Zum Hintergrund: Am frühen Samstagmorgen des 16. November kam um ein Fünftel weniger Gas am Gasknotenpunkt im niederösterreichischen Baumgarten an. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Austria Gas Grid Management AG (AGGM) schon drei Tage lang gewundert, was der russische Gasriese Gazprom wohl jetzt tun würde. Drei Tage zuvor hatte OMV nämlich ihre Aktionäre und die Öffentlichkeit informiert, dass sie in einem Schiedsverfahren gegen Gazprom 230 Millionen Euro an Schadenersatz zugesprochen bekommen hatte. Das Geld sollte so lange Zahlungsverpflichtungen von OMV gegenüber Gazprom Export aus dem österreichischen Liefervertrag aufgerechnet werden, bis die Schuld getilgt ist. Russland erkennt aber ganz grundsätzlich keine Schiedssprüche aus Ländern an, die es sanktionieren. Wer nicht zahlt, bekommt kein Gas. Und genau darauf könnte es die OMV angelegt haben.
Das Zünglein an der Waage
Dass die eingestellten Lieferungen den Vertragsausstieg besiegelten, greift zu kurz. Sie waren nur das Zünglein an der Waage. Rückblende: Ein oder zwei Tage nachdem Russland mit Panzern und Soldaten am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, konstituierte sich innerhalb der OMV eine breit aufgestellte und hochkarätig besetzte Gruppe, die es so vorher noch nicht gab – die Taskforce Gas. Das Team, dem Mitarbeiter der OMV Gas Marketing and Trading, der strategischen Entwicklung und ganz viele Mitarbeiterinnen der Rechtsabteilung angehören, sollte den größten heimischen Gaslieferanten für den Ernstfall einer Unterbrechung der Gasversorgung vorbereiten. Schließlich war Krieg. Die Pipeline hätte jederzeit in die Luft fliegen können, die Ukraine hätte die Durchleitung ohne Vorwarnung stoppen können oder Gazprom kein Gas mehr nach Europa schicken.
Und recht bald zeichnete sich ab, dass die Hauptaufgabe dieser Taskforce der Ausstieg aus dem nunmehr 56-jährigen Liefervertrag mit der Gazprom Export sein wird. Ohne viel öffentlichen Wirbel zu verursachen. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat die OMV mindestens drei Schiedsverfahren gegen die russische Gazprom eingeleitet. Eines davon hat sie nun gewonnen. Zwei weitere sollen Rechtstreitigkeiten rund um das enteignete Gasfeld in Russland und die stark gedrosselten Lieferungen im Spätsommer 2022 klären. Ob es noch mehr Verfahren gibt? Auf Anfrage heißt es dazu nur: „Wir äußern uns ganz grundsätzlich nicht zu laufenden Schiedsverfahren.“
Bausteinchen um Bausteinchen sollte so der Vertragsausstieg besiegelt werden. Und ab dem 16. November lieferte Gazprom dann selbst den Ausstiegsgrund, nicht den einzigen, aber am Ende vielleicht den entscheidenden. Tag für Tag hat die OMV trotz allem weiterhin rund 177.600 Megawattstunden Gas bestellt – so als wäre nichts gewesen. Aus Sicht der OMV war ja auch eigentlich nichts – der Vertrag war aufrecht, die OMV bestellt, Gazprom liefert. Und bezahlt wird erst wieder, wenn die Schuld aus dem Schiedstitel getilgt ist. Gazprom sah das bekanntermaßen anders. Aber ein Liefervertrag, bei dem niemand Gas liefert und niemand dafür bezahlt, besteht nicht lange.
Über fünf Jahrzehnte lang war die OMV der größte Importeur von russischem Gas. Aber sie ist nur eine von vielen. 340 Unternehmen kaufen oder verkaufen am Central European Gas Hub (CEGH) in Wien Gas. Und nicht nur die OMV hat ihre Lieferquellen diversifiziert, Gazprom tat das gleiche mit seinen Vertriebskanälen.