Schuldenschnitt für Griechenland: Die Geschichte eines Streitthemas
(Anmerkung: Dieser Artikel erschien erstmals im August 2015 in der profil-Printausgabe 32/2015)
Alexis Tsipras ist eigentlich nicht in der Position, noch etwas zu verlangen. Mitte Juli erzwangen die Gläubigerstaaten vom griechischen Premier ein Abkommen, das allen Positionen seiner linksgeführten Regierung in Athen radikal entgegensteht. Nur von einer Forderung will Tsipras bis heute nicht abrücken. Vielleicht ist es seine größte.Der Schuldenschnitt für Griechenland war stets eines der wichtigen Ziele der Syriza-Regierung. Im Abkommen vom Juli erklärten sich die Gläubiger nur vage bereit, ihn zu „erwägen“. Doch die Maßnahme sei nicht vom Tisch, sagte Tsipras vergangene Woche im Radio. Im heurigen November werde es schon noch zum Schuldenschnitt kommen.
Tsipras ist in dieser Frage zuversichtlich, denn er weiß mächtige Verbündete an seiner Seite. So fordert etwa auch der Internationale Währungsfonds (IWF), einer der Gläubiger des hochverschuldeten Griechenland, den Schuldenschnitt. Wiewohl weltanschaulich sonst gar nicht auf Linie mit Tsipras, nennt der IWF die Höhe der griechischen Staatsschulden „hochgradig unnachhaltig“. Dazu halten viele Ökonomen den Schnitt für unumgänglich. Genauso wie etliche EU-Regierungschefs. Nur einer ist strikt dagegen: Deutschlands konservativer Finanzminister Wolfgang Schäuble.
Woher kommt diese merkwürdige Konstellation für und wider den Schuldenschnitt? Braucht ihn Griechenland wirklich? Und was ist das überhaupt, ein Schuldenschnitt?
In seiner Reinform würde ein Teil der griechischen Staatsschulden von derzeit mehr als 300 Milliarden Euro einfach gestrichen. Die Gläubiger – hauptsächlich die Eurostaaten – müssten dann auf ihr Geld verzichten. Es gibt aber auch moderatere Varianten: Man könnte zum Beispiel Griechenland mehr Zeit einräumen, um seine Kredite zurückzuzahlen. Oder man reduziert die Zinsen auf diese Kredite. Auch in diesen Fällen müssten die Gläubiger auf einiges Geld verzichten, der Schuldner Griechenland wäre mehr oder weniger entlastet.
Wer die Argument für und gegen einen Schuldenschnitt verstehen will, muss jedenfalls die Bedeutung einer Zahl kennen: der Staatsschuldenquote. Das ist das Verhältnis der Schulden zur jährlichen Wirtschaftsleistung, also zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Griechenlands Staatsschuldenquote liegt derzeit bei 177 Prozent des BIP. Und sie wird weiter steigen, auf fast 200 Prozent, warnt der IWF. Die Staatsschulden würden dann also der Wirtschaftsleistung von zwei Jahren entsprechen. Schon heute sind sie in keinem Industrieland außer Japan so hoch wie in Griechenland.
Ein stark verschuldetes Land droht – ähnlich einer stark verschuldeten Privatperson – leicht in eine Schuldenspirale zu geraten.
Dieser steile Anstieg kommt nicht etwa daher, dass Griechenland derart viel Geld ausgibt. Im Gegenteil, auf Geheiß seiner Gläubiger spart Athen seit Jahren so eisern wie kaum ein Land in Europa. Allerdings sinkt zugleich das BIP extrem, ungefähr um ein Viertel seit Krisenbeginn 2009. Dementsprechend erhöhen sich die Staatsschulden, weil man sie ja in Relation zum BIP misst. Nun gibt es beim IWF einen wichtigen Grundsatz: Die Staatsschuldenquote eines Landes darf nicht mehr als 120 Prozent betragen. Alles darüber sei, so die Diktion des Währungsfonds, „nicht tragfähig“. So wie Griechenlands Schulden von 177 Prozent.
Die Logik dahinter: Ein stark verschuldetes Land droht – ähnlich einer stark verschuldeten Privatperson – leicht in eine Schuldenspirale zu geraten. Es muss immer höhere Zinsen auf seine Kredite bezahlen. Ein Teufelskreis in Richtung Pleite kommt in Gang. Eben deshalb fordern der IWF und andere Befürworter den Schuldenschnitt. Zu Recht?
Nein, sagen Schäuble und die Gegner. Denn Griechenlands Staatsschulden könne man nicht ohne Weiteres mit denen anderer Länder vergleichen.
Wer dieses Argument verstehen will, muss zurück ins Jahr 2012. Damals gab es für Griechenland schon einmal einen Schuldenschnitt. Die privaten Gläubiger des Landes – vor allem Banken – mussten auf rund die Hälfte ihres Geldes verzichten. Dafür übernahmen öffentliche Einrichtungen von ihnen die griechischen Staatsschulden. Die größten Gläubiger Griechenlands sind seither die Staaten der Eurozone, der IWF und die Europäische Zentralbank.Diese neuen Gläubiger wollen eine Pleite Griechenlands verhindern, damit der Euro nicht in Gefahr gerät. Also gewährten sie dem Land – im Gegenzug für harte Sparmaßnahmen – Notkredite zu äußerst günstigen Konditionen. Die Laufzeiten vieler dieser Kredite sind lang, durchschnittlich 31 Jahre. Die Verzinsung ist meist günstig.
Griechenland erstickt also ganz und gar nicht an hohen Schulden. Es bräuchte, streng genommen, keinen Schuldenschnitt.
Die Folge: Trotz extremer Verschuldung Griechenlands kommen die Schulden das Land vergleichsweise billig. Pro Jahr muss Athen lediglich etwas mehr als vier Prozent seines BIPs an Zinsen bezahlen. Das entspricht ungefähr dem Durchschnitt im Süden von Europa. Italien und Portugal etwa zahlen sogar geringfügig mehr, obwohl deren wirtschaftliche Situation viel besser ist.
Griechenland erstickt also ganz und gar nicht an hohen Schulden. Es bräuchte, streng genommen, keinen Schuldenschnitt. Zumindest nicht, solange das Land weiterhin von den Eurostaaten mit günstigen Notkrediten versorgt wird. Das Problem beginnt erst, sobald Griechenland aus dem Rettungsmodus in den normalen zurückwechseln will. Also sobald es sich wieder Geld am normalen Markt leihen möchte, von Banken und anderen Anlegern, so wie unter Staaten üblich.
In diesem Fall würden die Zinsen sogleich in die Höhe schießen. Schließlich wird ein Kredit desto teurer, je höher das Risiko ist. Und Geld nach Griechenland zu verleihen, ist nach wie vor ein Hochrisikogeschäft. Die Verschuldung des Landes ist extrem, die Pleitegefahr virulent. An dieser Stelle kommen erneut die Befürworter des Schuldenschnitts zu Wort. Sie fordern, dass Griechenland möglichst bald wieder an den Markt zurückkehren soll. Also eben das, was derzeit wegen der schlechten Konditionen undenkbar ist. Deshalb, so die Befürworter, brauche es den Schuldenschnitt.
Gibt es keinen Schuldenschnitt. Dann hängt Griechenland wahrscheinlich noch Jahrzehnte am Tropf der Euro-Staaten.
Hätte Griechenland infolge des Schnitts niedrigere Staatsschulden, wäre die Pleitegefahr viel geringer – und das Land in den Augen der Investoren wieder vertrauens- und kreditwürdig. Athen könnte sich wieder am freien Markt finanzieren. Die bisherige Unterstützung durch die Gläubigerstaaten wäre nicht mehr notwendig. Zugleich wäre Griechenland auch gezwungen, mit dem geborgten Geld sorgsam umzugehen. Andernfalls nämlich würden Kredite an Athen wieder riskanter für Anleger – die Kosten für das geborgte Geld würden steigen.
Alternatives Szenario: Es gibt keinen Schuldenschnitt. Dann hängt Griechenland wahrscheinlich noch Jahrzehnte am Tropf der Euro-Staaten. Es wäre, so wie derzeit, in einer Art Schuldknechtschaft gefangen. Zwar kann sich Athen die günstigen Notkredite der Eurozone grundsätzlich leisten. Doch aufgrund seiner hohen Staatsschuldenquote hat es keine Chance, in absehbarer Zeit an den Markt zurückzukehren. Und alle paar Jahre bricht neuerlich der Streit darüber aus, welche radikalen Sparmaßnahmen Griechenland setzen muss, damit die Gläubiger weiteren Notkrediten zustimmen.
602 Euro würde es durchschnittlich jeden Europäer kosten, die griechische Schuldenlast bei den Eurostaaten komplett zu streichen, hat Grégory Claeys ausgerechnet, Ökonom am Brüsseler Bruegel-Institut. Die Summe varriert je nach Wohlstand und Größe der einzelnen Staaten: So müsste jeder Luxemburger 1014 Euro zahlen, 75 jeder Ire, 685 jeder Deutsche, 680 jeder Österreicher. Dass die Deutschen eher viel berappen müssten, erklärt ein Stückweit ihren Widerstand gegen einen Schuldenschnitt. Mit der Summe von 602 Euro pro Europäer jedenfalls könnten Griechenlands Schulden von 177 auf null Prozent des BIP gedrückt werden.
Ein solch radikaler Schnitt gilt als extrem unwahrscheinlich, aber laut Claeys „muss man die griechischen Staatsschulden auf ein nachhaltiges Maß zurückbringen, etwa auf 60 Prozent“. Das wäre unter dem derzeitigen Niveau von Deutschland (75 Prozent) oder Österreich (85 Prozent).
Die Kosten für den Schuldenschnitt hingegen wären einmalig zu leisten.
Ein solcher Schnitt auf 60 Prozent wäre „nicht insignifikant, aber absolut machbar“, sagt Claeys. „Man muss schließlich an die Alternative denken.“ Die wäre: jahrelang weitere Hilfskredite an das Land – wobei nicht klar ist, ob sie jemals wieder zurückkommen. Falls Griechenland nämlich doch noch irgendwann in den Euro-Austritt schlittert, ist das gesamte Geld wohl weg. Die Kosten für den Schuldenschnitt hingegen wären einmalig zu leisten.
Derzeit verhandeln die Griechen und Gläubiger noch nicht über den Schuldenschnitt. Zuvor will man noch die Details des Sparprogramms klären, das Athen umsetzen muss. In der Vereinbarung von Mitte Juli wurden nur dessen grobe Leitlinien festgelegt. Erst wenn diese Verhandlungen beendet sind, ab Herbst, soll es um den Schuldenschnitt gehen.
Aller Voraussicht nach wird man sich danach auf einen moderaten Schnitt einigen. Denn es gilt einen Ausgleich zwischen zwei Gläubigerfraktionen zu finden. Auf der einen Seite steht der IWF, der auf einen Schuldenschnitt besteht. Auf der anderen stehen viele Griechenland-Hardliner im mächtigen Deutschland. Die dortigen Politiker und (Boulevard-)Medien lehnen den Schnitt ab, weil sie darin eine Belohnung für schlechtes Wirtschaften sehen.
Griechenland wird also wohl ab Herbst etwas geringere Zinsen auf seine Kredite zugestanden bekommen. Oder längere Laufzeiten. Die – ohnehin guten – Konditionen für die Notkredite an Athen werden noch ein bisschen besser. Dass sich Griechenland bald wieder über den Markt finanzieren kann, dafür jedoch werden diese Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichen. Die Schulden bleiben. Der Streit geht weiter.