Interview

Siemens-Chefin: „Ich will mich nicht durch die billigste Arbeitskraft differenzieren“

Patricia Neumann ist seit einigen Monaten Chefin von Siemens Österreich. Mit profil sprach sie über billige Konkurrenz aus China, wie sie den Standort benotet und was sie von Frauenquoten im Vorstand hält.

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Frau Neumann, wir haben alle ein wirtschaftlich schwieriges Jahr hinter uns. Müssen wir uns auf ein tristes Gespräch mit Klagen über Standort und Politik einstellen?
Neumann
Ich bin grundsätzlich Optimistin. Aber ja, wir haben ein paar Herausforderungen, die wir lösen müssen.
Die Krise im Vorjahr sieht man auch in Ihren Geschäftszahlen. Ihre Aufträge sind um ein Viertel eingebrochen. Wo lief es denn besonders schlecht?
Neumann
Hier ist es wichtig, den längeren Trend anzuschauen. In der Corona-Zeit waren die Auftragseingänge sehr hoch, höher als davor. Damals hatten wir weltweit Lieferengpässe, niemand wusste, wie es weitergehen wird. Deswegen haben viele Kunden ihre Bestellungen vorgezogen. Aktuell haben wir eine sehr gute Auftragslage im Bereich Infrastruktur, Gebäude, bei der Elektrifizierung und Digitalisierung. Eine Schwäche spüren wir bei den Aufträgen durch die Industriekunden. Das gilt übrigens nicht nur für Österreich, sondern für die gesamte Region. Längerfristig bin ich optimistisch, was unsere Aufträge angeht. Die Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Energieeffizienz in der Infrastruktur geben uns Rückenwind.
Die Themen spielen Ihnen in die Hände, aber wie steht es um den tatsächlichen Ausbau? Sie haben rund um Ihren Dienstantritt im Vorjahr mehr Tempo von der Politik gefordert.
Neumann
Das Tempo bei der Energiewende ist nicht so hoch, wie wir es uns wünschen würden. Es sind viele Stakeholder mit eigenen Interessen involviert. Die Themenkomplexität ist viel höher, weil wir noch nie so viele Möglichkeiten hatten, Energie zu produzieren. Man braucht viel mehr Fachwissen. Diese Verlangsamung im System können wir teilweise lösen, teilweise ist sie aber immanent, weil alles viel komplexer geworden ist. Ich habe als Teil der Lösung einen Energiewendekoordinator gefordert. Vielleicht kommt das ja mit der neuen Regierung, aber derzeit ist das alles noch ein Blick in die Glaskugel.
Reden wir über den Standort: Es gab zuletzt von vielen Industrieschaffenden Kritik an den Rahmenbedingungen. Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie gut finden Sie den Standort?
Neumann
Aus Siemens-Sicht würde ich sagen acht. Die Kosten sind ein Thema, vor allem die Energiekosten. Österreich ist energiearm, wir müssen importieren. Die Lohnkosten sind auch hoch. Bei der Ausbildung ist Österreich wiederum sehr gut, ebenso bei der Innovation. Wir forschen am Standort nicht allein, sondern im Verbund mit Fachhochschulen und Universitäten und unseren Kunden. Das funktioniert alles sehr gut. Nur bei den Kosten müssen wir aufpassen, dass wir im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleiben.

Wenn Energie und Lohnkosten teuer sind, wird das zum Wettbewerbsproblem. 

Patricia Neumann

zu den Kosten am Standort

Stichwort Lohnkosten. Die KV-Verhandlungen waren wegen der hohen Inflation heuer besonders hitzig, beide Seiten haben einander wenig geschenkt. Finden Sie die Abschlüsse angemessen?
Neumann
Unsere Siemens-Lohnabschlüsse haben ja schon im Frühling stattgefunden. Was mir an den jüngsten Abschlüssen gefällt, ist, dass es Variabilität gibt. Man ist ein Stück weit darauf eingegangen, was einzelne Unternehmen oder Arbeitgeber brauchen. Niedrigere Löhne sind zum Beispiel stärker gestiegen als hohe. Grundsätzlich muss das Leben in Österreich leistbar sein. Sonst stimmt auch meine Standort-Acht von vorhin nicht mehr. Wir müssen das abgelten, was die Menschen zum Leben brauchen. Es ist schwer, jedes Unternehmen über einen Kamm oder eine Zahl zu scheren. Dass jetzt Emotionen ins Spiel gekommen sind, ist nachvollziehbar, wir sind Menschen. Aber ich empfinde den Austausch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als grundsätzlich gut und konstruktiv.
Die Arbeitslosenzahlen in der Industrie sind gestiegen. Müssen Sie heuer Personal abbauen, oder werden Stellen nicht nachbesetzt?
Neumann
Momentan nicht. Wir besetzen auch jede Stelle nach, und wir suchen aktuell Personal. Jetzt sind wir aber wieder beim Standortthema. Wenn Energie und Lohnkosten teuer sind, wird das zum Wettbewerbsproblem. Wir als Siemens operieren grundsätzlich dort, wo unsere Kunden sind. Wenn unsere energieintensiven Kunden abwandern, wird es schwierig. Das muss man alles im Kontext sehen.
Die leicht gestiegene Arbeitslosigkeit hat den Fachkräftemangel nicht gelindert?
Neumann
Für jene Jobprofile, die wir konkret suchen, nicht. Für andere Unternehmen gibt es da oder dort wieder mehr Fachkräfte.
Pierer Mobility baut 300 Stellen ab und verlagert die Produktion nach Indien und China, weil die Kosten hier zu hoch seien. Sie sind vor einem Dreivierteljahr auch mit dem Versprechen angetreten, Siemens zu erneuern. Beinhaltet Ihr Antritt auch ein Bekenntnis zum Standort, was die Anzahl der Siemenswerke und Mitarbeiter in Österreich betrifft?
Neumann
Ich bekenne mich ganz klar zum Standort. Die zweite Frage ist aber, wie ich Standort und den Erfolg des Standorts definiere. Die Anzahl an Arbeitsplätzen ist sicher ein wichtiger Faktor. Was mir aber auch wichtig ist: Was tun wir hier, und wie innovativ sind wir? Leisten wir auch einen Beitrag für ein innovatives Europa durch innovative Themen, oder sind wir leicht zu ersetzen? Wie schaffen wir es, Europa zwischen den anderen großen Regionen wettbewerbsfähig zu halten? Wir brauchen die Menschen, eine gute Ausbildung, Ressourcen. Und wir brauchen vor allem wieder Themen, die uns von anderen unterscheiden. Wir haben die Voraussetzungen dafür. Künstliche Intelligenz für die Industrie zum Beispiel. Es geht darum, ein ganzes Datennetz für Maschinen über den Globus zu spannen, die 24/7 sicher und resilient sind. Das ist für mich etwas ganz Besonderes, und damit können wir uns auch vom Rest der Welt abheben. 
Wenn Sie vom Standort sprechen, sagen Sie Europa und nicht Österreich.
Neumann
Das ist mir gar nicht aufgefallen. Vielleicht kommt das von meiner Historie, ich war 28 Jahre lang bei einem US-amerikanischen Konzern (IBM, Anm.). Ich sehe Siemens als eine gesamteuropäische Firma, wir operieren auch von hier aus in vielen anderen europäischen Ländern und seit einem Jahr auch in Zentralasien. Den Standort Österreich gibt es nur im Kontext eines größeren Ganzen.
Alle europäischen Industriebetriebe konkurrieren in den angesprochenen Themen – KI, Energiewende, Digitalisierung – mit Mega-Werken aus den USA und vor allem aus China, das in einem Blitztempo digitaler und grüner wird. Haben wir das Rennen schon verloren?
Neumann
Wir sind mittendrin. Die wichtigste Frage ist: Was unterscheidet mich von einem chinesischen Anbieter? Ist es die Qualität meines Produkts? Unterscheiden wir uns in der ethischen Diskussion, die hier eine ganz andere ist? Wie recycelbar sind unsere Produkte, und wie gehen wir mit Transparenz um? Ich will mich nicht durch die billigste Arbeitskraft und die billigste Kilowattstunde differenzieren. Das ist keine nachhaltige Wettbewerbsstrategie.  
Auf alle diese Dinge, die Sie genannt haben, zielt das EU-Lieferkettengesetz ab. Das wurde jetzt aber bis auf Weiteres vertagt. Wie stehen Sie dazu?
Neumann
Das würde uns wie jede andere EU-Richtlinie auch treffen. Ich hatte bisher das Privileg, für große Konzerne arbeiten zu dürfen, die sich mit Regulierung leichter tun, weil sie die notwendigen Abteilungen und Menschen dafür haben. Gleichzeitig höre ich von den Interessensverbänden, dass sich kleinere Unternehmen mit mehr Regulierung schwerer tun. Prinzipiell ist Regulierung, um Risiken anzusprechen, nichts Schlechtes. Aber sie darf nicht zu komplex sein.
Neulich musste ÖBB-Chef Andreas Matthä in der „ZIB 2“ Buße tun, weil es zu zahlreichen Zugausfällungen und Verspätungen gekommen ist. Er hat das unter anderem mit Lieferverzögerungen gerechtfertigt. Siemens beliefert die ÖBB mit Garnituren. Was ist da passiert?
Neumann
Die Siemens Mobility GmbH beliefert als Schwestergesellschaft der Siemens AG die ÖBB. Ich kann hier dazu also nur so viel sagen: Siemens Mobility verhandelt mit den ÖBB, und man ist auf einem guten Weg, die Aufträge schnell abzuarbeiten. 
Siemens hat sich nach Kriegsbeginn aus Russland zurückgezogen. Wie treffen Sie die Sanktionen gegen Russland aktuell?
Neumann
Wir müssen sicherstellen, dass wir nichts tun, was sanktionsrechtlich nicht erlaubt ist. Das ist aufwendig. Siemens hat viele kleine Produkte, wir verkaufen sie in zahlreichen Ländern. Wir haben zum Beispiel Kasachstan im Länderverbund, das eine 4000 Kilometer lange Grenze zu Russland hat.
Sie sprechen den Weiterverkauf von eigentlich sanktionierten Waren nach Russland über Zwischenhändler in den Nachbarstaaten an.
Neumann
Wir können nicht absolut alles kontrollieren, aber unsere Kontrollmechanismen funktionieren derzeit, und mir sind auch keine Vorfälle bekannt. Wir überprüfen sehr genau, an wen wir unsere Produkte verkaufen und wer die Kunden unserer Kunden sind.
Sind Sie eigentlich für oder gegen Sanktionen?
Neumann
Ich bin persönlich dafür. Es ist notwendig, Stirn zu bieten für das, was seit zwei Jahren in der Ukraine passiert. Nichts zu tun, ist für mich keine Option.
Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".