Roman Stöllinger: „Österreich ist eine Erfolgsgeschichte“
profil: Sie schreiben in einer aktuellen Studie, Österreich gehöre zur industriellen Kernzone in Europa. Müssen wir uns um unsere Industrie keine Sorgen machen? Roman Stöllinger: Das ist ein wenig gar optimistisch. Es gibt natürlich starken Wettbewerbsdruck. Gerade in Zeiten der Digitalisierung der Industrie entstehen oder verschwinden Standortvorteile schneller denn je. Denken Sie an den finnischen Telekom-Konzern Nokia, der, nachdem er die Wende zum Smartphone verschlafen hatte, innerhalb weniger Jahre in der Bedeutungslosigkeit versank. Aber trotzdem: Ja, Österreich ist Teil einer industriellen Kernzone, und das ist ein immenser Vorteil.
profil: Wer noch? Stöllinger: Nach der Definition unserer Studie Deutschland sowie die sogenannten Visegrád-Staaten, Tschechische Republik, Ungarn, Slowakei und Polen. In all diesen Ländern ist der Anteil der Industrie und des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt (BIP) relativ hoch. Es gibt aber Abstufungen: Man könnte auch Norditalien zur Kernzone zählen, wenn man das Mezzogiorno abtrennt. Außerdem kann sich die Zone erweitern. Rumänien etwa ist ein Kandidat, der derzeit durch Auslandsinvestitionen europäischer Unternehmen aufholt.
profil: Wie entstand die Kernzone? Stöllinger: Dazu gibt es zahllose Spekulationen und Theorien. Es erinnert ein wenig an die Frage, warum die Industrielle Revolution ausgerechnet in England stattgefunden hat. Die Gründe sind vielschichtig, aber ein großer Faktor ist Deutschland als Anker. Dieses Land ist Haupttechnologiegeber, seine Wirtschaft ist stark exportorientiert.
Trotz der Verlagerungen von Produktionsschritten in den Osten schrumpfte die Industrie in den Stammländern Deutschland und Österreich nicht.
profil: Der Exporterfolg Deutschlands reißt ganz Mitteleuropa mit. Stöllinger: So lautet eine Theorie. Wir beobachten große Produktionsvernetzungen zwischen Deutschland, Österreich und den Visegrád-Staaten. Deutschland und Österreich haben am stärksten von der Osterweiterung profitiert.
profil: Sie sprechen von den internationalen Produktionsketten, die in den vergangenen 20, 25 Jahren entstanden sind? Stöllinger: Ja, zum Beispiel in der Autoindustrie. Wenn BMW oder Volkswagen etwa ein Werk in der slowakischen Hauptstadt Bratislava eröffnen, dann befinden sich das Hauptquartier und Teile der Technik in Deutschland. Die Motoren kommen beispielsweise aus Österreich. Zusammengebaut und lackiert wird das Auto dann in der Slowakei. Wie sich derartige Ketten auswirken, konnte man bislang mithilfe konventioneller Handelsstatistiken nur schlecht analysieren. Wir verwenden neue, genauere Informationen, sogenannte Input-Output-Daten. Damit können wir bessere Aussagen treffen, wie Verflechtungen aussehen. Unser Fazit: Die Produktionsketten stärken die Industrie in der europäischen Kernzone. Auf dem restlichen Kontinent jedoch tragen sie zu einer Tendenz der Deindustrialisierung bei.
profil: Also wirken sich die Produktionsketten in der Kernzone anders aus als im restlichen Europa? Stöllinger: Genau. Im Rest Europas ist der Anteil der Industrie am BIP tendenziell stärker rückläufig. In der Kernzone hingegen ist es besser gelungen, das volle Potential der Verflechtungen zu nutzen. Das bedeutet: Trotz der Verlagerungen von Produktionsschritten in den Osten schrumpfte die Industrie in den Stammländern Deutschland und Österreich nicht, oder nur unwesentlich. Anderswo beobachten wir das Gegenteil. Das gilt für Peripherie-Länder wie Spanien und Griechenland genauso wie für alte Industriestaaten wie Frankreich und Großbritannien.
Trotz eines hohen Anteils an Tourismuswirtschaft war Österreich stets ein Industrieland.
profil: Woran liegt der Erfolg der Kernzone? Stöllinger: Da spielt sicher die Geografie eine Rolle. Deutschland ist ein Hochtechnologieland, in dem es seit jeher viel Industrie gab – und mit der Wende konnte das Land die großen ökonomischen Unterschiede in seiner unmittelbaren Nachbarschaft für sich nutzen. In den Visegrád-Staaten gibt es nicht nur Arbeitskräfte, die für europäische Verhältnisse relativ billig sind. Auch ist das Ausbildungsniveau dieser Länder sehr gut, das noch aus kommunistischer Zeit stammt. Billige Arbeitskräfte allein würden der Wirtschaft nicht helfen, wenn das Know-how fehlt. Deutschland fand also günstige Bedingungen vor. Und die Unternehmen haben viel daraus gemacht. Beispielsweise haben manche das System der Lehrlingsausbildung, wie sie es aus dem Heimatland kannten, in den Osten exportiert. Also dort weiterhin für gute Qualifikationen gesorgt.
profil: Und Österreichs Rolle? Stöllinger: Österreich hat eine ähnliche Produktionsstruktur wie Deutschland. Trotz eines hohen Anteils an Tourismuswirtschaft war es stets ein Industrieland. Zudem spielt das System der dualen Ausbildung eine große Rolle. Es sorgt für ausreichend Facharbeiter. Komplizierte Produktionsprozesse blieben deshalb trotz der Verlagerungen anderer Schritte im Inland. Die Kombination von theoretischem Wissen aus der Berufsschule und der Anwendung spezifischer Kenntnisse, die man während der Ausbildung im Betrieb mitbekommt, ist in Branchen wie dem Maschinenbau von enormer Bedeutung. Österreich ist diesbezüglich eine Erfolgsgeschichte.
profil: Die Zugehörigkeit zur Kernzone ist also eine Eigenschaft, die dem Land nutzt und den Wohlstand vergrößert? Stöllinger: Meiner Ansicht nach schon, wobei die Meinungen der Ökonomen darüber durchaus auseinandergehen. Viele sagen auch: Unterschiedliche Staaten haben eben unterschiedliche Spezialisierungsmuster, und das ist gut so. Wenn sich ein Land auf Dienstleistungen spezialisiere, sei das auch kein Problem. Beispielsweise hat Großbritannien verschwindend wenig Industrie, aber eine große Finanzwirtschaft. Dann sollen die Briten eben Banken betreiben statt Autos bauen, sagen diese Ökonomen. Ich halte das allerdings nur für teilweise richtig. Eine industrielle Basis ist in jedem Fall wichtig für ein Land.
Diesbezüglich hat auch die internationale Finanzkrise des Jahres 2008 zu einem Umdenken geführt.
profil: Warum? Stöllinger: Grundsätzlich ist das Produktivitätswachstum in Europa in der Industrie höher als im Dienstleistungssektor. Wenn die Produktivität wächst, bedeutet das, dass ich mit dem gleichen Einsatz an Arbeitskräften und Ressourcen mehr produzieren kann. Der Wohlstand nimmt also insgesamt zu. Bei den Dienstleistungen beobachten wir zwar auch Produktivitätsfortschritte, aber nicht im selben Ausmaß. Außerdem konzentrieren sich die Aufwände für Forschung und Entwicklung weitgehend auf die Industrie: 80 Prozent der privaten Forschungsausgaben finden im Industrie-, nur 20 Prozent im Dienstleistungssektor statt. Die Industrie ist also, im Großen und Ganzen, der Ursprung des technischen Fortschritts. Das zeigt sich auch an den Leistungsbilanzen: Industriegüter lassen sich leichter exportieren als Dienstleistungen. Länder mit einem hohen Anteil an Dienstleistungen haben deshalb tendenziell schlechtere Leistungsbilanzen als Industrieländer. Das heißt: Sie importieren mehr als sie exportieren. Ihre Schulden beim Ausland werden größer. Deutschland zum Beispiel weist derzeit einen hohen Leistungsüberschuss auf. Diese Ungleichgewichte führen zu Spannungen in Europa.
profil: Was sollen die Länder außerhalb der Kernzone tun? Stöllinger: Sie haben zwei Möglichkeiten. Sie können sich auf Dienstleistungen spezialisieren und sich damit abfinden, keinen großen Industriesektor zu haben – ein Beispiel ist Kroatien, das überwiegend auf den Tourismus setzt. Oder sie versuchen, die Industrie wieder mehr zu fördern. Jedes Land hat gewisse Stärken, auf die man aufbauen kann. Frankreich zum Beispiel fertigt Schnellzüge an. Derartige Spezialisierungen kann ein Staat nutzen – und auf Wirtschaftsbereiche setzen, die hinsichtlich der Materialien und der Qualifikation der Beschäftigten ähnlich sind.
profil: Gibt es Tendenzen in diese Richtung? Stöllinger: Ja, in verschiedenen Ländern. In Großbritannien ist eine Institution aufgebaut worden, die wieder für mehr Industrieansiedlungen sorgen soll. Auf EU-Ebene gibt es Initiativen. Die Kommuniqués der EU-Kommission tragen Titel wie „Die Wiedergeburt der Industrie“. Diesbezüglich hat auch die internationale Finanzkrise des Jahres 2008 zu einem Umdenken geführt. Denn sie hat gezeigt, dass manche Dienstleistungen blasenanfälliger sind als Industriegüter – denken Sie an die Rolle der britischen Finanzbranche in der Krise. Heute wird wieder anerkannt, dass der Industriesektor eine gewisse Bedeutung hat.
Roman Stöllinger, 40, arbeitet seit acht Jahren am Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Der Ökonom studierte in Innsbruck und Wien. Das WIIW wurde im Februar vom „Global Go To Think Tank Index“ zur fünftbesten Wirtschafts-Denkfabrik der Welt gewählt. Stöllingers Studie: tinyurl.com/wiiw-studie