25 Jahre Tafel Österreich: Satt besser beraten
Von Clara Peterlik
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Der Großmarkt in Wien-Inzersdorf ist vermutlich nie besonders schön. An einem regnerischen Herbsttag mit Nebel und Nieselregen aber noch weniger. In einem Gefährt, das an ein Golfcart erinnert, zieht Michael Pernkopf seine letzten Runden. Seit sechs Uhr morgens ist er hier. Es ist fast neun, und die meisten Händler haben bereits geschlossen.
Viele spenden ihre überschüssige Ware an die Tafel, manche aber partout nicht. Ein Händler entsorgt gerade stapelweise sein Obst. „Der spendet nie seine Ware. Ich habe es probiert, aber er schmeißt es lieber weg und zahlt die Gebühr für den Bio-Müll.“ Das sind 70 Euro pro Tonne.
Wie viel weggeworfen wird, kann man gut ausblenden, wenn man nicht direkt im Handel, Catering oder in Kantinen arbeitet. Am Großmarkt werden täglich tonnenweise frisches Obst und Gemüse entsorgt – gleichzeitig verlieren in Zeiten schwächelnder Konjunktur mehr Menschen ihren Job, die gestiegenen Kosten für Essen und Miete belasten viele Haushalte, und die Zahl derer, die in absoluter Armut leben, verdoppelte sich beinahe in den letzten zwei Jahren. Die Tafel Österreich setzt hier an. Seit fast 25 Jahren sammelt und verteilt die überwiegend spendenfinanzierte Organisation Lebensmittel an soziale Einrichtungen. Was hat sich in dieser Zeit verändert? Wo kann die Tafel helfen, und wo stößt sie an ihre Grenzen?
Michael Pernkopf
Er ist schon seit sechs Uhr früh am Großmarkt unterwegs.
3000 Kilo Lebensmittel am Tag
Michael fährt vorbei an „Eier Mayer“, biegt bei „Obst und Gemüse Cihan“ ab und hält vor einem Asiamarkt. Beim Aussteigen erzählt er, wie schockiert er anfangs über die Menge an Lebensmitteln war, die weggeworfen werden. „Ein Händler wirft eine Palette Bananen weg, nur weil der Karton leicht eingedrückt ist. Mit der Ware ist aber alles in Ordnung.“ Er macht die Händler dafür nicht allein verantwortlich. „Sie sagen, die Kunden kaufen solche Produkte nicht, und oft stimmt das leider.“
An diesem regnerischen Freitag sammelt die Tafel etwa 700 Kilogramm Lebensmittel ein; an heißen Sommertagen sind es sogar bis zu 2000 bis 3000 Kilogramm. Diese werden dann an rund 100 Organisationen weitergegeben – an Winternotquartiere für Obdachlose, Mutter-Kind-Häuser und Übergangswohnheime für Menschen ohne ein Zuhause. „Das Netzwerk vergrößerte sich über die Jahre“, erzählt Alexandra Gruber, die aktuelle Geschäftsführerin der Tafel Österreich. Den Grundstein legten im Jahr 1999 vier Studienkolleginnen und -kollegen der Sozialakademie. Mittlerweile gibt es 300 Ehrenamtliche, 30 Angestellte, und die Organisation benannte sich von Wiener Tafel in Tafel Österreich um.
© Clara Peterlik
Haupthaus der Tafel Österreich
Hier werden die Lebensmittel aussortiert, gelagert und verpackt und in soziale Einrichtungen gebracht.
Haupthaus der Tafel Österreich
Hier werden die Lebensmittel aussortiert, gelagert und verpackt und in soziale Einrichtungen gebracht.
Handel wirft weniger weg
In den vergangenen 20 Jahren hat sich im Handel viel verändert. Es wird weniger weggeworfen, viele Händler versuchen, ihre Waren selbst abzuverkaufen, und nutzen zunehmend künstliche Intelligenz zur weiteren Optimierung. „Mit KI-unterstützten Prognosen könnte die Verschwendung gegen null gehen“, sagt Geschäftsführerin Gruber. Die sinkenden Warenspenden und der steigende Bedarf setzen die Tafel tatsächlich unter Druck. Zudem kommen noch Unternehmen wie „Too Good To Go“. Mittels App kann man beinahe abgelaufene Waren direkt vom Supermarkt sehr günstig kaufen.
Aber ist das nicht eigentlich ein Erfolg, wenn weniger Essen weggeschmissen wird? „Auf jeden Fall. Es gibt im Handel ein steigendes Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung.“ In der Landwirtschaft und in Betriebsküchen existieren jedoch weiterhin große Überschüsse. Ein wichtiges rechtliches Thema ist dabei die Frage der Verantwortung, die in Österreich vergleichsweise streng geregelt ist.
Ehrenamtliche sortieren Obst
An diesem Tag sammelte die Tafel um die 700 Kilo Lebensmittel ein, an Spitzentagen sind es bis zu 3.000.
Armut steigt
Das Haupthaus der Tafel ist ein bunter Fleck auf dem grauen Großmarkt. Im angrenzenden Lager sortieren etwa zwölf Freiwillige die Lebensmittel. Was ist noch genießbar, was nicht mehr? Die Truppe ist bunt gemischt: Pensionisten, Asylwerber, Zivildiener und einige Jugendliche. „Es ist schwieriger geworden, Ehrenamtliche zu finden, die langfristig dabeibleiben. Der Großmarkt ist weit weg, und der Tag beginnt früh“, erklärt Gruber. Frisches Obst und Gemüse ist immer gefragt, im Lager stehen aber auch kartonweise Nudeln, Chips und Cornflakes. Drei Teams brechen mit kleinen Lastwagen auf, um Supermärkte und Bäckereien abzuklappern.
Die erhaltene Ware wird dann gleich an die unterschiedlichen sozialen Einrichtungen ausgeliefert. „Die Zahl der Einrichtungen ist in Wien über die Jahre gleich geblieben, die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, hat sich in den letzten zwei Jahren österreichweit verdoppelt“, erzählt Tafelleiterin Gruber. Österreichweit ist 2023 die Anzahl der armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Personen mit fast 18 Prozent der Bevölkerung (rund 1,5 Millionen Menschen) nahezu konstant geblieben. Die Zahl der Menschen in absoluter Armut hingegen ist gestiegen – 2023 konnten sich 336.000 Personen (3,7 Prozent) in Österreich grundlegende Ausgaben des täglichen Lebens – wie eine Wohnung zu heizen – nicht leisten. 2022 waren es nur 201.000 Personen (2,3 Prozent), so die Zahlen der Statistik Austria.
Und angesichts der wirtschaftlichen Situation der letzten Monate werden die Zahlen 2024 zumindest nicht sinken. Diesen November waren um zehn Prozent mehr Menschen arbeitslos (ein Plus von 29.000 Personen, Anm.) als im Jahr davor. In der Industrie waren es fast 19 Prozent (rund 4000) mehr.
© Clara Peterlik
Angekommen
Die Lebensmittel wurden in das Notquartier vom FSW-Winterpakets in der Gänsbacherstraße gebracht. Hier Tafel-Geschäftsführerin Alexandra Gruber und der Notquartierleiter.
Angekommen
Die Lebensmittel wurden in das Notquartier vom FSW-Winterpakets in der Gänsbacherstraße gebracht. Hier Tafel-Geschäftsführerin Alexandra Gruber und der Notquartierleiter.
Tafelwesen meets Sozialstaat
Aber welche Unterstützung kann die Tafel leisten? Sie konzentriert sich in erster Linie auf die Linderung von Armut – durch ein gesundes Essen –, anstatt sie aktiv zu bekämpfen. In Ländern wie dem Vereinigten Königreich gibt es ein stark professionalisiertes Tafelwesen, während die Unterstützung durch den Sozialstaat in vielen Bereichen abgenommen hat. Kritiker sagen daher: Wo eine starke Tafelbewegung existiert, scheint die Bekämpfung von Armut durch den Sozialstaat weniger dringlich zu sein.
Diese Kritik lässt sich angesichts des heimischen Sozialstaats nur begrenzt auf Österreich umlegen. Aber für Geschäftsführerin Alexandra Gruber geht es bei der Tafel nicht nur um diese eine Mahlzeit. Es kommen mehr Menschen in die sozialen Einrichtungen, wenn die Tafel an diesem Tag Lebensmittel ausliefert. „Satt können sich die Menschen auf die Beratungsangebote einlassen und konzentrieren. Die Nahrung dient so als Vehikel, um Wege aus der Armut aufzuzeigen.“
Es ist schon 9 Uhr. Am Großmarkt wird es ziemlich ruhig. Alexandra Gruber geht zu ihrem Auto, der nächste Stopp ist die Gänsbachergasse im 3. Wiener Gemeindebezirk. Hier befinden sich eine Winternotschlafstelle und ein Obdachlosenwohnheim des Fonds Soziales Wien (FSW). Mittlerweile ist der kleine Laster auch hier angekommen. Die beiden ehrenamtlichen Helfer haben einige Geschäfte abgeklappert und laden aus. In acht Zimmern übernachten hier im Winter 45 Männer ohne festen Wohnsitz, sie brauchen dazu eine Zuweisung der Sozialberatung. Untertags sind die Bewohner auf der Straße unterwegs, am Abend warten Mehlspeisen, Brot und frisches Gemüse auf sie.
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.