Rentieren sich Dividendenaktien langfristig für Kleinanleger?
"Corona hat wie ein Meteor eingeschlagen.“ So bringt es Hans-Jörg Naumer auf den Punkt, wenn er über das Dividendenverhalten börsennotierter Unternehmen im Pandemie-Jahr 2020 spricht. Naumer leitet den Bereich Kapitalmarktanalyse bei Allianz Global Investors und ist Experte für das Ausschüttungsverhalten in Europa. Im profil-Gespräch verweist er auf den STOXX-Europe-600-Index, der die 600 größten börsennotierten Unternehmen aus 17 europäischen Ländern umfasst: Vor der Covid-Krise zahlten rund 90 Prozent der gelisteten Unternehmen Dividenden aus. 2020 sank dieser Wert auf 73 Prozent.
Noch etwas dramatischer fiel diese Entwicklung im Wiener Leitindex ATX aus: profil hat im Rahmen einer umfangreichen Recherche Daten zum Dividendenverhalten von ATX-Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren gesammelt und analysiert. Ein Umstand, der sofort ins Auge sticht: 2018 und 2019 (Ausschüttungsjahr) gab es eine makellose Dividendenbilanz. Ausnahmslos alle 20 aktuell gelisteten Unternehmen schütteten Geld an ihre Aktionäre aus. 2020 dann der Keulenschlag: Gleich sechs Unternehmen ließen die Dividenden für das vorangegangene Jahr ganz ausfallen – darunter die Banktitel Erste Group, Raiffeisen Bank International und Bawag, die damit einem De-facto-Dividendenverbot (offiziell eine „Empfehlung“) der Europäischen Zentralbank für Kreditinstitute folgten. Auch andere Unternehmen verzichteten auf Ausschüttungen oder kürzten das Volumen. Laut „Dividenden Report“ der Arbeiterkammer wurden 2020 insgesamt 1,6 Milliarden Euro an die Aktionäre ausbezahlt. Ein Jahr davor hatte es noch einen neuen Rekord von 3,2 Milliarden Euro gegeben.
Was bringt es Kleinanlegern eigentlich, wenn sie langfristig auf Dividendenwerte setzen – also auf Unternehmen, die Investoren mit laufender Gewinnbeteiligung und nicht nur mit rasanten Kursversprechen locken? Um das herauszufinden, hat profil eine Zeitreise unternommen – und zwar um 20 Jahre in die Vergangenheit, exakt zum 2. Jänner 2001.
Es ist der erste Handelstag an der Wiener Börse nach dem Jahreswechsel. Herr Taler, ein frei erfundener, beliebiger Kleinanleger aus Österreich, hat die Feiertage einigermaßen wohlbehalten überstanden, die guten Neujahrsvorsätze noch in Erinnerung und – nach Weihnachten und einem runden Geburtstag – 5000 Schilling auf der hohen Kante. (Ja, man zahlt noch in der alten Währung. Die Börsenkurse sind allerdings bereits auf Euro umgestellt. So gesehen hat Herr Taler also rund 363 Euro zur Verfügung.) Da er ein gebranntes Kind der geplatzten Dotcom-Bubble ist, hat er sich fest vorgenommen, diesmal etwas Langfristigeres – vermeintlich Solideres – zu probieren. Etwas, bei dem zwar nicht zu erwarten ist, dass der Kurs durch die Decke geht, das aber zumindest in schöner Regelmäßigkeit ein bisschen etwas abwirft. Eine Dividendenaktie.
Nun hat Herr Taler die Qual der Wahl: Damals besteht der ATX aus 24 Unternehmen. Um Cybertron macht Herr Taler einen großen Bogen (Stichwort: Dotcom-Bubble), mit etwas Glück vermeidet er sowohl Libro als auch Austrian Airlines und landet bei einem jener zwölf damaligen ATX-Werte, die auch heute noch in unterschiedlichen Indizes an der Wiener Börse notieren – darunter Erste Group (damals Erste Bank), OMV, voestalpine (damals VA Stahl), Verbund, EVN, Flughafen Wien, Telekom und Semperit.
20 Jahre später: profil hat die Gesamtdividende aus dem Neujahrsinvestment von Herrn Taler bis inklusive Ausschüttungsjahr 2020 berechnet – wohlgemerkt vor Steuern und allfälligen Kosten. Der Vergleich offenbart durchaus beachtliche Unterschiede: Voran liegen demnach voestalpine (824,40 Euro) und OMV (810,00 Euro) mit einem Mehrfachen des angelegten Betrags. Sehr stark schneiden Semperit (668,15 Euro) und Mayr-Melnhof (596,05 Euro) ab. In einem Bereich, der ungefähr der Höhe des ursprünglichen Investments entspricht, sind Telekom Austria (395,85 Euro) und Flughafen Wien (352,62 Euro) angesiedelt. Etwas darunter liegen Verbund (314,73 Euro), EVN (310,64 Euro) und Erste Group (292,74 Euro).
Mit Abstand am besten ausgestiegen wäre Herr Taler allerdings, wenn er noch ein Jahr gewartet hätte. Im Juni 2001 startete nämlich der steirische Anlagenbauer Andritz an der Wiener Börse. Hätte Herr Taler nach dem Jahreswechsel 2002 seine 363 Euro in Andritz-Aktien gesteckt, wäre er auf eine Gesamtdividende (immer vor Steuern und Kosten) bis inklusive 2020 von 1876,80 Euro gekommen. Andere aktuelle ATX-Werte zeigen ebenfalls eine starke Dividenden-Performance – etwa Lenzing (1023,68 Euro seit 2001), Schoeller-Bleckmann (590,00 Euro seit 2003), Do&Co (490,50 Euro), Uniqa (384,60 Euro) und die Vienna Insurance Group (375,27 Euro) jeweils seit 2001.
Auch bei Investments, bei denen die Dividende im Vordergrund steht, kommt es auf den richtigen Zeitpunkt an. Die Post AG kam im Jahr 2006 an die Börse. Hätte Herr Taler – seinen Neujahrsgepflogenheiten zufolge – Anfang Jänner 2007 wiederum 363 Euro in Post-Aktien investiert, würde sich die Gesamtdividende bis inklusive Ausschüttungsjahr 2020 auf 256,10 Euro belaufen. Wäre er jedoch direkt beim IPO eingestiegen, hätte er für dasselbe Geld – zu einem niedrigeren Kurs – deutlich mehr Aktien erwerben können. Die Auswirkung: eine doppelt so hohe Gesamtdividende von 503,69 Euro.
profil hat die jährliche Dividendenrendite (Dividende in Relation zum Aktienkurs) der aktuellen ATX-Unternehmen analysiert. In 13 von 15 Börsenjahren fand sich die Post unter den Top-3-Werten. Die durchschnittliche Dividendenrendite der Post belief sich auf rund 6,5 Prozent. Auf den Plätzen zwei und drei: Lenzing (zehn Mal unter den Top 3 in 20 Jahren, Dividendenrendite: rund
3,7 Prozent) und die OMV. Letztere rangierte – ebenso wie Wienerberger – sechs Mal seit 2001 bei der jährlichen Dividendenrendite unter den Top 3, wies jedoch über den Gesamtzeitraum mit rund 3,7 Prozent eine höhere durchschnittliche Dividendenrendite auf.
Tatsächlich zeigt sich in Bezug auf einige Unternehmen und Branchen eine große Beständigkeit, was die Dividendenpolitik anbelangt. Neun der 20 aktuellen ATX-Unternehmen haben von 2001 (oder seit ihrem nach 2001 erfolgten Börsengang) bis 2020 jedes Jahr eine Dividende ausgeschüttet.
Seitens der Wiener Börse verweist man gerne darauf, dass die Dividende einen gewichtigen Beitrag zur Gesamtperformance leistet. Dies soll ein eigener Index namens „ATX Total Return“ (ATX TR) abbilden. Im Unterschied zum normalen ATX umfasst der ATX TR nicht nur die Kursentwicklung, sondern auch die Dividenden. Dies entspricht übrigens der üblichen Darstellungsform des deutschen DAX, was bei Vergleichen berücksichtigt werden sollte. Der Unterschied fällt ins Gewicht: Seit Anfang 1991 legte der normale ATX um gut 250 Prozent zu, der ATX TR inklusive Dividenden hingegen um mehr als 600 Prozent. Vor wenigen Tagen, am 15. Juni 2021, erreichte der ATX TR gar ein neues Allzeit-Hoch.
Allianz-Experte Naumer rechnet damit, dass auf europäischer Ebene das Vor-Corona-Dividendenniveau im Jahr 2022 wieder erreicht wird. Möglicherweise geht es in Österreich etwas schneller – etwa wenn Banken Dividenden, die sie in der Krise zurückbehalten haben, zusätzlich ausschütten.
Was sagen einige der österreichischen Dividendenkaiser zu ihrer Strategie? Lenzing-Finanzvorstand Thomas Obendrauf bezeichnet eine „attraktive Dividendenpolitik“ als eine Stütze des langfristigen Wachstums. Man priorisiere Investitionen und Dividenden gegenüber Akquisitionen und Aktienrückkäufen. „Neben der Unternehmenswertsteigerung sehen wir Dividendenzahlungen als wichtigen Teil des Gesamt-Shareholder-Returns“, heißt es von Andritz: Man habe im Schnitt knapp die Hälfte der Gewinne ausgeschüttet. Die Post wiederum strebt an, „nachhaltig eine Dividende von mindestens 75 Prozent des Nettoergebnisses“ auszuzahlen. Das verspreche man auch für die Zukunft. Und seitens der OMV heißt es, man strebe an, die Dividende jedes Jahr zu erhöhen oder zumindest auf Vorjahresniveau zu halten.
Es sieht insgesamt also ganz gut aus für Herrn Taler. Doch auch bei Dividenden gilt wie überall am Aktienmarkt: Die Vergangenheit ist keine Garantie für die Zukunft.