Inwiefern?
Astrov
Er denkt nicht, dass die Ukraine den Krieg noch gewinnen kann. Er betrachtet die Ukraine als Loser und versucht, die Geschichte so schnell wie möglich zu Ende zu bringen und sich auf andere Konflikte zu konzentrieren – jene mit China, dem Iran. Und er betrachtet Russland nicht als Rivalen der USA. Das ist ein totaler Bruch der bisherigen Russland-Politik der USA. Trump sieht vor allem China als Bedrohung. Deshalb versucht er auch die Allianz zwischen China und Russland zu schwächen.
Glauben Sie, dass ihm das gelingen kann?
Astrov
Das wird schwierig. Die EU macht bei der US-Wende nicht mit. Das schwächt beide Seiten. Es wird mit einer großen Wahrscheinlichkeit zu einer Lockerung der US-Sanktionen gegen Russland kommen. Und wenn nur die EU und eine Handvoll weiterer Staaten am Sanktionsregime festhalten, werden die Sanktionen noch ineffizienter sein als bisher. Wenn Trump andererseits seinen Kurs gegenüber Russland ändert und die EU nicht mitmacht, wird es für ihn auch schwierig, die Allianz zwischen Russland und China zu schwächen. Die transatlantische Achse war stark, weil sie eine Achse war.
Denken Sie denn wirklich, dass die Sanktionen bisher ineffizient waren?
Astrov
Wir haben über 24.000 einzelne Sanktionen gegenüber Russland implementiert, darunter natürlich viele Einzelmaßnahmen gegenüber einzelnen Personen. Das ist das größte Sanktionsexperiment der Geschichte. Es ist jedenfalls das größte Sanktionspaket seit Napoleon. Er hat 1806 eine Blockade für Großbritannien und alle seine Kolonien verabschiedet, und fast alle europäischen Länder haben damals mitgemacht. Das damalige russische Reich hat sich aber geweigert, diese Sanktionen mitzutragen. Das hat mitunter Napoleons Angriff auf Russland provoziert.
In welchen Bereichen hat Russland die Sanktionen besonders zu spüren bekommen?
Astrov
Die hohe Inflation (9,9 Prozent, Anm.) ist teilweise auf die Sanktionen zurückzuführen. Die angedrohten Sekundärsanktionen für Banken aus Drittländern haben dazu geführt, dass chinesische oder türkische Banken viel vorsichtiger wurden bei Zahlungen aus Russland. Diese allgemeine Vorsicht hat viele Güter verteuert. Man musste komplizierte Konstrukte und Strukturen aufbauen, um das zu umgehen. Als die USA im Vorjahr angekündigt haben, die Gazprom Bank zu sanktionieren, über welche für Gaslieferungen bezahlt wird, ist der Rubel abgestürzt, und das hat die Inflation befeuert. In einzelnen Sektoren spürt man die Sanktionen sehr wohl. Im Export, in der Flugbranche. Dem Gassektor geht es sehr schlecht aufgrund der Sanktionen. Hier war Russland stark auf westliche Technologien und auf westliche Finanzierung angewiesen. Wichtige Flüssiggasprojekte wie Arktik 2 in Nordwest-Sibirien hatten massive Probleme wegen der Sanktionen.
Ausgerechnet der Gassektor? Gas wurde von der EU nie sanktioniert.
Astrov
In den USA und in Großbritannien wurde Gas sehr wohl sanktioniert, was allerdings keine so große Rolle gespielt hat. Aber der massive Einbruch der Gasimporte in die EU und die US-Sanktionen für Technologiegüter haben die Gasproduktion in Russland sehr hart getroffen. Jetzt verhandeln die USA und Russland über mögliche Lockerungen der Sanktionen. Die US-Handelskammer in Moskau ist auch schon in Kontakt mit der russischen Industriellen-Vereinigung. Und dabei soll es vor allem um den Finanz- und Flugsektor gehen.
Geschäft mit dem Krieg
"Der Krieg ist für viele Familien ein Geschäftsmodell, vor allem in den strukturschwachen Regionen", erklärt der Ökonom. Der Monatslohn für Söldner liegt mit rund 2.000 Euro weit über dem Durschschnittslohn in Russland. Mittlerweile entfallen drei Prozent des privaten Konsums auf Einkommen aus dem Wehrdienst.
Welchen Anteil am russischen BIP-Wachstum hat der Krieg?
Astrov
Die Verteidigungsausgaben sind offiziell auf 6,5 Prozent des BIP gestiegen, wahrscheinlich sind sie noch höher. Vor dem Krieg waren es drei Prozent. Hier geht es nicht nur um die Ausgaben für Waffen und Munition, auch die Textilindustrie profitiert, die Lebensmittelindustrie, die das Militär an der Front beliefert. Ebenso die Stahl- und die chemische Industrie. Und man darf die Zahlungen an die russischen Söldner nicht unterschätzen. Sie bekommen im Schnitt mehr als 2000 Euro pro Monat. Darüber hinaus gibt es eine Einmalzahlung von durchschnittlich 10.000 Euro, wenn man einen Vertrag mit der Armee unterschreibt und an die Front geht. Wenn man schwer verwundet wird oder stirbt, gibt es noch mal Kompensationszahlungen von bis zu 150.000 Euro. Der Krieg ist für viele Familien ein Geschäftsmodell, vor allem in den strukturschwachen Regionen. Das ist eine absolute Abkehr von der Zeit der Sowjetunion, als Soldaten nichts wert waren. So versucht Putin, seine Popularität zu halten, und ist bereit, viel Geld dafür auszugeben. Die Zahlungen an die Söldner machen 1,5 Prozent des russischen BIP aus und bewirken drei Prozent des privaten Konsums.
Sie haben bei unserem Gespräch vor einem Jahr den Krieg als „Doping für die russische Wirtschaft“ bezeichnet. Jetzt sprechen wir über eine mögliche Waffenruhe oder einen Diktat-Frieden. Wäre das dann eine Art kalter Entzug für die föderale Wirtschaft?
Astrov
Kurzfristig wäre das wahrscheinlich ein Schock. Vor allem, weil die Zahlungen an die Söldner gekürzt würden. Die Waffenproduktion wird wahrscheinlich nicht so schnell zurückgefahren, weil die Vorräte aufgebraucht sind. Falls die USA die Sanktionen lockern, wäre das für die russische Wirtschaft positiv. Beim ersten Treffen der USA und Russland in Riad, in Saudi-Arabien, waren nicht nur der russische Außenminister Sergej Lawrow und der außenpolitische Berater Juri Uschakow dabei, sondern auch Kiril Dmitrijew, der Leiter des Russian Direct Investment Fund (des staatlichen russischen Anlagefonds). Schon beim ersten Treffen ging es auch um mögliche US-Investitionen in Russland. Trump denkt wie ein Geschäftsmann.
Was würde ein Diktat-Frieden für die Ukraine bedeuten?
Astrov
Die Ukraine ist leider in einer sehr schlechten Verhandlungsposition. Das Wichtigste aus ihrer Sicht sind die Sicherheitsgarantien. Aus heutiger Sicht hat die Ukraine praktisch keine Chancen, eroberte Gebiete von Russland zurückzubekommen. Und ohne Sicherheitsgarantien für die ukrainischen Gebiete wird kaum ein ausländischer Investor auch nur einen Euro dort investieren. Vielleicht gibt es jetzt eine Waffenruhe, aber das ist noch lange kein Frieden. Wer garantiert, dass Russland nicht wieder angreift?