Schnee adé: Wintertourismus im Umbruch
Von Christina Hiptmayr und Marina Delcheva
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Ein bisschen erinnert es an ein in Bewegung geratenes Wimmelbild von Pieter Bruegel: jenes Video aus Ischgl, das vor einigen Tagen viral ging und über 25 Millionen Aufrufe und 520.000 Likes generierte. Darauf ist zu sehen, wie auf einer völlig überfüllten Piste zahlreiche Skifahrer und Snowboarderinnen versuchen, ins Tal zu kommen. Und wie in den Gemälden des flämischen Malers scheinen auch hier nicht alle Protagonisten ganz nüchtern zu sein.
So dicht gedrängt ist es freilich meist nur zur letzten Talabfahrt, wenn Lifte und Hütten schließen. Auf den insgesamt 239 Pistenkilometern ist Platz genug für Liebhaber des Einkehrschwungs. Dennoch: Über mangelnden Zuspruch kann sich der Tiroler Skihotspot offensichtlich nicht beklagen. Etwas, das er mit dem überwiegenden Teil der heimischen Skigebiete derzeit gemein hat.
Der Wintereinbruch pünktlich zum Adventbeginn sorgte für eine hervorragende Buchungslage; die Semesterferien starteten mit – zumindest in den höheren Lagen – ausreichend Schnee und strahlendem Sonnenschein. So euphorisch wie in der heurigen Saison waren Touristiker und Liftbetreiber schon lange nicht mehr. Doch über eines können all die Jubelmeldungen nicht hinwegtäuschen: Der Wintertourismus steht – nicht zuletzt wegen der Klimakrise – vor gravierenden Veränderungen. In den Ferienregionen zerbricht man sich längst die Köpfe über Alternativen, macht Investitionsentscheidungen von Schneedeckenprognosen abhängig und versucht sich neuerdings in Sachen Ganzjahrestourismus.
„Wir sehen im Sommertourismus sehr viel Potenzial für unsere Region. Die Entwicklung im Tourismus und der Trend hin zu mehr Sport in den Bergen bestärken uns dabei“, sagt Yannick Rumler, Sprecher des Tourismusverbandes von St. Anton am Arlberg. Dabei muss man sich in dem Skiort aufgrund seiner Höhenlage auf über 1300 Metern noch am wenigsten Sorgen machen – der Arlberg gilt als sehr schneesicher.
Allerdings: Die Auswirkungen des Klimawandels auf den Schnee und somit auch auf den Wintersport sind schon jetzt deutlich spürbar. Seit den 1960er-Jahren hat die Dauer der Schneedecke – über alle Flächen und Höhenlagen des Landes gemittelt – um 40 Tage abgenommen. Das haben die Forscher von Geosphere Austria (vormals Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik) anhand von Daten aus der Vergangenheit errechnet.
Ohne Kunstschnee kein Skitourismus
Auch die Zukunftsszenarien werden Wintersport-Enthusiasten eher weniger frohlocken lassen. Denn wenn sich die Welt dafür entscheidet, auf Klimaschutz zu verzichten, wird sich die Durchschnittstemperatur in Österreich bis zum Jahr 2100 um vier Grad Celsius erhöhen. In Lagen um 1000 Meter Seehöhe, also dort, wo sich die meisten Talstationen befinden, erwarten die Forscherinnen und Forscher einen Rückgang der Tage mit geschlossener Schneedecke um 70 Prozent. In Regionen von 1500 bis 2500 Metern über dem Meeresspiegel, also den Hauptgebieten für den Wintersport, könnten sie um ein Viertel abnehmen.
Aber auch wenn die Pariser Klimaziele eingehalten werden, wonach es derzeit so gar nicht aussieht, wird es künftig weniger Schnee geben: In den mittleren Lagen um circa 25 Prozent, in den höheren Lagen um rund zehn Prozent weniger. Dazu kommt: Ohne Kunstschnee ist Wintertourismus jetzt schon unvorstellbar. Aber auch die Beschneiung wird durch wärmere Winter immer stärker eingeschränkt.
„Früher genügte es, ein Hotel in einen Skiort zu stellen. Das war dann ein Selbstläufer“, sagt Martin Schaffer. Er ist Partner bei mrp hotels, einer spezialisierten Unternehmensberatung für Hotelbetreiber und Hotelimmobilienentwickler, und kennt die Kalkulationen, die derzeit angestellt werden. „Heute reicht es nicht mehr aus, nur von Dezember bis März geöffnet zu haben, das rentiert sich nicht.“ Damit sich eine Investition aus Betreibersicht lohne, müsse man einen Betrieb mindestens sechs bis neun Monate geöffnet halten und genügend Nächtigungen verbuchen können. Und dafür sei eine Wintersaison einfach zu kurz, meint der Experte. Zumal diese auch immer kürzer werde: „Die Winter-Openings finden in den meisten Skigebieten immer später statt. Vielerorts zieht das Geschäft erst um Weihnachten so richtig an, gleichzeitig wird das Jännerloch bis zu den Semesterferien immer größer, und Mitte März ist die Saison dann oft schon wieder vorbei“, erklärt Schaffer. Und so schwingen der Klimawandel und die Prognosen zur Schneelage für die nächsten 20 bis 30 Jahre bei jeder Investitionsentscheidung in jedem alpinen Tourismusort mit.
„Noch investieren so gut wie alle in künstliche Beschneiung. Vor allem auch jene Skigebiete, die nicht so hoch liegen. Sonst wäre man gar nicht mehr wettbewerbsfähig. Es wird versucht, das Geschäft so lange zu betreiben wie irgendwie möglich“, sagt WIFO-Ökonom Oliver Fritz. Schließlich ist der Umsatz in der Wintersaison deutlich höher. Laut Tourismus-Monitor Austria (T-MONA) geben Urlauber im Winter pro Kopf und Tag 205 Euro aus, im Sommer sind es durchschnittlich 163 Euro.
Für uns ist eine nachhaltige Entwicklung von großer Bedeutung. Sowohl touristisch, wirtschaftlich als auch sozial und ökologisch.
Und nicht alle haben neben einem prominenten Werbeträger wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen so vorteilhafte geografische Voraussetzungen wie die Kaunertaler. Dort ist der Tourismus vergleichsweise spät eingezogen; nämlich erst Ende der 1970er-Jahre, als der Gletscher für den Sommerskilauf erschlossen wurde. Mit Stemmbogen und Parallelschwung in der warmen Jahreszeit ist es seit der Jahrtausendwende vorbei. „In Zeiten des Klimawandels geht das nicht mehr, gerade junge Sportler sind da sehr sensibel“, sagt Dietmar Walser, Geschäftsführer der Erlebnisregion Kaunertal. Doch der Gletscher sorgt dafür, dass die Saisonen hier deutlich länger dauern als anderswo und auch in den Nebensaisonen mit bis zu
60 Prozent eine mehr als akzeptable Auslastung erreicht werden kann. „Im Frühjahr und Herbst haben wir Trainingsgruppen aus dem In- und Ausland zu Gast, die am Gletscher ideale Bedingungen vorfinden“, sagt Walser. Auf Halligalli als Verkaufsargument setzt man hier ohnehin nicht. „Für uns ist eine nachhaltige Entwicklung von großer Bedeutung. Sowohl touristisch, wirtschaftlich als auch sozial und ökologisch. Wir wollen kein Tal sein, das in den Zwischensaisonen leer gefegt ist“, sagt Walser. Und so positioniert sich die Region bewusst auch als Gegenentwurf zu den Skihochburgen wie Ischgl oder Sölden und als Nische für eine natur- und sportaffine Zielgruppe.
Mit einem BIP-Anteil von über sechs Prozent hat der Tourismus große volkswirtschaftliche Bedeutung. Doch wenn der Schnee künftig ausbleibt, könnte er diese einbüßen: „Ich habe große Zweifel, dass wir den Massentourismus mit rund 60 bis 70 Millionen Nächtigungen im Winter in Zukunft halten werden können“, sagt WIFO-Experte Fritz. Denn das Hauptmotiv der ausländischen Gäste für einen Winterurlaub in Österreich sei das Skifahren und das Winterfeeling, wie man aus den Umfragen wisse. Tatsächlich stammen über 70 Prozent aller Gäste im Winter aus dem Ausland, sie haben für den enormen Boom der vergangenen Jahre gesorgt. „Da kann man noch so tolle Wellness-Hotels hinstellen, aber so etwas finden die Touristen in ihren Heimatländern auch vor. Für einen schönen Spa-Bereich wird wohl niemand die lange Anreise antreten“, so der Ökonom.
Ganzjahrestourismus im Zieleinlauf
Also ist Diversifizierung angesagt. Immer mehr Wintersportregionen haben erkannt, dass sie auch in der warmen Jahreszeit für Gäste attraktiv sein müssen, wenn sie künftig ihr Auskommen finden wollen.
Auch die Betreiberstruktur beginnt sich langsam zu diversifizieren. Früher war praktisch jedes Winter- oder Skihotel ein Familienbetrieb. Das ist heute zum Großteil zwar immer noch so, aber immer öfter werden diese Familienbetriebe von großen Hotelketten gekauft und weiterentwickelt. Das passiert vor allem dann, wenn die Betreiber keine Erben haben oder diese schlicht keine Lust haben, ein Hotel zu führen.
Ein solches Objekt, nämlich das Top-Hotel Hochgurgl nahe Sölden, wurde im Sommer 2022 von der 12.18. Group aus Dresden übernommen. Das Unternehmen betreibt und entwickelt Hotels in Deutschland und Österreich – insgesamt 50 Häuser hat es derzeit im Portfolio. „Eines unserer wichtigsten Kaufkriterien ist, dass wir die Hotels ganzjährig betreiben können“, sagt 12.18.-Geschäftsführer Adrian Lindner. Das Top-Hotel bilde zwar eine Ausnahme von dieser Regel, weil auf einer Seehöhe von 2200 Metern die Schneelage trotz Klimakrise noch einige Jahre lang eine gute sein werde. Allerdings würde man dennoch sehr genau darauf achten, Auslastung und Angebote auf einen ganzjährigen Tourismus auszurichten.
Wie etwa auch in St. Anton am Arlberg. „Wir setzen im Sommer auf einen sanften und nachhaltigen Tourismus und stellen neben der Natur den Sport in den Mittelpunkt“, sagt der Sprecher des Tourismusverbandes Yannick Rumler. An Konzepten werde derzeit intensiv gearbeitet. Einen Schwerpunkt habe man bereits mit dem „E-Bike & Hike“-Angebot gesetzt, wo Gäste mit elektrischen Rädern in die Hochtäler fahren und von dort weiterwandern können. Dafür wurde eine umfangreiche Ladestationen-Infrastruktur, auch auf den Berghütten, geschaffen. „Wir bewerben den Sommer in unseren Hauptzielmärkten Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien und können ein jährliches Wachstum verzeichnen“, erzählt Rumler. Aktuell werden etwas mehr als 20 Prozent der Nächtigungen in den Sommermonaten generiert.
Am Stockerlplatz
Der Sommer biete eine große Chance, meint auch Oliver Fritz. In dieser Jahreszeit würden die Bergregionen sogar vom Klimawandel profitieren. „In Spanien oder Italien bei über 40 Grad im Schatten ist es im Juli und August dann vermutlich nicht mehr so interessant. Da wird es die Urlauber verstärkt in die kühlen Bergwelten ziehen“, sagt der WIFO-Tourismusexperte.
In Seefeld in Tirol geht es schon sehr stark in diese Richtung. Wiewohl international vor allem als Winterdestination wahrgenommen – die Region war drei Mal Austragungsort der Olympischen Spiele –, hat der Sommer- den Wintertourismus bereits 2015 überholt. Heute werden 54 Prozent des Geschäfts in der warmen Jahreszeit gemacht. „Die Verantwortlichen haben hier immer geschaut, dass sie bei neuen Entwicklungen vorn dabei sind, und passende Aktivitäten angeboten“, sagt Elias Walser, Geschäftsführer des Tourismusverbandes. So wurde etwa Ende der 1960er-Jahre ein 18-Loch-Golfplatz eröffnet. „Das war eine Sensation, bis dahin gab es so etwas nur in Wien.“ Als man in den 1970er-Jahren begann, breite, bequeme Wanderwege anzulegen, waren die Einheimischen zunächst skeptisch: „Was hier sehr innovativ unter ‚Genusswandern‘ vermarktet wurde, ist für einen Tiroler ein etwas längerer Spaziergang. Aber richtige Bergtouren sind halt nichts für die breite Masse. Und das Konzept funktioniert bis heute“, so Walser.
Die Alpenregionen sind also gleichzeitig Verlierer und Gewinner der Erderhitzung. „Wir befinden uns in einer Transformationsphase“, sagt Tourismus-Staatssekretärin Susanne Kraus-Winkler (ÖVP) im profil-Interview. „Es braucht Innovationen. Man muss Themen, die im gesellschaftlichen Trend oder Zeitgeist liegen, klug mit den traditionellen Angeboten kombinieren“, sagt die Politikerin.
So wie es unter anderen die Seefelder schon in der Vergangenheit vorgemacht haben. Dort will man sich aber auch mit zwei Saisonen schon jetzt nicht mehr begnügen. „Wir machen aktuell die nächsten Schritte zur Ganzjahresdestination“, sagt Elias Walser.
Christina Hiptmayr
war bis Oktober 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.
Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".