Lieferketten: Wie ein EU-weites Gesetz heimischen Unternehmen helfen könnte
Alles beginnt mit 30 ausgeschnittenen Papierteilen. Wie ein Puzzle liegt der künftige Kinderschuh in Feldkirchen bei Graz auf dem Tisch. Einer der Mitarbeiter holt die passenden Stoffe aus dem Regal, steuert die Maschine beim Schneiden die Papiervorlagen entlang. Daneben wird die Schuhspitze in ihre abgerundete Form gepresst, wenige Meter weiter rechts näht eine Mitarbeiterin die Stoffteile auf einer der sechs Nähmaschinen zusammen. Hinter einer Regalwand kommt Kunststoff in eine flache Gussform, kurz darauf werden Sohle und Stoff zu einem Schuh verbunden. Was hier beim Designvorgang auf nicht einmal 100 Quadratmetern stattfindet, verteilt sich später in der Massenproduktion über Tausende von Kilometern-eine weltweite Lieferkette.
Die steirische Schuhfirma Legero entwickelt hierzulande ihre Prototypen, die Modelle werden dann in Rumänien, Kroatien, Indien, Vietnam und China produziert. Welche sozialen und ökologischen Bedingungen dort vorherrschen, wird bald genauer überprüft werden. Auf EU-Ebene wird seit einigen Jahren an einem sogenannten Lieferkettengesetz gearbeitet. Im Dezember haben sich die Mitgliedstaaten auf einen Entwurf geeinigt. Wann es jedoch letztlich in Kraft tritt, ist noch völlig unklar. Das Ziel: Europäische Unternehmen sollen Umwelt und Menschen weniger schaden-und zwar weltweit. Die Folge: Unternehmen müssen künftig genau wissen, was in ihren Fabriken, bei ihren Lieferanten und Subunternehmern passiert, es berichten und auch verbessern.
Ein weitreichendes Unterfangen-wie steht die österreichische Politik dazu? Justizministerin Alma Zadić von den Grünen sprach sich vor einigen Monaten für ein solches Gesetz aus, aber bei der Abstimmung zum Gesetzesentwurf in Brüssel enthielt sich ÖVP-Wirtschaftsminister Martin Kocher dann der Stimme. Vor allem Interessenvertreter aus der Wirtschaft sind skeptisch. Doch wie sehen es die Unternehmen selbst? Ein Besuch in der Werkstatt.
In Feldkirchen bei Graz wird schon an der nächsten Kollektion gearbeitet. Hier entwickelt Legero die Prototypen seiner Schuhe. In Folge erstreckt sich die Lieferkette über Tausende Kilometer. Sie werden in Fabriken in China, Indien, Kroatien und Rumänien hergestellt. Bald gelten dafür strengere Regeln.
THEORIE ...
Bekannter als das Schuhunternehmen Legero United selbst sind die hier entwickelten Marken: Mit der Kinderschuhmarke "superfit" ist Legero Marktführer in Österreich. Darüber hinaus produziert man nachhaltige Modelle für die Linie "Think!"und besonders leichte Schuhe unter dem eigenen Firmennamen "Legero".Das 150 Jahre alte Unternehmen wurde in den 1990er-Jahren vom heutigen Geschäftsführer Stefan Stolitzka übernommen. Seitdem expandiert man weltweit-an die 2000 Mitarbeiter arbeiten für die Firma, und nach einem Corona-Knick verzeichnet das Unternehmen wieder steigende Umsätze. Stolitzka selbst hat eine interessante Doppelrolle inne: Einerseits steht er seit 2020 als Präsident an der Spitze der steirischen Industriellenvereinigung (IV). Sein Vorgänger in dieser Funktion, Georg Knill, führt mittlerweile die IV auf Bundesebene-und dort kommentierte man im Dezember 2022 das geplante Lieferkettengesetz mit den Worten: "Gut gemeint, aber schlecht gemacht." Als Chef eines global agierenden Schuhherstellers spürt Stolitzka wiederum die möglichen Folgen eines solchen Gesetzes im eigenen Unternehmen.
Bei Legero heißt es, man setze sich schon länger mit den Auswirkungen der eigenen Lieferkette auf Mensch und Umwelt auseinander. Das macht laut einer Studie der Beratungsfirma PwC übrigens nur ein Drittel der Unternehmen in Österreich. "Wir sind auf dem Weg",sagt Karin Kapper, die bei Legero für Nachhaltigkeit und Qualitätssicherung zuständig ist. Sie wünscht sich vor allem schnell eine Antwort auf die Frage: Was kommt jetzt wirklich auf uns zu?
Das steht nämlich noch nicht ganz genau fest. Vorerst wird noch diskutiert und gefeilscht, was ganz genau in der entsprechenden Richtlinie aus Brüssel stehen soll. Einer der Auslöser für das Lieferkettengesetz war der Brand in einer pakistanischen Jeansfabrik im Jahr 2012, in der auch der deutsche Textildiskonter KiK produzieren ließ. 260 Menschen kamen damals ums Leben, ein gerichtliches Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt.
Vor drei Monaten stimmten die Wirtschaftsminister der EU-Staaten einem ersten Entwurf zum Lieferkettengesetz nach einigem Hin und Her mehrheitlich zu. Jetzt diskutiert das EU-Parlament den Entwurf. Aktuell soll das Lieferkettengesetz für alle EU-Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und mehr als 150 Millionen Euro Umsatz gelten, genauso wie für Firmen aus Drittstaaten mit mehr als 150 Millionen Euro Umsatz in der EU. "In Branchen mit hohem Schadenspotenzial"-wie etwa Leder, Textil, Bergbau, Erdöl oder Chemikalien-muss die Sorgfaltspflicht bereits ab 250 Mitarbeitern und einem weltweiten Nettoumsatz von 40 Millionen Euro eingehalten werden, wenn mindestens 20 Millionen Euro davon in diesen Branchen erwirtschaftet werden.
Doch was müssen Unternehmen dann alles im Blick haben? Laut aktuellem Entwurf: ihren eigenen Geschäftsbetrieb, den der vorgelagerten Wertschöpfungsstufen und auch der nachgelagerten Geschäftspartner-also wie das Produkt weiterbefördert, gelagert und entsorgt wird. Wenn Unternehmen dagegen verstoßen, drohen Strafen. In diesem Punkt geht der EU-Entwurf weiter als das seit heuer in Deutschland geltende Lieferkettengesetz. Das trifft auf Widerstand-auch aus Deutschland.
Stefan Stolitzka
Der Schuhunternehmer - hier am ehemaligen Firmensitz - ist auch IV-Chef in der Steiermark.
... UND PRAXIS
Die Schuh-und Lederproduktion in Asien hat einen unrühmlichen Ruf: Gefährliche Fabriken, immer wieder Skandale, Hungerlöhne, giftige Stoffe und auch Kinderarbeit. Mit einem Umsatz von 148 Millionen Euro im Jahr 2021 wird Legero höchstwahrscheinlich unter das geplante Gesetz fallen und beweisen müssen, dass seine Lieferkette sauber ist. Die Firma produziert zwei Drittel der Schuhe in Asien. Einerseits verfügt sie über eine eigene Produktionsstätte in Indien, andererseits kauft sie aber auch von sechs Partnern aus Indien, Vietnam und Indonesien zu.
Das steirische Hauptquartier von Legero sieht aus wie ein Ufo. Mit viel Holz, Geothermie und einem Passivenergiekonzept präsentiert man sich klimatechnisch auf der Höhe der Zeit. Hier erzählt die Nachhaltigkeitsverantwortliche Kapper, dass sich die Firma auch ohne Lieferkettengesetz bereits jetzt andere Maßstäbe setze, als sie gesetzlich müsste. Ein sogenannter Code of Conduct, Risikoanalysen und externe Überprüfungen seien übliche, aber freiwillige Maßnahmen, die bisher Qualitätssiegel bringen. "Wir werden vieles genauso weitermachen wie bisher, aber wir werden es besser belegen müssen", sagt Kapper. Der Mehraufwand ist ihre größte Sorge. Sie stelle sich darauf ein, dass es dafür mehr Ressourcen brauchen werde, für kleinere Firmen könnte das schwierig werden. "Unternehmen werden in die Pflicht genommen, wo Staaten auslassen",kritisiert Kapper.
Aktuell wird im EU-Parlament diskutiert, wie weit die Verantwortung der Unternehmen tatsächlich gehen soll. Stand jetzt: von der Rohhaut bis zum kaputten Schuh und dessen Ende. Angesichts globaler Warenströme sei die Frage, wo die Haut für das Leder genau herkomme, aber wirklich keine einfache, erklärt Kapper: "Bis man Partner findet, die das ehrlich ausfüllen, dauert es." Für viele deutsche und österreichische Schuhunternehmen stellen derartige Fragen noch keine Priorität dar, ergab eine Studie im Auftrag der NGO Südwind-vor allem, wenn sie fertige Schuhe zukaufen. In der eigenen Fabrik hat man naturgemäß mehr Kontrolle über die Bedingungen. Am Legero-Standort in Indien gibt es etwa eine Arbeitnehmervertretung und Betriebsräte. Bei ihren Lieferanten sei das nicht der Fall. So etwas einzufordern, wäre schwierig, sagt Kapper: "Wir können sie nicht dazu zwingen."
GEGENWART ...
Am meisten Gegenwind kommt aus der Industrie. Aus der IV heißt es: "Regelungen, die Unternehmen zwingen, Anforderungen zu erfüllen, die sie nicht selbst kontrollieren können, lehnen wir ab." Auch die Wirtschaftskammer Österreich steht dem Vorschlag sehr kritisch gegenüber und plädiert "für einen praxisorientierten und realistischen".Politisch liegt der Ball im Justizund im Wirtschaftsministerium. ÖVP-Minister Martin Kocher enthielt sich im Dezember bei der Abstimmung in Brüssel. Das Argument war damals: Die Vorlaufzeit sei zu kurz gewesen. Auf profil-Anfrage heißt es aus Kochers Ministerium: "Da innerhalb der Bundesregierung keine Position zur allgemeinen Ausrichtung zustande kam, musste sich Österreich bei der Abstimmung zum Lieferkettengesetz Anfang Dezember 2022 enthalten."
Im Vorfeld hatte es in Österreich einen Konsultationsprozess gegeben. Mit dabei war auch Veronika Bohrn Mena von der "Initiative Lieferkettengesetz Österreich". Die eingebundenen Unternehmen und ihre Vertretungen hätten da durchaus unterschiedliche Positionen vertreten, erzählt sie. "Eigentlich haben kleine, lokal produzierende Firmen hier einen großen Vorteil." Es gebe daher auch kaum Gegenwind vom Bauernbund oder von kleinen und mittleren Unternehmen. "Für sie würden die Wettbewerbsbedingungen dadurch fairer werden",argumentiert Bohrn Mena.
... UND ZUKUNFT
Eine Grundfrage bleibt: Was kann ein derartiges Lieferkettengesetz tatsächlich verändern? Die Juristin Anna-Maria Heil von der Wirtschaftsuniversität Wien sieht zwei Möglichkeiten-entweder ziehen sich Unternehmen aus dem globalen Süden zurück, da es ihnen zu heikel wird, oder sie verbessern die Bedingungen dort. Durch den Rückzug könnte sich die Situation vor Ort aber auch verschlechtern, je nachdem, welche Unternehmen nachkommen.
Kurz bevor das deutsche Lieferkettengesetz in Kraft trat, kündigte etwa der Baukonzern Strabag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" seinen Rückzug aus Afrika an. Europäische Unternehmen seien nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber chinesischen Unternehmen, die "ohne all diese zusätzlichen bürokratischen Anforderungen" mit Geldern der Weltbank Projekte
umsetzen könnten, hieß es. Für Legero ist eine Rückverlagerung nach Europa kein Thema. Es sei schlichtweg unmöglich, Textil-und Schuhfabriken in Europa mit Arbeitskräften zu füllen, sagt Kapper: "Das macht einfach keiner mehr."
EU-Lieferkettengesetz gilt für:
- EU-Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und mehr als 150 Millionen Euro Umsatz.
- Firmen aus Drittstaaten mit mehr als 150 Millionen Euro Umsatz in der EU.
- Firmen in Branchen mit hohem Schadenspotenzial (z. B. Leder, Textil, Bergbau) ab 250 Mitarbeitern und einem weltweiten Nettoumsatz von 40 Millionen Euro (davon 20 Millionen Euro in gefährlicher Branche).