Welche Auswirkungen hat das Wegfallen der EU-Zuckerquote?
Von Brot über Erdäpfeln bis hin zum Waschmittel, alles in vielfacher Form und Sorte - im Supermarkt hat der Kunde bekanntlich die Qual der Wahl. Nur in einem Regal herrscht weitgehend Uniformität: beim Zucker.
Rübenzucker wird in Österreich ausschließlich in zwei Fabriken in Niederösterreich produziert, betrieben von der börsennotierten Agrana, einem großen Player auf dem europäischen Zuckermarkt. Ein System aus Quoten und Einschränkungen sorgt dafür, dass diese Agrana ausschließlich die Rüben österreichischer Rübenbauern aufkauft und verarbeitet, und zwar nur ungefähr so viel, wie die Österreicher auch verbrauchen. Im Supermarktregal findet man deshalb im Wesentlichen nur eine Marke, den "Wiener Zucker“ besagter Agrana.
Nun aber kommt Bewegung in Europas Zuckermarkt: Mit 1. Oktober ist die EU-Zuckerquote gefallen. Sie regulierte bisher Preise und Mengen. 85 Prozent des Zuckers mussten aus europäischer Produktion stammen, nur 15 wurden aus Übersee importiert. Dazu gab es eine Obergrenze von EU-weit 13,5 Millionen Tonnen Rüben pro Jahr - und einen Mindestpreis, zu dem Zuckerproduzenten à la Agrana die Rüben von Bauern kauften. All dies fällt jetzt weg.
Es ist die letzte wichtige Quote in der Landwirtschaft, die ausläuft. Einst, nach dem Zweiten Weltkrieg, setzten alle Länder Europas auf schnelle Steigerungen ihrer landwirtschaftlichen Produktionen. Folge: massive Überproduktion ab den 1970er-Jahren. Also wurden bei vielen Produkten Quoten eingeführt, etwa bei Getreide, Milch und Zucker. Seit den 1990er-Jahren jedoch laufen sie schrittweise aus. Zuerst traf es Weizen und Roggen, im Jahr 2015 die Milch - und heute den Zucker.
Aber was bedeutet das? Zieht jetzt die Vielfalt ins Zuckerregal her? Wird es ausländischen Zucker in rauer Menge geben? Oder andere Süßungsmittel, die den Zucker ersetzen? Wird er billiger oder teurer? Die Geschichte des Falls der EU-Zuckerquote erzählt auch viel über die Landwirtschaftspolitik der EU und deren Liberalisierung.
Der Rübenbauer
Sonnenblumen, Wintergetreide, Erbsen, Weizen - und dann Zuckerrüben. Nur alle vier bis fünf Jahre baut der Landwirt Herbert Hager auf seinen Feldern im niederösterreichischen Auersthal Rüben an. So sieht es die sogenannte Fruchtfolge vor. Immerzu dieselben Feldfrüchte zu pflanzen, würde nämlich den Boden auslaugen.
Der Rübenanbau tut gut im Wechselspiel mit anderen Pflanzen, er sorgt für regionale Vielfalt und dafür, dass landwirtschaftliches Wissen nicht verloren geht - und dennoch weiß Hager nicht, wie es weitergehen soll. "Wenn sich längerfristig nichts ändert, müssen wir überlegen, wovon wir leben sollen.“ Warum? Und was hat das mit der Zuckerquote zu tun?
Solange es sie gab, wusste Hager, wie viel Tonnen Rüben er von seiner Anbaufläche an die Agrana liefern sollte - und welchen Mindestpreis er dafür bekam. "Das machte uns zwar nicht gerade reich, aber wir hatten Planungs- und Einkommenssicherheit.“
Erste Risse in diesem System taten sich bereits im Jahr 2005 auf, erklärt Ernst Karpfinger, Präsident der Verbands der heimischen Rübenbauern. Damals wurde die Quote europaweit reformiert, von nun an sollten etwa 15 Prozent des Zuckers aus Entwicklungsländern importiert werden. Als Folge ging die Zuckerproduktion in der EU um ein Drittel zurück. Auch in Österreich wurde "der Mindestpreis für die Bauern brutal abgesenkt“, sagt Karpfinger.
Und heute? "Bestimmt allein der Markt den Preis.“ Dieser, so die Befürchtung, könnte vom ohnehin niedrigen Niveau von derzeit rund 400 Euro pro Tonne Zucker bald vollends absacken. Grund: Vor der Liberalisierung weiteten viele EU-Zuckerrübenbauern und -fabriken ihre Produktion stark aus. Jetzt, wo sie beliebig viel produzieren dürfen, gilt es, Marktanteile zu erobern. "Es wird einen gnadenlosen Preiskampf geben“, sagt Karpfinger. In Österreich sei die Produktion zwar gleich hoch wie immer. "Aber viele unserer europäischen Nachbarn verfolgen eine andere Politik.“
"Mit der Quote konnten wir gut leben“, sagt Rübenbauer Hager. Jetzt gelte es, harte Jahre mit schlechten Preisen durchzudrücken. "Schauen wir, wie lange das geht."
Der Zuckerproduzent
Traktoren mit schwer beladenen Anhängern nehmen Kurs auf die zwei österreichischen Zuckerfabriken in Tulln und Leopoldsdorf. Sie sind wieder unterwegs, die sogenannten Rübenbomber. Dass in den Werken der Agrana (dem einzigen Abnehmer der heimischen Rübenbauern) Hochbetrieb herrscht, lässt sich leicht am süßlichen Geruch erahnen, der über Tullner- und Marchfeld weht.
Man habe sich auf die Marktliberalisierung gut vorbereitet, sagt Agrana-Sprecher Markus Simak. Schon nach der Reform im Jahr 2005 schloss der Konzern seine Zuckerfabrik in Hohenau. In den zwei verbliebenen Werken hat man bereits seit über zehn Jahren eine höhere Auslastung als in vielen anderen europäischen Zuckerfabriken.
Ein völlig freier Zuckermarkt herrscht in Österreich trotz Wegfalls der Quote indes (noch) nicht: Im Jänner hat die Agrana mit ihren Vertragsbauern eine neue Vereinbarung abgeschlossen. Sie wird den Landwirten statt wie bisher 350.000 Tonnen Zuckerrüben künftig 400.000 Tonnen pro Saison abnehmen. Auch auf die Preise hat man sich bereits grob geeinigt.
Freilich ist man in deren Gestaltung nun flexibler als zuvor. Auf starke Preisschwankungen auf dem Markt kann der Zuckerproduzent nun besser reagieren. Bei der Agrana beteuert man aber, dass man den Vertragsbauern bei einem starken Preisverfall über einen gewissen Zeitraum Preise über dem allgemeinen Niveau zahlen werde, damit diese Spielraum haben, auf andere Feldfrüchte auszuweichen.
Und zudem bietet die Liberalisierung für die Agrana eine weitere Möglichkeit zur Expansion: "Wir erwarten uns einen Ausbau der Marktanteile, etwa in Osteuropa, wo es ein Zuckerdefizit gibt“, erklärt Simak.
Die Unternehmen
Limonaden, Schokoladen, Marmeladen. Ganze 85 Prozent des Zuckers in Österreich gehen nicht als Kristall- oder Würfelzucker in den Handel, sondern zur Weiterverarbeitung in die Lebensmittelindustrie, erklärt Ernst Karpfinger vom Zuckerrüben-Verband. Großabnehmer in Österreich? Beispielsweise der Salzburger Energy-Drink-Hersteller Red Bull und der Fruchtsafterzeuger Rauch in Vorarlberg.
Auch für solche Unternehmen ändert sich etwas durch den Fall der Quote - zumindest potenziell. Die Großkunden haben bisher ihren Zucker meist in Österreich von der Agrana gekauft. Dazu hatte sie zwar keine Quote gezwungen - aber weil Mengen und Preise in der ganzen EU reguliert und die Produktion an die Nachfrage angepasst war, hätte ein Kauf jenseits der österreichischen Grenzen nicht viel Sinn ergeben.
Nun können die Betriebe auf dem freien Markt schauen, woher aus der EU oder Übersee sie ihren Zucker am besten und billigsten beziehen. Wie also werden sie sich verhalten?
Vorerst sieht es nicht danach aus, als würde sich viel ändern, wie ein profil-Rundruf bei Unternehmen zeigt. Die meisten wollen nicht über ihr Einkaufsverhalten Auskunft geben - doch bei den wenigen, die es tun, ist die Tendenz klar: "Unser Einkaufsverhalten bleibt weitgehend unverändert. Wir setzen auch in Zukunft auf europäischen Rübenzucker“, sagt etwa Martin Darbo, Vorstandschef des gleichnamigen Marmelade-Herstellers in Tirol. Manfred Speiser, Einkaufschef von Egger Getränke nahe St. Pölten (die etwa Radlberger-Limonade herstellen), sagt: "Wir begrüßen das Ende der Zuckerquote, werden aber weiterhin unseren Zucker aus der EU und vorzugsweise Österreich beziehen. Wir sind hier gut versorgt, und der Anbietermarkt ist attraktiv.“
Im Übrigen, ergänzt Speiser, werde der Zuckergehalt in Getränken ohnehin immer weniger - und damit verliert Zucker als Kostenfaktor an Bedeutung.
Der Konsument
89 Cent. So viel kostet derzeit ein Kilo Wiener Kristallzucker im Supermarkt. Dass für die Kunden das Päckchen Zucker nun deutlich billiger oder teurer werden würde, davon geht kaum jemand aus. "Sollten sich die Preise nach unten entwickeln, wird dies auch beim Konsumenten ankommen“, verspricht Paul Pöttschacher, Sprecher des Rewe-Konzerns, zu dem die Supermarktketten Billa, Merkur und Penny gehören. Doch wie sich der Beschaffungsmarkt bei Zucker etablieren wird, könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einschätzen. Dass die Regale nun mit südamerikanischem Rohrzucker geschwemmt werden, ist nicht zu erwarten. Denn die Zölle für Importe aus Drittstaaten bleiben trotz des Falls der Quote aufrecht.
Maria Burgstaller von der Arbeiterkammer Wien, Abteilung Wirtschaftspolitik, rechnet indes damit, dass nun verstärkt Isoglukose auf den Markt kommen wird. Denn auch für diesen Zuckerersatzstoff, einem Sirup aus Maisstärke, ist die Quote gefallen. "Das ist ein echtes Konkurrenzprodukt. In der Lebensmittel- und Getränkeindustrie wird es nun verstärkt zum Einsatz kommen, weil es viel günstiger als Zucker ist“, erklärt Burgstaller. Nämlich bis zu 40 Prozent.
In den USA werden Limonaden, Fertiggerichte und Backwaren seit Jahrzehnten damit gesüßt. Isoglukose hat keinen guten Ruf, vor allem wegen des hohen Fruktosegehalts. Ein hoher Fruchtzuckerkonsum stelle, so die Kritik, eine Gefahr für die Gesundheit dar, weil er die Entstehung von Typ-2-Diabetes fördere.
Allerdings hat Haushaltszucker ähnlich hohe Fruktoseanteile. Das Max-Rubner-Institut etwa - das deutsche Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel - kam in einer ausführlichen Analyse zu dem Schluss, dass Isoglukose der Gesundheit nicht mehr schadet als herkömmlicher Rübenzucker.
Vielleicht wird also dort, wo heute noch die Zuckerrüben geerntet werden, stattdessen bald Kukuruz sprießen.