Hochwasser

ÖBB-Vorständin Engel: „Wir sind von der Realität überholt worden“

Judith Engel sitzt im Vorstand der ÖBB-Infrastruktur AG und ist dort für den Netzausbau verantwortlich. Im profil-Interview spricht sie über die Hochwasserschäden entlang der neuen Weststrecke, die nun monatelang nicht befahren werden kann.

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Frau Engel, Sie schätzen die Schäden, die das Hochwasser vor einer Woche verursacht hat, in einem dreistelligen Millionenbereich ein. Lässt sich sagen, ob das eher in Richtung 100 Millionen oder 900 Millionen geht?

Judith Engel

Nein, mit dem heutigen Wissensstand können wir das tatsächlich noch nicht. Wir arbeiten uns jetzt nach vorne, schauen einen Schaltschrank nach dem anderen an. Teilweise können wir noch nicht hin, beim Bahnhof Tullnerfeld steht das Wasser immer noch bis über die Fußbodenoberkante. Momentan konzentrieren wir uns auf die Schadenserhebung auf der neuen Weststrecke und auch auf das zweite Gleis der alten Weststrecke. Schäden gibt es aufgrund dieses Unwetters aber auch auf vielen anderen Strecken in Ober- und Niederösterreich und auch auf der Tauernstrecke. Um hier tatsächlich eine Gesamtsumme zu erfassen, sind viele Dinge noch zu erheben.

Sie haben im Ö1-Morgenjournal bereits gesagt, dass es für Schäden in dieser Form keine Versicherung gibt. Gibt es bereits Gespräche mit dem Klimaschutzministerium als Eigentümervertretung über zusätzliche Gelder?

Engel

Wir versuchen vorrangig Gelder des Instandhaltungsbudgets aus dem laufenden Rahmenplan umzuschlichten, ebenso werden wir Personal und Gerätschaften anderswo abzuziehen, wenn das notwendig ist. Was wir sagen können, ist, dass unsere Großbauvorhaben ungebremst weitergehen. Der Semmering Basistunnel, der Brenner Basistunnel und andere Neubauprojekte sind jetzt weder finanziell noch in den Ressourcen beeinträchtigt.

Werden Ihre Kundinnen und Kunden diese Maßnahmen auch finanziell spüren? Etwa in Form von teureren Tickets?

Engel

Das kann ich ausschließen, denn die Infrastrukturfinanzierung in Österreich läuft ja über die ÖBB-Infrastruktur und das sind letztlich staatlich besicherte Gelder. Ich habe im Moment keine Hinweise darauf, dass das geändert werden soll. Wir sind damit auch in einer sehr einzigartig positiven Situation in Europa.

Bahnhof Tullnerfeld

Der Ende 2012 eröffnete Bahnhof Tullnerfeld (Anm: schwarzer Punkt auf der Karte) liegt im 300-jährlichen (gelb markiert) Hochwasserrisikogebiet, der Ausgang auf der nördlichen Seite Richtung Langenrohr im 100-jährlichen (blau markiert). Quelle: HORA

Sie haben vorhin schon den Bahnhof Tullnerfeld angesprochen, der liegt im 300- beziehungsweise 100-jährlichen Hochwasserrisikogebiet. Würde man diesen Bahnhof und die Trasse durchs Tullnerfeld mit dem Wissen von heute wieder so bauen?

Engel

Die Planung dieser Anlagen ist ungefähr Ende der 90er Jahre zu Ende gegangen. Die Bauphase hat dann Anfang der 2000er Jahre begonnen und die Inbetriebnahme war 2012. Wir haben unsere Planung damals auf ein 100-jährliches Ereignis ausgelegt, nun ist aber ein Ereignis eingetreten, das höchstens alle 300 Jahre vorkommen sollte. Die Stadt Wien spricht sogar von einem tausendjährlichen Ereignis beim Wienfluss. Wir müssen uns also mit der Tatsache befassen, dass diese Planungsannahmen von der Realität weit überholt worden sind. Und wir müssen uns auch mit den Prognosen befassen, in welcher Dynamik das weitergehen wird. Weil das, was wir gemäß dieser Dimensionierung als ein 100- jährlichen Ereignisses betrachtet haben, tritt scheinbar deutlich häufiger auf als einmal in 100 Jahren.

Auch das Grundwasserproblem im Tullnerfeld, das Sie momentan noch an den Reparaturarbeiten hindert, ist spätestens seit dem Jahrhunderthochwasser 2002 bekannt.

Engel

2002 war die Planung längst abgeschlossen, da hat der Bau bereits begonnen. Das Grundwasserproblem war grundsätzlich bekannt, das ist völlig richtig und hat auch in der Planungsphase schon eine Rolle gespielt. Aber auch dort gilt dasselbe wie beim Hochwasser, die Planungsannahmen und die Prognosen über die außergewöhnlichen Ereignisse, sind von der Realität einfach überholt worden. Dasselbe gilt auch für die Regenmenge.

Wird jetzt bei diesen Reparaturarbeiten der Zustand vor dem Hochwasser wiederhergestellt oder wird da bereits versucht, Adaptierungen vorzunehmen, um solche Schäden künftig zu minimieren?

Engel

Wir können natürlich von den Genehmigungsbescheiden jetzt nicht abweichen, das ist klar. Wir müssen das behördlich genehmigte Projekt auch wiederherstellen, schon aus Sicherheitsgründen. Wir versuchen aber natürlich, dort, wo es geht und Sinn macht, gerade sensible Anlagen wie elektrische Ausrüstungen, bei der Wiederherstellung besser zu schützen. Unabhängig davon gibt es intern jetzt auch Überlegungen, wie wir auf dieses Schadensereignis reagieren müssen, dazu wird es eine umfassende Evaluierung geben.

Ganz grundsätzlich, sind die Österreichischen Bundesbahnen fit für solche Unwetterereignisse, die aufgrund der Klimakrise künftig heftiger ausfallen werden?

Engel

Wir haben ja nicht bloß bei Wasser und Regen ein Thema in Bezug auf die Folgen des Klimawandels, sondern vor allem im alpinen Bereich auch mit Schnee und Lawinen. Wir haben aufgrund der massiven Regenfälle immer wieder mit Hangrutschungen zu tun, wenn Böden das Wasser so nicht mehr aufnehmen können, es gibt auch Schäden zufolge Hitze und Dürre. Das heißt, wir haben nicht nur das Problem Hochwasser im Tunnel so wie jetzt, sondern viele Themen der Klimaresilienz, mit denen wir uns schon seit längerer Zeit beschäftigen.

Und reichen diese Anstrengungen aus?

Engel

Wir sind als ÖBB Instandhalter, Betreiber und Besitzer von sehr umfassenden Schutzmaßnahmen. Gegen Steinschlag betreiben wir etwa eine enorme Menge an Schutzverbauungen und Schutzwäldern für unsere Gleisanlagen, bewirtschaften diese auch entsprechend. Wir haben die gesamte Bandbreite an Hochwasserschutzanlagen von Dämmen, Becken und Entwässerungsanlagen. Aber wie gesagt, der Klimawandel bringt eine ganz andere Dynamik hinein. Zusätzlich haben wir das Problem, dass wir als Eisenbahn natürlich eine Infrastruktur sind, die man nicht sehr schnell umgestalten kann. Wir haben sehr lange Projektdauern. Das kostet einfach sehr viel Zeit, eine neue Weststrecke zu bauen oder jetzt auch bei der Koralmbahn und beim Semmering-Basistunnel. Das sind Projekte, die 20, 25 Jahre Projektlaufzeit haben, und das macht die Sache nicht einfacher.

Bereits vor dem Hochwasser war es so, dass man ohne Sitzplatzreservierung zum Teil nicht mehr im Schnellzug auf der Weststrecke mitfahren durfte. Was raten Sie Reisenden jetzt, bis die neue Weststrecke wieder befahrbar ist?

Engel

Es ist dank der großartigen Anstrengungen der Kolleginnen und Kollegen vor Ort gelungen, relativ rasch ein Gleis auf der Alten Weststrecke wieder freizubekommen. Wir setzen im Moment alles daran, dass wir bis 10. Oktober das zweite Gleis auf dieser Strecke freimachen können. Da gilt es jetzt noch an mehreren Stellen Hangsicherungen zu errichten. Ab diesem Zeitpunkt werden die Eisenbahnunternehmungen den Fahrgästen auch sicher ein breiteres Angebot machen können. Dasselbe gilt für den Güterverkehr.

Lässt sich schon abschätzen, welche finanziellen Auswirkungen die Einbußen beim Güterverkehr ausmachen?

Engel

Nein, dazu kann ich keine Angabe machen.

Mit Blick auf diese Schäden: Wir wählen am Sonntag einen neuen Nationalrat – Bereitet Ihnen das Sorgen, dass eine Partei, die den menschengemachten Klimawandel leugnet, die Wahl gewinnen könnte?

Engel

Ich kann Ihnen keine politischen Aussagen dazu geben und Gott sei Dank muss ich das auch nicht. Ich glaube aber, angesichts der Dinge, die hier passiert sind, gilt es jetzt zu handeln. Das sind wir unseren Kunden und Fahrgästen mehr als schuldig.

Zur Person

Judith Engel ist seit dem Jahr 2003 im ÖBB-Konzern tätig. Seit Jänner 2022 sitzt Engel im Vorstand der ÖBB-Infrastruktur AG und ist dort für den Netzausbau und Infrastrukturbereitstellung verantwortlich.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.