Marlene Engelhorn: 25 Millionen leichter
Von Stefan Melichar und Clara Peterlik
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Zwei Minuten im Leben der Marlene Engelhorn. Auf dem Weg vom Kaffeehaus zu ihrem Fahrrad ruft der Kellner hinterher: „Frau Engelhorn, Frau Engelhorn, ich wollte Sie noch was fragen!“ Ein kurzes Gespräch, dann überquert sie den Zebrastreifen, auf der anderen Seite der Straße bleiben zwei junge Männer stehen und sagen: „Hey, cool, dass du das machst!“ Das ist für sie nicht die Ausnahme, sondern Alltag. Marlene Engelhorn gab in den vergangenen drei Jahren zig Interviews, drehte zahlreiche Videos, schrieb ein Buch und saß auf vielen Podien. Sie tritt kaum übersehbar für ihr Anliegen ein – eine höhere Besteuerung der Superreichen – und lebt von ihrem Vermögen. Sie ist zumindest in Wien stadtbekannt, trotzdem weiß die Öffentlichkeit sehr wenig über sie.
Vor über drei Jahren erhielt Marlene Engelhorn ein E-Mail, das sie über ihr kolossales Erbe informierte. Sie brach ein Tabu, indem sie öffentlich darüber sprach. Bald ist damit Schluss, das Geld wird verteilt und sie steigt mit über 30 in die Welt der Lohnarbeit ein. Obwohl Marlene Engelhorn auf Basis ihrer Familiengeschichte und ihrer persönlichen Lebenssituation durchaus weitreichende Gesetzesänderungen bewirken will, weiß man über die Hintergründe aus unabhängiger Quelle so gut wie nichts. In der offiziellen PR-Erzählung endet die Familienhistorie praktisch bei Engelhorns Großmutter. profil hat sich daher auf eine Spurensuche begeben.
„Einig im Steuersparen“
Das Vermögen der Familie Engelhorn nahm seinen Ursprung in den frühen Tagen der Industriellen Revolution in Deutschland. Marlene Engelhorns Ururur-großvater gründete 1865 die Badische Anilin und Soda-Fabrik (kurz BASF). Heute gilt das Unternehmen als größter Chemiekonzern der Welt mit einem Umsatz von fast 69 Milliarden Euro im Jahr 2023. Ihr Urahn stieg allerdings bereits 1883 aus dem Unternehmen aus und investierte sein Geld in das Pharmaunternehmen Boehringer Mannheim. Das wurde im Lauf des 20. Jahrhunderts unter seinen Nachfahren zu einem global tätigen Pharmakonzern in der Hand mehrerer Familienzweige. „Untereinander spinnefeind, einig nur beim Steuersparen“, beschrieb sie das Magazin „Der Spiegel“. Und so verkaufte der Engelhorn-Clan 1997 nach langen familieninternen Intrigen die Firma um elf Milliarden US-Dollar an den Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche. Einer der größten Deals der deutschen Industriegeschichte. Ganz im Gegensatz zu seiner Nachfahrin Marlene, rühmte sich Curt Engelhorn in den 1990er- Jahren, den damaligen deutschen Finanzminister ausgetrickst zu haben. „Herr Waigel wird sich ärgern“, sagte er im „Spiegel“.
Durch den Verkauf gingen 2,45 Milliarden US-Dollar an Engelhorns Großmutter. Im Jahr 2022 wurde deren Vermögen von Forbes auf 4,2 Milliarden US-Dollar geschätzt. Im September 2022 starb die Milliardärin – und mehr als 25 Millionen Euro aus ihrem Vermögen gingen an Enkelin Marlene Engelhorn.
Frühe Spuren
In Wien hat die Familie schon früh Spuren hinterlassen. Wie sich aus Grundbucheinträgen ableiten lässt, erwarb Engelhorns Großmutter Gertraud Engelhorn im Jahr 1961 eine Liegenschaft im 23. Wiener Gemeindebezirk – genauer gesagt im Stadtteil Mauer, einem der grünen Ausläufer im Süden der Bundeshauptstadt. Bald danach kam Marlene Engelhorns Mutter Sonja Engelhorn zur Welt. Sie ist eine von vier Töchtern Gertraud Engelhorns und bis dato das Missing Link in der öffentlich bekannten Familien- und auch Vermögensgeschichte von Marlene Engelhorn.
Als Marlene 1992 geboren wird, wohnt ihre Mutter bereits in Wien. Einige Zeit später schenkt die Großmutter der Mutter die Liegenschaft in Mauer, welche die Mutter laut Grundbuch bis heute besitzt. Es sollte nicht ihr einziger Immobilienbesitz bleiben. 1995 kauft Sonja Engelhorn eine traumhaft gelegene Villa im noblen Teil des Bezirks Währing im Nordwesten der Stadt. Später geht das Eigentum auf Marlene Engelhorns Vater über, der das Anwesen 2008 um stolze 4,25 Millionen Euro verkauft. Die Mutter erwirbt zu dieser Zeit zwei Wohnhäuser im 2. Bezirk um 2,8 Millionen Euro, als deren Eigentümerin sie bis heute aufscheint – und die seit damals vermutlich noch deutlich im Wert zugelegt haben dürften. Sonja Engelhorn ist darüber hinaus seit vielen Jahren als Unternehmerin im Bereich der Mittelstands- und Start-up-Finanzierung tätig.
Auch Marlene Engelhorn selbst war einmal Besitzerin einer durchaus gehobenen Bleibe. Im März 2015 kaufte ihre Mutter um 730.000 Euro eine Dachgeschosswohnung im sechsten Wiener Gemeindebezirk und schenkte sie einige Monate später ihrer damals 23-jährigen Tochter. Drei Jahre später, im November 2018, zog Marlene Engelhorn jedoch offenbar einen Schlussstrich unter ihre Zeit als Penthouse-Besitzerin. Sie schenkte die Wohnung mit einer Nutzfläche von rund 110 Quadratmetern und einer rund 60 Quadratmeter großen Dachterrasse an eine ihrer beiden jüngeren Schwestern weiter. Marlene Engelhorns neue Adresse war damals ein Wohnhaus im 20. Bezirk, das zumindest von außen keineswegs wie eine Millionärsabsteige wirkt. Ob da bereits der Reflexionsprozess in Sachen Vermögensverteilung eingesetzt hatte? „Es ist sicher Teil des Reflexionsprozesses gewesen, wobei ich einen Zusammenhang auch nicht überbetonen möchte. Ich kann nicht genau sagen, wann dieser Prozess begonnen hat“, erzählt sie heute. Wie steht eigentlich Engelhorns Familie zu ihrer Aktion? profil hat einige der engsten Familienmitglieder angeschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Engelhorn selbst sagt im Interview, sie seien „überhaupt nicht“ sauer.
Nach einem privaten Kindergarten und einer Schulzeit im Lycée français besucht Engelhorn – fast ungewöhnlich für eine Millionenerbin – eine öffentliche Universität. Für Engelhorn ist die Uni Wien das Aufeinandertreffen mit einer anderen Realität. Durch klassenübergreifende Freundschaften und Literatur wird sie nach und nach politisiert. Im Radio hört sie Barbara Blaha vom gewerkschaftsnahen Momentum Institut im Dezember 2020 über Ungleichheit sprechen. (Anm.: Blaha ist auch profil-Kolumnistin.) Kurz zuvor hat Engelhorn von ihrem bevorstehenden Erbe erfahren, sucht den Kontakt und wird zur Großspenderin. Einige Monate später gibt sie ihr erstes Interview und vernetzt sich international mit anderen superreichen Jungerben, die sich für Vermögensbesteuerung engagieren.
„Klassenfeindin“, „Klassenverräterin“
Marlene Engelhorn lässt niemanden kalt. Sie ist eine ideale Projektionsfläche, wurde schon „Klassenverräterin“ (von einer Soziologin) und „Klassenfeindin“ (von einem Freund) genannt. Manche bewundern sie für ihre Entschlossenheit, ihren Mut und ihre Selbstreflexion. Andere regt es auf, dass sie nie arbeiten musste, dass sie permanent öffentlich auftritt, seit Monaten darüber spricht, aber das Geld noch nicht verteilt ist. Die Menschen und Medien hören ihr zu, weil sie reich ist, erzählt sie im Interview. Und das Besondere ist, sie reflektiert das.
Zurück ins Café Eiles. An einem Montagmittag beantwortet die 32-Jährige geduldig die Interviewfragen, man merkt ihre Übung. Wenn eine Frage aus ihrer Sicht zu privat ist, wird sie kurz angebunden. Marlene Engelhorn versprüht keine Bodenständigkeit, keinen Stammtischcharme, aber sie gibt es auch nicht vor. „Für mich ist es das Normalste der Welt, vermögend zu sein“, erzählt sie in einem Podcast ihres „Guten Rates“. Da, wo sie gesellschaftliche Schieflagen ortet, nähert sie sich über die Theorie an, analysiert, aber setzt dann auch in der Praxis etwas um. Wenn sie merkt, dass sie sich bei einem Thema nicht genau auskennt, verweist sie auf Experten. Wenn sie Weltfremdes sagt, holen Freunde sie immer wieder in die Realität der 99 Prozent zurück, erzählt sie im Interview.
Guter Rat ist teuer
Seit einigen Wochen beraten nun 50 Menschen, wie sie 25 Millionen verteilen. Der „Gute Rat für Rückverteilung“ soll eine Art demokratiepolitisches Labor sein – jedenfalls ist er Teil einer Kampagne einer politisch überzeugten Erbin. Engelhorn zog sich aus dem Organisatorischen zurück – offenbar, um zu vermitteln, dass sie möglichst wenig Macht auf die Entscheidungsfindung ausübt. Konsequent, soweit man aus dem Umfeld hört. Bis auf einen Auftritt ist sie den an mehreren Wochenenden abgehaltenen Treffen des Rats ferngeblieben.
Projektleiterin ist Alexandra Wang. Sie lernte Engelhorn als Angestellte des Momentum Instituts kennen – sie war damals für die Großspenderinnen und -spender zuständig. „Aber 25 Millionen, das ist schon die höchste Summe, mit der ich je zu tun hatte“, sagt Wang. Davor arbeitete sie in der Personalabteilung des Hotels Sacher und bei der Erste Group im Diversity Management. Jetzt leitet sie das Organisations-Team des „Guten Rats“.
Für seine Tätigkeit verfügt der „Gute Rat“ über ein nicht zu knappes Budget von drei Millionen Euro. Die 25 Millionen Euro, die der „Rat“ verteilen soll, befinden sich auf einem Festgeldkonto, auf das drei Personen in Treuhandfunktion Zugriff haben – keine davon ist Marlene Engelhorn.
Seit Mitte März treffen einander die „Rätinnen“ und „Räte“ alle zwei Wochen in einem Salzburger Hotel. Sie wurden aufwendig vom Foresight Institute (früher SORA) ausgewählt. Zunächst wurden 10.000 Menschen auf Zufallsbasis an ihren Meldeadressen angeschrieben. Jene, die antworteten, wurden nach Einkommen, Geburtsland, Geschlecht und anderen persönlichen Umständen gefragt – interessanterweise nicht nach ihrem Vermögen. „Die Datenlage ist dazu schlecht in Österreich, und die Menschen sprechen nicht gerne darüber“, heißt es vom Institut. Letztlich erfolgte eine Auswahl von 50 Personen, die möglichst repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sein soll.
Der gute Rat ist professionell aufgestellt, und das kostet auch einiges. Pressearbeit, Social Media und Bildmaterial, Dolmetscher für nicht Deutsch sprechende Mitglieder. Die Teilnehmenden erhalten 1200 Euro pro Wochenende. So könne sich jeder leisten, mitzumachen, und nicht nur Bessersituierte, lautet die Begründung für das durchaus stattliche Salär. „Als mich der Brief erreicht hat, war ich gerade in einer schwierigen persönlichen Situation. Und ich finde es natürlich toll, dass es sogar eine finanzielle Entschädigung gibt“, sagt eine der Teilnehmerinnen zu profil.
„Umfragen zeigen, drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher sind für Vermögenssteuern, das merkt man auch bei den Teilnehmer:innen“, meint Projektleiterin Wang. Über konkrete Themen des „Rats“ und über potenzielle Geldempfänger schweigt sie, es sollen keine Erwartungen geweckt werden. Der „Rat“ werde von Experten beraten: „Alle mit öffentlichem Bildungsauftrag, niemand von privaten Denkfabriken.“
Zweimal tagt der gute Rat noch, am 9. Juni fällt die Entscheidung. Das Wichtigste sei hier das Vertrauen, dass andere auch gute Ideen haben, erklärt die Forscherin Karin Küblböck, die den „Rat“ moderiert. Zuerst erfahren die Begünstigten und dann die Öffentlichkeit das Ergebnis. Für Marlene Engelhorn beginnt dann ein neuer Lebensabschnitt. 25 Millionen leichter.
Stefan Melichar
ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.