Volle Speicher, alte Abhängigkeiten
Die gute Nachricht zuerst: Dank des außergewöhnlich milden Winters, der massiven Einspeicherungen im vergangenen Sommer und Energieeinsparungen quer durch alle Branchen und Haushalte sind die Gasspeicher ungewöhnlich voll für einen Frühlingsmonat. Laut dem Energie-Dashboard des Klima- und Energieministeriums, das sich aus Daten des heimischen Energieregulators E-Control speist, betrug der Füllstand der österreichischen Gasspeicher 66 Prozent. Im vergangenen April waren es nur 13 Prozent. EU-weit sind die Speicher noch zu 55 Prozent gefüllt. „Das heißt, wir benötigen eine deutlich geringere Gasmenge als im letzten Jahr, um die Speicher für den Winter zu befüllen“, schreibt E-Control-Vorstand Alfons Haber im kürzlich veröffentlichten Jahresbericht des Regulators. Genau genommen sind es heuer EU-weit 22 Milliarden Kubikmeter weniger Gas, die für den kommenden Winter wieder eingekauft werden müssen als noch vor einem Jahr.
Die weniger gute Nachricht: Österreich ist nach wie vor stark von russischen Gaslieferungen abhängig. „Wir müssen heuer weiter über das Thema Diversifizierung diskutieren, weil in Wahrheit nicht viel passiert ist, vor allem nicht freiwillig“, sagt der Energieexperte und ehemalige Chef der E-Control, Walter Boltz. Im Februar kamen 57 Prozent der importierten Gasmengen aus Russland. Der Rest kommt vorwiegend über Deutschland und Italien ins Land. Vorläufige, noch unveröffentlichte März-Zahlen der E-Control sind ähnlich hoch, heißt es auf Nachfrage.
Gaslieferungen
2018 wurde der Liefervertrag zwischen OMV und Gazprom bis 2040 verlängert. Ein Ausstieg ist nicht vorgesehen. Anwesend waren damals neben Ex-OMV-Vorstand Rainer Seele (vorne li.) und Gazprom-Chef Alexej Miller (vorne re.) auch Ex-Kanzler Sebastian Kurz und Russlands Präsident Wladimir Putin.
Vor rund einem Jahr hat die EU-Kommission infolge des russischen Militärangriffs auf die Ukraine das Ziel ausgerufen, bis Ende 2022 um zwei Drittel weniger Gas aus Russland zu importieren. Österreich ist daran gescheitert. Woran liegt das?
Alle EU-Länder gemeinsam beziehen nur noch neun Prozent ihres Erdgases aus Russland (siehe Grafik), wie Daten des Brüsseler Thinktanks Bruegel zeigen. Im Jänner vergangenen Jahres war es noch knapp die Hälfte. Die Reduktion erfolgte nicht immer freiwillig. Nachdem sich zum Beispiel Polen und Bulgarien weigerten, in Folge des Rubel-Dekrets aus Moskau für Gaslieferungen in Rubel zu bezahlen, hat Moskau kurzerhand den Gashahn abgedreht. Und auch Deutschland bezieht seit der Sprengung der Nordseepipeline Nord Stream 1 im vergangenen Sommer kein Gas mehr aus Russland. Zumindest nicht direkt. Indirekt sehr wohl, denn deutsche Energieversorger speichern und kaufen Gas auch bei österreichischen Energieunternehmen ein. Und sobald die Gasmoleküle ins Pipelinenetz eingespeist wurden, haben sie kein Herkunftsmascherl mehr.
Außer Österreich und Ungarn bestellt kaum noch jemand in nennenswertem Ausmaß Gas aus Russland.
Vor einem Jahr sagte Energie- und Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) noch: „Wir müssen alles tun, um unsere Abhängigkeit von russischem Gas so schnell wie möglich zu beenden.“ Mit aktuell 57 Prozent verfehlt Österreich das EU-Ziel jedenfalls deutlich. Mehr noch: „Außer Österreich und Ungarn bestellt kaum noch jemand in nennenswertem Ausmaß Gas aus Russland“, meint Energieexperte Boltz. Weil aber die EU-Abhängigkeit insgesamt so stark gesunken ist und man den heimischen Gasmarkt nicht vom europäischen Gasmarkt gesondert betrachten kann, wäre ein völliger Lieferstopp aus Russland heute nur noch halb so schlimm, auch für Österreich. „Russland ist mit dem Versuch, Europa mit Gas zu erpressen, gescheitert“, sagt Boltz. Ein vollständiger Ausfall würde das Gas im Großhandel zwar etwas verteuern, weil man dann etwas mehr Flüssiggas (LNG) aus Übersee oder norwegisches Gas zukaufen müsste. Eine Preisexplosion wie im vergangenen Sommer erwarten Energieexperten heuer aber nicht mehr. Ende August stieg der Preis für eine Megawattstunde Gas an den internationalen Börsen auf über 340 Euro, heute sind es nur noch knapp über 40 Euro. „Es stellt sich jetzt eher die Frage: Wie viel Geld wollen wir noch an Russland bezahlen, das dann auch in die Kriegskasse des Kreml wandert?“, meint Boltz.
Höchste Pro-Kopf-Kosten für russisches Gas
Die Ausgaben gehen ins Geld, wie ein Blick in die Außenhandelsstatistik zeigt: Laut Statistik Austria haben wir im Vorjahr für alle Energieimporte aus Russland, also neben Erdgas auch Erdöl, 7,37 Milliarden Euro bezahlt. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Jahr davor, trotz massiv gekürzter Liefermengen. Das „NEOS Lab“, ein Thinktank der NEOS, hat auf Basis dieser Daten sowie Zahlen des „Center for Research on Energy and Clean Air“ (CREA) die Kosten pro Kopf für russisches Pipeline-Gas berechnet: Seit Kriegsbeginn hat jede Österreicherin und jeder Österreicher durchschnittlich 590 Euro allein für russisches Erdgas ausgegeben (siehe Grafik). „Es ist der höchste Wert in der gesamten EU“, sagt NEOS-Lab-Leiter Lukas Sustala. „Das hat auch die Inflation ganz stark befeuert.“ Die Verbraucherpreise für Gas haben sich hierzulande nämlich fast verdoppelt. Auch das ist ein Höchstwert in der EU.
Im Herbst sah es noch so aus, als käme kaum noch Gas aus Russland nach Österreich. Diesen Umstand verdanken wir aber der staatlichen Gazprom. „Zu keinem einzigen Zeitpunkt hat Österreich selbst bestimmt, wie viel Gas aus Russland kommt, weder die Politik noch die Unternehmen“, heißt es aus der OMV dazu hinter vorgehaltener Hand. Der teilstaatliche Energiekonzern ist österreichischer Vertragspartner des russischen Gasriesen. Der Liefervertrag läuft bis 2040. Die Gazprom hat die Gaslieferungen stark gedrosselt, phasenweise wurde nur ein Drittel der angeforderten Mengen an die OMV geliefert. „Die russische Vertragspartnerin kommt seit Jahresbeginn wieder in vollem Umfang ihren Gaslieferverpflichtungen nach“, sagt eine Konzern-Sprecherin auf Nachfrage. Russland liefert also wieder. Für die heimischen Vorbereitungen auf den nächsten Winter heißt es damit: Back to Business.
Dabei polterte OMV-Finanzvorstand Reinhard Florey noch im Februar bei der Präsentation der Jahresbilanz: „Wir bekommen nicht das, was vertraglich vereinbart ist.“ Man behalte sich deshalb vor, die Lieferverträge rechtlich prüfen zu lassen. Wie weit diese Prüfung gediehen ist und ob es schon erste Erkenntnisse gibt? Dazu will die OMV auf Nachfrage nichts sagen. Ein Ausstieg ist ohnehin rechtlich kaum möglich, ein Rechtsstreit würde Jahre dauern. Zwar wird der Inhalt des Liefervertrags wie ein Staatsgeheimnis gehütet, bekannt ist mittlerweile aber, dass er trotz der ungewöhnlich langen Lieferzeit keine Ausstiegsklausel hat und auf dem sogenannten Take-or-Pay-Prinzip fußt. Die OMV zahlt also die vertraglich festgelegte Liefermenge, unabhängig davon, ob sie das Gas abruft oder nicht.
Viel versprochen, wenig umgesetzt
Aus dem Vorhaben, diverser und deutlich unabhängiger von Russland beim Gaseinkauf zu werden, wird zumindest 2023 wohl nichts mehr, meinen Experten wie Walter Boltz. Seit November liegt die sogenannte strategische Gasreserve von 20 Terawattstunden (TWh) unangetastet in den heimischen Erdgasspeichern. Die Bundesregierung hat dafür, inklusive der Speicherung bis April 2025, in zwei Ausschreibungen 2,995 Milliarden Euro in die Hand genommen. Immerhin: 8,5 TWh stammen aus nicht russischen Gasquellen. Das Gas ist ausschließlich für den heimischen Verbrauch vorgesehen und soll erst im Fall massiver Engpässe angezapft werden. Darüber hinaus werden die teils medienwirksamen Bemühungen um Diversifikation aber, wenn überhaupt, erst in einigen Jahren zu Buche schlagen. Da wäre zum Beispiel der geplante Ausbau des LNG-Terminals auf der kroatischen Adria-Insel Krk. Im November des Vorjahres reisten Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) eigens an, um für den Ausbau auf EU-Ebene zu werben und – so die Hoffnung – irgendwann selbst über das kroatische Terminal Gas oder Wasserstoff zu beziehen. Der Ausbau des Terminals und der dazugehörigen Pipeline-Infrastruktur bedarf aber milliardenschwerer Investitionen, die zum Teil aus dem EU-Budget kommen sollen. Bis das erste Gas nach Österreich fließen kann, wird es drei bis fünf Jahre dauern.
Im Oktober unterzeichnete die OMV mit der Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC) eine Absichtserklärung für die Lieferung einer Schiffsladung LNG nach Österreich für die Heizsaison 2023/24. Damit könnten 65.000 Haushalte für ein Jahr versorgt werden, jubelten damals Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) und Kanzler Nehammer. Allein, der Deal ist noch immer nicht vertraglich besiegelt. Es ist auch unklar, wann diese Schiffsladung ankommt, an welchem EU-Terminal sie entladen werden soll, wo das LNG ins Pipeline-Netz eingespeist werden soll und wann es einen heimischen Gasspeicher erreicht. „Wir führen auf Basis dieser Erklärung weitere Gespräche, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten“, so die OMV dazu gegenüber profil.
Für Aufsehen sorgten zuletzt auch Ankündigungen, die heimische Gasproduktion zu steigern, um ein Stück weit weniger abhängig von Lieferungen aus dem Ausland zu sein. Derzeit wird der heimische Gasbedarf zu acht Prozent aus Eigenproduktion gedeckt. Damit der Anteil steigt, hat die
im Finanzministerium beheimatete Bergbaubehörde neue Aufsuchungslizenzen an die australisch-österreichische Energiefirma ADX und die heimische OMV vergeben. Von Zell am Moos im Salzkammergut bis Molln in Niederösterreich soll in der Nähe von acht Gemeinden probegebohrt werden (profil berichtete). Schon jetzt regt sich aber teils lauter Widerstand in den Gemeinden. Auch die Energieministerin will so schnell wie möglich raus aus fossilen Brennstoffen, anstatt neue Quellen anzuzapfen. Und auch hier gilt: Bis das erste Gas für den heimischen Gebrauch fließen kann, wird es wohl Jahre dauern. „Tatsächlich gilt auch heuer das Gleiche wie letztes Jahr: Energiesparen und massiv Erneuerbare ausbauen“, sagt Boltz. Einstweilen hängt Österreich wohl noch länger am russischen Gashahn.