Streitgespräch

"Nicht alle Arbeitnehmer werden ihren Arbeitsplatz behalten"

Sollen die Löhne um die Inflation steigen? Ja, wenn es nach AK-Ökonom Markus Marterbauer geht. Vorsicht bei Lohnerhöhungen, meint EcoAustria-Chefin Monika Köppl-Turyna. profil bat die beiden zum Streitgespräch.

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Letzten Mittwoch hat der ÖGB zur Kundgebung „Löhne rauf, Preise runter“ aufgerufen.
Monika Köppl-Turyna
Das ist schon mal ein Widerspruch.
Das sehen Sie beide vermutlich unterschiedlich. Warum orten Sie einen Widerspruch?
Köppl-Turyna
So gerechtfertigt höhere Löhne in Zeiten hoher Inflation auch sind, sie sind ein Kostenfaktor. Und die Lohn-Preis-Spirale haben wir uns nicht ausgedacht. Mehrere Forschungsarbeiten beziffern den Effekt von höheren Löhnen auf die Inflation mit 0,3 bis 0,5 Prozentpunkten. Wenn es jetzt zu einer deutlichen Lohnsteigerung kommt, kommt es zu einer Erhöhung der Nachfrage und zu Kostensteigerungen bei den Unternehmen, die auch im internationalen Wettbewerb stehen.
Markus Marterbauer
Die diesjährigen Lohnverhandlungen werden sicher die schwierigsten seit Jahren. In Österreich reagieren die Löhne auf die gestiegenen Preise, nicht umgekehrt. Wir haben jetzt eine Gewinn-Preis- und dann vielleicht eine Lohn-Spirale. Wir haben eine der höchsten Inflationsraten in Europa, und das liegt daran, dass die Regierung wenig dagegen getan hat. Das erschwert jetzt den Sozialpartnern die Lohnverhandlungen.
Köppl-Turyna
Die Nationalbank hat erst kürzlich eine Studie veröffentlicht, die klar zeigt: 2022 war die Inflation energiegetrieben, daraufhin haben die Unternehmen ihre Margen und damit die Preise erhöht, aber jetzt verortet die OeNB den wesentlichen Preistreiber in den Löhnen, weil die Abschlüsse im Vorjahr hoch waren.
Die Studie, die Sie ansprechen, zeichnet ein differenziertes Bild: Zuerst sind die Energiepreise gestiegen und haben die Inflation angeheizt. Danach waren es die hohen Unternehmensgewinne, und ab dem Sommer waren die Löhne Preistreiber. Das klingt ein bisschen nach einem Henne-Ei-Problem.
Marterbauer
Der Energiepreisschock war das Entscheidende an der Inflationsentwicklung. Die Bundesregierung hat nicht ausreichend in die Energiepreise eingegriffen, im Unterschied zu anderen Ländern. Gezielte strategische Eingriffe hätten eine lange Phase der hohen Inflation verhindert. Viele Firmen haben mehr als die Kosten über die Preise weitergegeben. Die Löhne reagieren nur im Nachhinein auf diese Entwicklung.
Köppl-Turyna
Wenn man sich die Situation genau ansieht, dann steigt die Inflation schon seit 2021. Wir hatten nach Corona einen Wirtschaftsaufschwung. Wenn die Wirtschaft boomt, steigen die Preise, und das wirkt sich auf die Gewinne der Unternehmen aus. Ich gebe Ihnen recht: Man hätte auch gezielte Eingriffe in Form des iberischen Modells (den Gaspreis im Strompreis deckeln, Anm.) machen können. Natürlich mit der Anmerkung, dass es nicht unbedingt zum Stromsparen anregt. Was wir nicht gut finden, sind sehr breite Preiseingriffe, weil es auch jene Gruppen entlastet, die eigentlich keine Entlastung brauchen. Hier braucht es gezielte Maßnahmen für besonders Betroffene.

"Ich will die österreichische Sozialpartnerschaft nicht brüskieren, aber vielleicht wäre es schlauer, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu schauen."

Monika Köppl-Turyna

Kommende Woche übergeben die Metaller ihre Lohnforderungen an die Arbeitgeber. Im Vorjahr hat man sich auf ein Lohnplus von 7,4 Prozent geeinigt, was die rollierende Inflation der vergangenen zwölf Monate kompensiert hat. Jetzt liegt diese bei 9,6 Prozent. Sollen die Löhne in diesem Ausmaß steigen?
Köppl-Turyna
Wir haben unterschiedliche wirtschaftspolitische Ziele. Wenn wir die Kaufkraft erhalten wollen, müssen wir damit rechnen, dass sie nächstes Jahr die Inflation verstärkt. Anderseits ist eine Lohnsteigerung, die nur von den Unternehmen getragen wird, nicht der einzige Weg, die Kaufkraft zu erhalten. Die Abschaffung der kalten Progression hilft hier schon. Man könnte auch noch die Lohnnebenkosten und die Abgaben für Unternehmen senken.
Marterbauer
Die Unternehmen wurden schon entlastet, etwa durch die Körperschaftssteuersenkung im Vorjahr. Die Lohnpolitik ist jener Kernbereich der Sozialpartnerschaft, der noch am besten funktioniert. Im Moment ist ganz entscheidend, dass die Kaufkraft erhalten wird. Aber ja, in den Lohnverhandlungen wird nicht nur über Löhne diskutiert, sondern auch über die Arbeitszeit, über Einstufungen, über Weiterbildung. Ich bin sehr zuversichtlich, dass trotz der widrigen Umstände wieder ein Konsens gelingt.
Alle wirtschaftlichen Parameter zeigen in die falsche Richtung. Die Inflation ist hoch, das Wachstum schwindet, die Arbeitslosigkeit steigt leicht …
Marterbauer
Wir haben einen Abschwung, der primär durch schwache Konsumnachfrage und schwache Investitionen verursacht wird. Die Exporte sind gestiegen. Der österreichische Standort ist hervorragend. Heimische Unternehmen produzieren und investieren hier viel, zahllose Betriebe sind Weltmarktführer.
Köppl-Turyna
Natürlich ist der Konsum schwach, aber es ist bei Weitem nicht so, dass der Export boomt. Die Daten für das zweite Quartal wurden nach unten revidiert. Die neuesten Konjunkturumfragen zeigen, dass die Exporterwartungen so niedrig sind, wie, abseits von Corona, schon seit Langem nicht mehr. Es gibt nichts mehr zu holen, und wir müssen auch mit einer Exportschwäche rechnen.
Können sich die Industriebetriebe die Abgeltung der rollierenden Inflation heuer leisten?
Marterbauer
Bei den Lohnverhandlungen wird auf die harten Fakten der Vergangenheit geschaut. Es gab 2022 Rekordgewinne und hohe Dividendenausschüttungen. Es ist also schon viel Geld an die Aktionärinnen und Aktionäre geflossen. Und jetzt wollen jene, die die Leistung in der Produktion erbracht haben, ihren Anteil an der guten Entwicklung der Betriebe.
Köppl-Turyna
Zunächst einmal: Wenn die Gewinne bereits ausgeschüttet und verteilt wurden, ist das Geld jetzt weg. Man kann natürlich streiten, ob es schlau war von den Unternehmen, hohe Gewinnausschüttungen zu machen. Ich will die österreichische Sozialpartnerschaft nicht brüskieren, aber vielleicht wäre es schlauer, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu schauen. Relevant ist nämlich, wie die Auftragslage derzeit ist und wie sie sich entwickeln wird.

"Wir müssen uns nicht zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität entscheiden. Die Kunst von kluger Wirtschaftspolitik ist, alle diese Ziele zu vereinen."

Markus Marterbauer

AK-Ökonom

Im Vorjahr wurden die Anti-Teuerungspakete mit viel Steuergeld finanziert. Die Kaufkraft wurde damit erhalten, die Inflation ist aber auch nicht gesunken. Wer soll nun für die Rezession, auf die wir zusteuern, bezahlen?
Marterbauer
Österreichs Wohlstandsniveau liegt im Spitzenfeld der Industrieländer. Hohe Inflationsraten sind unangenehm, und die Bundesregierung hätte sich viele dieser Transfermaßnahmen gespart, wenn sie die Inflation niedrig gehalten hätte. Ich würde mir grundsätzlich um den Wirtschaftsstandort keine zu großen Sorgen machen. Aber wir brauchen eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik statt der Symbolpolitik, die wir täglich serviert bekommen. Wir müssen ins Bildungssystem, in die Energienetze, in ein neues Verkehrssystem investieren.
Köppl-Turyna
Die österreichische Inflation hat sich parallel zur Eurozonen-Inflation entwickelt. Die Unterschiede, die wir jetzt sehen, haben mit dem Energiemarkt zu tun. In Spanien ist die Inflation aufgrund der flexiblen Energieverträge viel früher gestiegen als bei uns. Ich bin auch der Meinung, dass zu viele Hilfen mit der Gießkanne ausgeschüttet wurden. Aber allein der Regierung die Schuld an der hohen Inflation zu geben, ist übertrieben. Zur Frage, wer das alles bezahlen soll: Wir müssen uns darauf einstellen, dass das kommende Jahr noch herausfordernder wird. Es wird nicht jedes Unternehmen überleben, und auch nicht alle Arbeitnehmer werden ihren Arbeitsplatz behalten. Wichtig ist, dass wir sehr treffsicher entlasten, sowohl bei den Unternehmen als auch bei Arbeitnehmern.
Die Inflation senken, die Kaufkraft erhalten und die Wirtschaft nicht abwürgen. Wie soll sich das alles ausgehen?
Köppl-Turyna
Das geht sich auch nicht aus. Entweder erhalten wir die Kaufkraft und nehmen für eine längeren Zeitraum höhere Inflation in Kauf. Was sich übrigens langfristig rächen wird, denn wir stehen im internationalen Wettbewerb. Oder aber wir sagen: Die Inflationsbekämpfung hat jetzt Priorität. Dann müssen wir aber auf breite Transferprogramme verzichten.
Marterbauer
Ich muss massiv widersprechen. Wir müssen uns nicht zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität entscheiden. Die Kunst von kluger Wirtschaftspolitik ist, alle diese Ziele zu vereinen. Man muss alle Instrumente aufeinander abstimmen, man muss miteinander sprechen. Aber das fehlt.
Welche Instrumente meinen Sie?
Marterbauer
Indem man zum Beispiel in Preise eingreift. Keine allgemeine Preisregulierung, aber gezielte und strategische Eingriffe. Wir brauchen aktive Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik, die den Strukturwandel fördert.
Köppl-Turyna
Schauen wir uns mal konkrete Beispiele von Preiseingriffen in der EU an: In Spanien hat die Preisbremse bei Lebensmitteln dazu geführt, dass sie zeitweise den höchsten Anstieg bei Lebensmitteln in der Euro-Zone hatten. Die jetzt beschlossene Mietpreisbremse – das haben die Kolleginnen etwa von der OeNB berechnet – senkt die Inflation um nur 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte. In Ungarn hat die Spritpreisbremse zu Knappheit an den Tankstellen geführt. Und auch das iberische Modell hat dazu geführt, dass Spanien mehr Strom exportiert hat, weil dieser günstiger war als in Frankreich. Aber ja, die hohen Energiepreise werden zum strukturellen Nachteil für die heimische Industrie am Weltmarkt.
Haben wir dann also nach wie vor ein massives Energiepreisproblem und weniger ein Problem der steigenden Löhne?
Marterbauer
In der Industrie ist das sicher der Fall. Dort machen die Löhne ein Achtel der Kosten aus. Die Energiekosten sind wichtiger und wir müssen etwas tun, damit Energie billiger und grüner wird. Deshalb fordere ich auch massive Investitionen in diesem Bereich.
Köppl-Turyna
Klar teile ich die Einschätzung, dass man hier investieren muss. Aber wir haben ein Budget, das enden wollend ist. Und wenn ein Drittel in die Pensionen fließt, fehlt das Geld woanders. Es ist genauso wichtig, privates Geld für diese Investitionen zu animieren. In Dänemark verwalten zum Beispiel die Pensionskassen viel Geld und investieren es in die Energiewende.
Die öffentliche Hand nimmt derzeit in Österreich und EU-weit viel Geld für die Energiewende und Infrastruktur in die Hand und davon profitiert gerade die Industrie. Ist es sinnvoll, wenn das Wachstum so stark von öffentlichen Ausgaben abhängt?
Marterbauer
Wirtschaftswachstum ist nicht das Ziel. Das Ziel ist gute Wohlstandsentwicklung. Aber wenn private Investitionen im Abschwung sinken, dann ist es gerade jetzt Aufgabe der öffentlichen Hand, Geld in die Hand zu nehmen, vor allem für den Klimaschutz, wo der Bedarf bei fast 100 Milliarden Euro liegt.
Köppl-Turyna
Klar ist das Wirtschaftswachstum kein Ziel per se, aber es ist ein Abbild dessen, wie gut es der Wirtschaft geht. Und es korreliert mit guter Bildung, guter medizinischer Versorgung und hohen Einkommen.
WIFO-Ökonomin Margit Schratzenstaller hat vorgeschlagen, vermögensbezogene Steuern anzuheben und Erbschaftsteuern einzuführen und im Gegenzug arbeitsbezogene Steuern zu senken. Wie sehen Sie das?
Marterbauer
Vermögensbezogene Steuern würden Milliarden bringen und viel Geld für andere Bereiche ermöglichen. Ein Bereich sollte die Senkung von Abgaben auf Arbeitseinkommen sein. Wir brauchen aber auch zusätzliche Mittel in der Pflege und gegen Kinderarmut. Ein Teil sollte also in den Sozialstaat fließen. Als der Sozialstaat 1945 in Österreich gegründet wurde, war das Vermögen weitgehend zerstört. Man konnte die Alten, Kranken und Jungen nur aus den Einkommen der Beschäftigten finanzieren. Würden wir heute einen Sozialstaat neu gründen, würden natürlich auch Vermögensbestände zur Finanzierung heranziehen. Deshalb ist ein Strukturwandel im Steuersystem notwendig.
Köppl-Turyna
Es ist nicht so, dass Vermögensbestände nicht besteuert werden. Es gibt die Kapitalertragsteuer, die Erträge aus Vermögen besteuert. Es gibt drei Arten von Vermögensteuern, und die werden von der SPÖ in einen Topf geworfen. Unser Institut hat zum Beispiel vorgeschlagen, die Grundsteuer zu erhöhen beziehungsweise den Gemeinden die Möglichkeit zu geben, diese selbst zu erhöhen. Bei der Erbschaftsteuer gibt es laut Studien nicht so starke schädliche Nebeneffekte, sie generiert aber relativ wenig. Die Vermögensteuer hingegen hat eine Reihe unerwünschter Nebeneffekte: das Abwandern von Vermögen, möglicherweise von Arbeitsplätzen. Damit hat auch Frankreich zuletzt keine guten Erfahrungen gemacht.
Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".