Im Giro-Konto der Republik: Wie die Bundesfinanzierungsagentur täglich um Milliarden kämpft
Von Marina Delcheva
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Markus Stix ist ein entspannter Mensch. Fast schon zu entspannt dafür, dass er den Schuldenberg einer ganzen Nation am Hals hat. Stix ist Geschäftsführer der Österreichischen Bundesfinanzierungsagentur (ÖBFA), die ihren Firmensitz in der Seilerstätte 24 in der Wiener Innenstadt hat. Die Eingangstür des Gründerzeithauses ist goldumrandet. Auf einem Schild steht „Bundesschatz“.
299.251.822.256,79 Euro. So hoch auf den Cent genau war der Schuldenstand des Bundes am 31. Jänner 2024. Rechnet man noch die Schulden der Länder, Gemeinden und Gesundheitskassen hinzu, stehen die Bürgerinnen und Bürger des Landes für die öffentliche Hand mit rund 400 Milliarden Euro in der Kreide. Das sind 43.000 Euro pro Person.
„Die Schulden sind in den letzten Jahren noch mal deutlich gestiegen, seit 2020 sogar so viel wie in den 20 Jahren zuvor zusammen. Ich kann mich erinnern, dass zu Schillingzeiten einmal ein älterer Herr gekommen ist – nachdem in den Medien berichtet wurde, dass jeder Österreicher 75.000 Schilling Schulden hat – und uns das Geld geben wollte. Er meinte, er habe noch nie Schulden gehabt, und wir sollen das Geld doch bitte nehmen und ihn von seiner Schuldenlast befreien“, erzählt Stix. Der Mann musste mit seinen 75.000 Schilling wieder nach Hause gehen. So einfach wird man Staatsschulden leider nicht los.
Werben um Geldgeber
Ortswechsel ins Wiener Nobelhotel Hilton: Österreich ist auf Imagetour. Hier findet gerade die „Euromoney Conference – Invisso“ statt. Österreich ist Gastgeber, und im Fokus stehen diesmal die zentral- und osteuropäischen Länder. In den Gängen und Seminarsälen des Hilton tummeln sich an diesen zwei Tagen Schatzmeister und Geldgeber – institutionelle wie private – aus rund 45 Ländern. Notenbanker, Finanzminister, Schuldenmanager und Geschäftsführer staatlicher Institutionen, Investmentbanker, Fondsmanager und sogar ein paar Firmenbosse.
Auf dem Podium geht es gerade um die Frage, wie sich souveräne Staaten in herausfordernden Zeiten finanzieren sollen. Welche Anleihenlaufzeit die beste ist? Es kommt darauf an, eine längere Laufzeit vermittelt zwar Sicherheit und Stabilität, hat dafür aber andere Nachteile. Ob man eigene Staatsbürger und private Haushalte zu Geldgebern der Republik machen soll? Unbedingt! Zumindest, wenn es nach den Vertretern diverser Finanzministerien und staatliche Finanzierungsagenturen geht. Das schaffe Vertrauen und Bindung. Dann ist man Schuldner und Gläubiger zugleich. Und es geht um die Frage, wie man das Vertrauen der Geldgeber in den eigenen Staat stärkt.
Souveräne Staaten brauchen täglich Millionen- und Milliardenbeträge, um sich zu refinanzieren, um Pensionen und Gehälter zu bezahlen, um Infrastruktur auszubauen, um die Bevölkerung mit medizinischen Leistungen zu versorgen. Nach zwei Jahren Pandemie, zwei weiteren Jahren Krieg in der Ukraine und der schlimmsten Energiekrise in Europa seit den Ölpreis-Schocks in den 1970er-Jahren sind die Staatskassen ausgeblutet und die Budgets aller europäischen Länder massiv unter Druck.
Mindestens genauso wichtig wie das, was auf den zahlreichen hoch-karätig besetzten Podien diskutiert wird, ist das, was in den Gängen, bei den Kaffeepausen, beim Mittagessen oder bei den Abendempfängen besprochen wird. Denn neben Würdenträgern der zentral- und osteuropäischen Länder sind auch private Geldgeber angereist. Vertreter der US-Investmentbanken Goldman Sachs und JP Morgan sind hier, ebenso die Unternehmensberater von Ernst & Young oder eine ganze Delegation der Europäischen Investitionsbank. Allesamt bedeutende und gewichtige Geldgeber von Staaten. Welchen Eindruck die Damen und Herren in den schwarzen Anzügen und den Manufaktur-Echtleder-Aktentaschen von einem Staat bekommen, entscheidet auch darüber, zu welchen Konditionen und zu welchen Zinssätzen sich dieser kurz- oder langfristig Geld ausborgen kann. 0,1 Prozentpunkte auf oder ab schlagen sich schon mal in Millionenhöhe im Budget nieder.
Schuldenmanager der Nation
„Wir rittern mit allen anderen Staaten um Investoren. Wir müssen die Geldgeber davon überzeugen, dass sie bei uns und nicht etwa in Finnland, Holland oder Deutschland ihr Geld anlegen.“ Markus Stix ist Geschäftsführer der Bundesfinanzierungsagentur (ÖBFA). Er und sein 40-köpfiges Team haben die Schulden einer ganzen Nation am Hals.
Stix ist seit 2015 Geschäftsführer der ÖBFA. Seit 32 Jahren, also seit der Gründung 1993, arbeitet er hier. Allein heute sind 652,898 Millionen Euro zur Auszahlung fällig. Am 20. Jänner brauchen Herr Stix und seine Kollegen zum Beispiel ausreichend Liquidität für Auszahlungen von 4.894 Millionen Euro – für Zins- und Tilgungszahlungen für die monatliche Finanzausgleichszahlung, die an Länder und Gemeinden weitergegeben werden und mehr.
Auf einen Schlag fällig
Exakt 1003 Konten besitzt der Bund – drei bei der Notenbank und 1000 bei der BAWAG. Dass die Geldgebarung der Republik ausgerechnet über eine Bank in mehrheitlichem Besitz zweier ausländischer Investmentfonds – Cerberus und Golden Tree Asset – läuft, ist auf den ersten Blick ungewöhnlich. Und auf den zweiten? Es war halt immer schon so. Die BAWAG war früher die Gewerkschaftsbank für Arbeit und Wirtschaft und ganz früher die Postsparkasse. Seit über 100 Jahren führt sie die Konten der Republik. Die Bank hat zwar ihre Besitzer gewechselt, ihre beste Kundin aber nicht.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ÖBFA müssen täglich sicherstellen, dass alle diese Konten ausreichend gefüllt sind und dass alle fälligen Zahlungen pünktlich rausgehen. Wenn ein Staat eine fällige gewordene Anleihe nämlich nicht zurückzahlen kann, ist er technisch gesehen „default“, also pleite. Derzeit sind 20 internationale Banken als Primärhändler von österreichischen Staatsanleihen gelistet – von der US-Bank Goldman Sachs bis zur heimischen Volksbank.
"Es wird schon manchmal stressig, aber am Ende des Tages ist es sich noch immer gut ausgegangen“, erzählt der Geschäftsführer. Im Gegensatz zu Privatpersonen oder Unternehmen darf der Staat sein Konto nämlich nicht überziehen. Und die Schulden werden nicht in Raten bezahlt wie bei einem Häuslbauer-Kredit. Der Staat begibt Staatsanleihen, also Schuldscheine mit einer gewissen Laufzeit. Wenn diese vorüber ist, ist die gesamte Summe auf dem Schuldschein fällig – auf einen Schlag. Und dann muss genug Geld auf dem Konto sein.
Und wenn nicht genug da ist? „Dann müssen wir uns neues Geld ausborgen. Manchmal auch nur für 24 Stunden“, erklärt Stix. Und das läuft dann ein bisschen wie auf einem virtuellen Bazar ab. Über ein internes System wird ausgeschickt: Die Republik braucht heute 500 Millionen Euro, gerne auch gestückelt in 100-Millionen-Tranchen. Wer bietet die besten Konditionen? Die Banken buchen dann ihre Angebote ein, und die Mitarbeiter der ÖBFA wählen das beste Overnight-Geschäft aus. „Manchmal ist die Sache in 15 Minuten erledigt.“
500 Millionen Euro in 15 Minuten. Am nächsten Tag geht das Geld wieder retour an die Geldgeber – samt Zinsen. Derzeit liegt der Zinssatz für solche Geschäfte bei um die 2,9 Prozent (per anno). Wer der Republik über Nacht eine halbe Milliarde Euro borgt, bekommt in 24 Stunden also 40.000 Euro an Zinsen.
Situationen wie diese gehören zum Tagesgeschäft. So richtig stressig war es eigentlich nur ein Mal, am Montag, dem 15. September 2008. Die US-Investmentbank Lehman Brothers meldete völlig überraschend Konkurs an und läutete die globale Finanzkrise ein. Lehman Brothers war zu diesem Zeitpunkt eine Primärhändlerin von österreichischen Staatsanleihen. Von heute auf morgen war der Finanzmarkt wie gelähmt. Banken hörten auf, einander Geld zu borgen, zahlreiche Finanzinstitute gerieten in Schieflage. Österreich musste binnen Tagen ein Milliarden Euro schweres Rettungspaket für die heimischen Banken schnüren – und das Geld dafür auftreiben. „Den Tag werde ich vermutlich nie vergessen“, meint Geschäftsführer Stix.
40 Mitarbeiter hat die ÖBFA aktuell. 40 Personen für 299.251.822.256,79 Euro Schulden. Den Staat nicht durch reine Unachtsamkeit in den Ruin zu treiben, ist an sich herausfordernd. In den vergangenen vier Jahren ist der Stresspegel am Arbeitsplatz aber gestiegen. 2024 sind unsere Schulden noch mal um 16 Milliarden Euro gegenüber dem Jahr davor gestiegen. Laut dem Fälligkeitsprofil für Finanzschulden und der vom Parlament beschlossenen Neuverschuldung, waren im Jahr 2024 mehr als 75 Milliarden Euro zu (re-)finanzieren. „Hier beginnen wir die Liquiditätsplanung zu erstellen, um sämtliche Zahlungen des Bundes fristgerecht abwickeln zu können“, meint Stix.
Immerwährende Staatsanleihe
Das ist die älteste, noch bekannte Staatsanleihe Österreichs. Sie stammt aus dem Jahr 1868. Im Gegensatz zu den heutigen Staatsanleihen gilt dieser Schuldschein auf immer und ewig. Wer also eine k.u.k-Anleihe auf dem Dachboden findet, kann sie bei der ÖBFA zu Geld machen. Für die hundert Gulden von damals bekommt heute aber nur noch ein paar Cent.
Die Staatsschulden betragen aktuell 79,7 Prozent der Wirtschaftsleistung – Tendenz steigend. Der Fiskalrat rechnet für das Jahr 2024 mit einem Budgetdefizit, also mit einer Neuverschuldung gemessen an der Wirtschaftsleistung (BIP), von 3,9 Prozent, das heuer auf 4,1 steigen könnte. Also deutlich über der von der EU vorgegeben Maastricht-Grenze von drei Prozent. Der Konsolidierungsbedarf ist massiv, und allein heuer will die neue Regierung 6,4 Milliarden Euro einsparen, um auf einen halbwegs gesunden Budgetpfad zurückzufinden.
Die „Koste es, was es wolle“-Politik, die der ehemalige ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel 2020 zu Beginn der Pandemie ausgerufen hat, läuft über die 1003 Konten der Republik. Corona, der Krieg in der Ukraine, die Energiepreisschocks samt Anti-Teuerungspakete haben den Konten der Republik massiv zugesetzt. Außerdem wurde die Geldbeschaffung teurer, weil die Zinsen gestiegen sind. 5,1 Milliarden Euro musste die ÖBFA nur an Zinsen im Vorjahr überweisen. „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Politik zu beurteilen, unsere Aufgabe ist es, das Geld für den Staatshaushalt bereitzustellen“, sagt Stix trocken.
18.000 Waggons voll Geld
Das Portfolio der Republik ist konservativ. 85 Prozent der Investoren kommen aus der EU, wobei der Anteil der Anleihezeichner aus dem Mittleren Osten zuletzt leicht gestiegen ist. Zwei Drittel der Anleihegläubiger sind Banken und internationale Vermögensverwalter. Ungefähr ein Fünftel entfällt auf andere Notenbanken und staatliche Institutionen (siehe Grafik).
Drei Milliarden Euro hat sich der Bund über den sogenannten Bundesschatz von seinen eigenen Bürgern ausgeborgt. 90.000 Privatkonten wurden dafür bisher eröffnet. Seit einiger Zeit interessieren sich auch immer öfter private Großunternehmen für Staatsanleihen. Die Rendite für eine 30-jährige Bundesanleihe liegt derzeit bei 3,15 Prozent.
1993 hat der Bund unter dem damaligen Finanzminister Ferdinand Lacina (SPÖ) sein Staatsschuldenmanagement ausgelagert und die ÖBFA als ausgelagerte GmbH des Bundes geschaffen. Sie ist dem Finanzministerium unterstellt und weisungsgebunden. 2017 hat Österreich sogar als allererstes Land der Welt eine 100-jährige Staatsanleihe platziert. Eine durchaus optimistische Wette auf den Lauf der Geschichte, die man vermutlich heute so nicht machen würde.
Bis 2019 wickelte die Finanzierungsagentur des Bundes um die 400 Geschäfte jährlich ab. Im Vorjahr waren es dann schon 3000. 3000 Mal wurde Geld ausgeborgt, wurden Anleiheschulden getilgt, kurzfristige Über-Nacht-Finanzierungen aufgenommen und zurückbezahlt, Steuern überwiesen.
8000 Milliarden Euro wurden seit 1993 hier gemanagt. Das ist ein Güterzug mit 18.000 Waggons, der vollbeladen ist mit 10-Euro-Scheinen. Einmal die Strecke von Linz nach Wien – 180 Kilometer Schulden. „Covid ist vorbei, aber die Schulden sind uns geblieben“, sagt Stix. Und um diese zu begleichen, muss sich Österreich bei seinen Investoren richtig ins Zeug legen. „Wir rittern mit allen anderen Staaten um Investoren. Wir müssen die Geldgeber davon überzeugen, dass sie bei uns und nicht etwa in Finnland, Holland oder Deutschland ihr Geld anlegen.“
Ausblick negativ
Vertrauen und Reputation sind in diesen Kreisen eine sehr harte Währung. Vertrauen, dass es mit dem Land nicht dramatisch bergab geht und dass der Staat seine Schulden weiterhin bezahlen kann. Und die Reputation, dass Österreich ein gutes, sicheres, finanziell solide aufgestelltes Land ist. Die großen Rating-Agenturen geben Österreich aktuell die Note AA+, was nur ein kleines bisschen schlechter ist als die Bestnote AAA, jenem „Triple-A“, bei dem einem die Investorengelder zu sehr günstigen Konditionen nur so zufliegen.
Ende vergangener Woche hat aber die internationale Rating-Agentur Fitch ihren Ausblick für Österreichs Bonität auf „negativ“ gesenkt. Die schlechte Wirtschaftslage, das hohe Budgetdefizit, die geplatzten Regierungsverhandlungen und die Ungewissheit, wie es in Österreich politisch und wirtschaftlich weitergeht, werfen derzeit kein gutes Licht auf die wirtschaftliche Potenz der Republik. Und darüber spricht man auch hier, bei der Invissa-Konferenz im Hilton.
Trotzdem gehört das Land noch zu den am besten bewerteten Ländern weltweit. Und mit seinem Schuldenberg ist es zumindest unter den westlichen Ländern nicht allein. Zum Vergleich: Frankreich hat eine Staatsschuldenquote von 113 Prozent und hat 2024 ein Budgetdefizit in der Höhe von sechs Prozent seines BIP angehäuft. Die USA sind mit 124 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung überschuldet. Allesamt Staaten, die sich noch immer ohne Probleme am internationalen Finanzmarkt refinanzieren können.
„Faktum ist, dass alle Staaten mit steigenden Staatsschulden kämpfen."
„Faktum ist, dass alle Staaten mit steigenden Staatsschulden kämpfen. Die 60 Prozent (EU-Maastricht-Obergrenze für die Gesamtverschuldung gemessen am BIP, Anm.) sehen wir derzeit als theoretische Übung beziehungsweise als Maßzahl“, sagt Fritz Mostböck, Chefanalyst der Erste Group. Und auch Rating-Agenturen treffen in ihren Analysen nicht immer die richtigen Annahmen. Aber: „Eine jährliche Neuverschuldung von drei Prozent zum BIP ist schon ein realistischeres und tatsächlich für viele Länder machbares Kriterium. Den Regierungen allgemein wird nichts anderes übrig bleiben, als zu sparen.“
Richtig leicht tat sich Österreich beim Sparen ehrlicherweise noch nie. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nur zwei Mal einen Budgetüberschuss. Das war 2018 und 2019. Danach wurde die Welt eine andere.
Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".