Das angespannte Warten bei der AGGM hatte bereits am 13. November 2024 begonnen. AGGM ist für das Management der internationalen Gastransitleitungen auf österreichischem Gebiet zuständig, mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg. Jedes Gasmolekül, das Österreich durchquert, scheint in den Systemen der AGGM auf. Drei Tage vor dem tatsächlichen Lieferstopp ließ die OMV die Öffentlichkeit wissen, dass sie ein internationales Schiedsverfahren gegen Gazprom gewonnen und Schadenersatzzahlungen in der Höhe von 230 Millionen Euro zugesprochen bekommen hatte – zuzüglich Zinsen. „Ab diesem Zeitpunkt haben wir dann gespannt gewartet, wie die Reaktion der Gazprom ausfallen würde“, sagt der Vorstand der AGGM, Bernhard Painz.
Das Schiedsverfahren hatte sich auf einen zweiten Liefervertrag mit Gazprom Export bezogen, unter dem die OMV Gas über die Nordsee-Pipeline Nord Stream 1 für den deutschen Markt bezog. Als die Pipeline 2022 unter mysteriösen Umständen gesprengt wurde, kam kein Gas mehr. Dafür wollte die OMV entschädigt werden und bekam vor dem Schiedsgericht recht.
„Es wird erwartet, dass die Umsetzung des Schadenersatzanspruchs mit einer möglichen negativen Auswirkung auf die vertraglichen Beziehungen unter dem österreichischen Liefervertrag zwischen OGMT (Anm.: OMV Gas Marketing & Trading GmbH) und Gazprom Export einhergeht, inklusive einer potenziellen Einstellung der Gaslieferungen“, schrieb die OMV zum Urteil. Denn die Österreicher wollten so lange eigene Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gazprom aus dem österreichischen Liefervertrag aufrechnen, bis die Schuld getilgt wäre.
Kein Geld, kein Gas
Das Problem dabei: Wenn die Gazprom Export kein Geld für ihr Gas bekommt, liefert sie irgendwann auch keines mehr. Dass sie die geforderte Schadenersatzsumme einfach bezahlt, war schon zu Beginn des Schiedsverfahrens mehr als unwahrscheinlich. Russland erkennt grundsätzlich keine Schiedssprüche aus Ländern an, die das Land wegen des Ukraine-Krieges sanktionieren. Und in mehr als 30 Jahren hat das flächenmäßig größte Land der Welt noch nie freiwillig einem internationalen Schiedsspruch Folge geleistet. Dass es ausgerechnet bei der OMV eine Ausnahme machen würde, war also so gut wie ausgeschlossen.
Ein klassischer Tag im österreichischen Gashandel beginnt um 6 Uhr morgens und endet am Folgetag um 5 Uhr und 59 Minuten. Am Vortag werden immer die Liefermengen für den nächsten Tag nominiert. Also – vereinfacht erklärt – wie viel Gas am Gasknotenpunkt in Baumgarten ankommen wird, wie viel nach Italien oder in die anderen Nachbarländer fließt und wie viel eingespeichert werden soll.
Auch die OMV meldete wie gewohnt die geforderten Mengen an. Zuletzt hat sie 7400 Megawattstunden Gas aus Russland bezogen – pro Stunde. Zur Einordnung: Das entspricht dem durchschnittlichen Jahresverbrauch von fast 500 österreichischen Haushalten, die hier stündlich für die OMV in Baumgarten ankamen. Als dann bei Gazprom Export in Richtung OMV eine große Null stand, war am 15. November klar, dass der heimische Energieriese kein Gas aus Russland bekommen wird.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die OMV schon über zweieinhalb Jahre lang auf diesen Tag X vorbereitet. Nur wenige Tage, nachdem Russland am 24. Februar 2022 mit Panzern und Soldaten die Ukraine überfallen hatte, konstituierte sich innerhalb der OMV eine breit aufgestellte und hochkarätig besetzte Gruppe, die es so vorher noch nicht gegeben hatte – die Taskforce Gas. Das Team, dem Mitarbeiter der OMV Gas Marketing & Trading, der strategischen Entwicklung und ganz viele Mitarbeiterinnen der Rechtsabteilung angehören, sollte den größten heimischen Gasversorger für den Ernstfall vorbereiten: eine Unterbrechung der Lieferungen aus Russland. Schließlich war Krieg. Die Pipeline hätte jederzeit in die Luft fliegen können. Es wäre auch denkbar gewesen, dass die Ukraine die Durchleitung ohne Vorwarnung stoppt. Und Gazprom hätte seinerseits ebenfalls die Gaslieferungen stoppen können.
Neue Wege für russisches Gas?
Der wie ein Staatsgeheimnis gehütete Liefervertrag aus dem Jahr 2006 enthält so gut wie keine Möglichkeit, vorzeitig auszusteigen. 2018 wurde er mit viel Tamtam unter den Augen von Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Russlands Präsident Wladimir Putin bis 2040 verlängert. Übrigens zehn Jahre, bevor er ausgelaufen wäre. Zweieinhalb Jahre lang suchte die Taskforce Gas nach juristischen Schlupflöchern aus dem Vertrag.
Seit 2022 hat die OMV mindestens drei Schiedsverfahren gegen Gazprom eingeleitet, wie auch viele andere europäische Energiekonzerne. Neben den Schadenersatzzahlungen müssen die Schiedsrichter noch entscheiden, ob die Enteignung des OMV-Gasfelds im russischen Juschno Russkoje rechtens war und ob die massiv gedrosselten Gaslieferungen in Richtung Österreich im Spätsommer 2022 gerechtfertigt waren. Damals explodierten die Gaspreise an den internationalen Gas-Hubs und führten letztlich zur größten Inflationskrise seit den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre.
Seit dem 16. November 2024 steuerte Gazprom selbst Tag für Tag einen Ausstiegsgrund mehr bei. Denn aus Sicht der OMV hatte sich durch den Erfolg vor dem Schiedsgericht am Vertrag selbst ja nichts geändert: Sie bestellte täglich die vereinbarten Mengen und wollte nur so lange nicht zahlen, bis die 230 Millionen Euro schwere Schuld getilgt war. Aber ein Vertrag, bei dem niemand liefert und niemand für Lieferungen bezahlt, ist irgendwann schlicht hinfällig – das unterstrich die OMV schließlich mit ihrer Vertragskündigung vom 11. Dezember. Ab dem kommenden Jahr kauft die OMV das Gas für ihre Kunden anderswo ein, in Norwegen oder an den LNG-Terminals in Italien und den Niederlanden.
Aber: Dass die OMV kein russisches Gas mehr aus Russland bekommt, bedeutet nicht, dass gar keines mehr nach Österreich fließt. Denn auch am besagten 16. November kamen über die Ukraine-Slowakei-Route immer noch 244 Gigawattstunden Gas aus Russland in Baumgarten an. Das waren nicht einmal 50 Gigawattstunden weniger als am Tag davor. Nur weil ein – zugegeben großes – heimisches Unternehmen auf russisches Gas verzichtet, müssen das nicht auch 340 andere Firmen tun. So viele sind nämlich derzeit am Central European Gas Hub, der internationalen Gasbörse in Wien, als Verkäufer oder Käufer von Gas gelistet.
Der eigentliche Schicksalstag für die heimische Gasversorgung steht also erst bevor: Wenn die Ukraine am 1. Jänner 2025 tatsächlich kein russisches Gas mehr durchleitet, wie sie das immer und immer wieder angekündigt hat, war es das vorerst mit der direkten Gasleitung nach Moskau. Und zwar für alle – nicht nur für die OMV.