdigkeit fürchtet. Während Corona, als die Leute zu Hause waren, hat das Geschäft geboomt: „Alle haben ausgemalt, den Garten umgestaltet, die Küche erneuert. Aber das macht man nicht jedes Jahr.“ Jetzt ist tote Hose. Weil die Baubranche in der Krise ist, verkauft er außerdem viel weniger Baumaterialien. Sein Umsatz sinkt heuer um 10,4 Prozent. „Ich werde das Jahr ziemlich sicher negativ abschließen.“ So wie übrigens jedes zweite Einzelhandelsunternehmen, zumindest laut Handelsverband-Umfrage. „Und wenn die Löhne um zehn oder elf Prozent steigen, muss ich in irgendeiner Weise handeln“, erzählt er. Er wird also ein oder zwei seiner 30 Angestellten kündigen. Oder zumindest Abgänge nicht nachbesetzen.
Zurück zur Gewerkschaft, die heuer angesichts der Teuerung in Streiklaune ist, und zwar ausgerechnet im umsatzstarken Weihnachtsgeschäft. „Die Entschlossenheit ist da“, sagt GPA-Mann Panholzer. Flächendeckende Streiks mit viel Medienpräsenz wie bei den Metallern sind von den vielen Frauen im Handel aber trotzdem nicht zu erwarten. In vielen Geschäften gibt es keinen Betriebsrat, die meisten Angestellten würden keine Streikentschädigung bekommen. Besonders im Textil- und Möbelhandel sind viele auf Verkaufsprovisionen angewiesen – und die sind zu Weihnachten am höchsten. Oder anders gesagt: „Streiken muss man sich erst einmal leisten können“, sagt Birgit M.* und geht weiter Regale schlichten.
Hinweis: *Die Namen der im Artikel zitierten Handelsbediensteten wurden auf deren ausdrücklichen Wunsch geändert.
Der österreichische Handel auf einem Blick
Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".
Christina Hiptmayr
war bis September 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.