„Pinkflation“: Wo die Teuerung Frauen härter trifft
Von Clara Peterlik
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„Es wundert mich nicht, dass uns seit zwei Jahren alte weiße Männer die Inflation erklären. Es ist eine Theorie, die sich gegen Frauen richtet.“ Lea Steininger sitzt in einem Wiener Kaffeehaus, redet schnell, bringt Geldtheorie, Konstruktivismus und Genderperformativität in einem Satz unter und bricht dazwischen immer wieder in Lachen aus. Sie hat einen Lebenslauf, der alle Kriterien einer angehenden Ökonomin erfüllt. Steininger hat an der Wirtschaftsuniversität in Wien studiert, bei der europäischen Zentralbank in Frankfurt gearbeitet und forscht jetzt am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Aber sie kritisiert die Engstirnigkeit ihrer Disziplin, den reinen Fokus auf die Geldmenge. „Die Inflationstheorie in Frage zu stellen, ist wie den Aderlass im Mittelalter zu hinterfragen.“
Seit über zwei Jahren beschäftigt ebendiese Inflation aber Zentralbanken, Regierende und natürlich die Bevölkerung bei jedem Einkauf. Seit dem Herbst 2021 verfolgen viele Monat für Monat die Inflationsrate, also den allgemeinen Preisanstieg. Seitdem ist sie um 16,8 Prozent gestiegen. Das heißt auch, 100 Euro damals sind jetzt nur noch 86 Euro wert. Die Inflation trifft alle, aber je nach Einkommen, Wohnsituation und Pendelstatus doch sehr unterschiedlich. Wenig überraschend trifft sie Frauen bei einem unbereinigten Gender Pay Gap von fast 19 Prozent stärker als Männer. Doch nicht nur der reine Verdienst macht den Unterschied. Es geht um mehr - auch um die Denkmuster, die der Inflationstheorie zugrunde liegen.
1. Frauen setzen kaum Preise
„Frauen sind seltener Unternehmerinnen und wenn, dann führen sie eher kleine und mittlere Betriebe, die wenig bis gar keine Preissetzungsmacht haben,“ sagt Steininger. Grundsätzlich können vor allem größere Unternehmen Preise festlegen. Sie können den Markt beeinflussen und Premiumpreise verlangen, ohne dabei an Umsatzdynamik oder Marktanteilen zu verlieren. Die höheren Zinsen der europäischen Nationalbank führten in der Eurozone zu weniger Wettbewerb, wodurch sich die Macht der Preissetzenden verstärkte, wie Steininger in einer Studie zeigte.
2. Frauen geben mehr für Energie, Wohnen und Lebensmittel aus
Zuerst explodierten die Energiepreise, dann zogen die Lebensmittelpreise an und in Folge stiegen die Mieten durch die Indexanpassung. Diese Gemengelage traf Frauen stärker, da sie prozentuell mehr von ihrem Einkommen für Wohnen, Energie und Essen ausgeben als Männer, ergab eine Studie des Momentum Instituts. Eine gute Nachricht: Branchen, in den viele Frauen arbeiten, handelten hohe Kollektivvertragsabschlüsse diesen Herbst aus. Handelsangestellte bekommen im Schnitt 8,4 Prozent mehr, Reinigungskräfte 9,2 Prozent und Kindergartenpädagoginnen 9,7 Prozent. Im Vergleich: Die vielbeachtete Metallbranche kam im Schnitt auf 8,6 Prozent.
3. Sparen auf öffentlicher Ebene trifft Frauen stärker
Alles wird teurer, die Budgets öffentlicher Einrichtungen wachsen aber nicht unbedingt mit. In Zeiten hoher Inflation haben Staaten zwar Mehreinnahmen bei der Steuer, aber steigende Zinsen machen es teurer, sich zu finanzieren. In Deutschland beharrte die Regierung – vor allem FDP-Finanzminister Christian Lindner- auf fiskalische Disziplin. Die Regierung diskutierte wochenlang, wie das Budget trotz Schuldenbremse halten soll. Die US-amerikanische Regierung setzte den Leitzinserhöhungen hingegen ein Investitionsprogramm entgegen. Bei Sparkursen müssten nicht alle den metaphorischen Gürtel enger schnallen, „Sparen trifft Frauen asymmetrisch stärker“, sagt Steininger. Vor allem, wenn bei der öffentlichen Kinderbetreuung gekürzt wird.
4. Judith Butler trifft auf Geldtheorie
Die Sprache der Inflation arbeitet mit klaren Geschlechterbildern. „Nur harte, materielle, männlich konnotierte und zählbare Dinge schaffen Wert, weiblich gelesene Kategorien schaffen keinen Wert“, sagt Steininger. „Etwa die lockere Geldpolitik oder Sozialausgaben sind inflationärer Luxus.“ Die sanften Tauben sorgen sich um maximale Beschäftigung, die harten Falken wollen stabile Preise und Disziplin. Die Möglichkeit, dass im klassischen Sinn „unproduktive„ Dinge wie zum Beispiel Fürsorge, Kunst oder Denkweisen oder eben Geld signifikant zu gesellschaftlicher Verbesserung beitragen können, werde dadurch übersehen.
Für Lea Steininger ist die Frage, wie wir mit Inflation umgehen, kein Naturgesetz, sondern eine von mehreren Möglichkeiten. Während die EU-Regierungen unterschiedlich reagierten – Zuschüsse, Preise deckeln oder umrüsten – lag das Hauptaugenmerk der Zentralbanken beim Leitzins. Die Grundidee: Ein höherer Leitzins verteuert Kredite, Unternehmen investieren weniger, die Wirtschaft kühlt ab, die Arbeitslosigkeit steigt, es wird weniger konsumiert, die aggregierte Nachfrage sinkt, der Konsum wird gedrückt und dadurch wiederum sinkt die Inflation. „Wir könnten viel besser mit Preisstabilität umgehen, wenn wir nicht nur den Leitzins im Blick haben“, sagt Steininger. Es habe zu viele ungewollte Kollateralschäden gegeben. Sie argumentiert, wir sollen Geld als Lenkungsinstrument betrachten, denn dadurch entsteht mehr Gestaltungsspielraum. Anstatt bei steigenden Preisen den Oberbegriff Inflation zu bemühen, sei es sinnvoller, differenziert über Energiekrisen, Wohnkrisen und Lebenserhaltungskostenkrisen zu sprechen und darauf zu reagieren. Preise seien zu vielschichtig und zu komplex, um ihr Management nur der makroökonomischen Ebene – also den pauschalen Leitzinsänderungen zu überlassen. Steiningers Ansatz ist so naheliegend wie ungewöhnlich. In österreichischen Ökonomenkreisen eckt sie damit oft an. Ab Herbst forscht sie nun in Harvard weiter.
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.