Wie viel Krise können wir uns noch leisten?
In den vergangenen Tagen sorgten so einige Zahlen für Aufregung: Die Inflation, die im April laut Schnellschätzung der Statistik Austria auf 9,8 Prozent stieg, anstatt zu sinken. Die Europäische Zentralbank, die den Leitzins um 25 Basispunkte auf 3,75 Prozent erhöhte, um die Inflation zu bändigen. In der Debatte untergegangen sind 5,2 Milliarden Euro. Um so viel gab der Bund nämlich in den ersten drei Monaten des Jahres mehr aus, als er einnahm. Genau genommen verbuchte das Finanzministerium Einnahmen von 20,4 Milliarden Euro und Ausgaben in der Höhe von 25,7 Milliarden Euro. Für das Gesamtjahr rechnet Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) mit einer Kluft von 17,1 Milliarden Euro. Es ist nie gut, mehr Geld auszugeben, als man einnimmt. In Zeiten steigender Zinsen ist es aber besonders schlecht. Nach drei Jahren Pandemie, Krieg, Wirtschafts- und Inflationskrise leert sich die Staatskasse. Und so stellt sich die Frage: Wie viel Krise kann sich Österreich noch leisten?
Nicht mehr viel, lautet, etwas verkürzt, die Antwort heimischer Ökonomen. „Wir müssen jetzt wirklich aus diesem kurzfristigen Krisenmodus heraus und uns den großen Herausforderungen unserer Zeit widmen, um unseren Wohlstand überhaupt sichern zu können“, meint Margit Schratzenstaller, Budgetexpertin und Ökonomin am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Im Unterschied zur Zeit der Pandemie kann sich der Staat aufgrund der steigenden Zinsen auch nicht mehr so günstig verschulden.
Von 2022 bis Ende März dieses Jahres zahlte der Bund 6,6 Milliarden Euro an Anti-Teuerungsmaßnahmen aus. Dazu zählen zum Beispiel der Klima- und Antiteuerungs-Bonus, die Stromkostenbremse, Energiekostenzuschüsse für Haushalte oder Einmalzahlungen an Pensionistinnen und besonders vulnerable Gruppen. Im Laufe des Jahres kommen weitere Ausgaben in Milliardenhöhe hinzu. Etwa Energiekostenzuschüsse für energieintensive Industriebetriebe oder Transferzahlungen an die Länder für Wohn- und Heizkostenzuschüsse. Rechnet man alle Entlastungsmaßnahmen zusammen – also neben den direkten Auszahlungen auch die Abschaffung der kalten Progression und die Valorisierung der Sozialleistungen – so kommt der Brüsseler Think Tank Bruegel auf ein Volumen von 5,3 Prozent der heimischen Wirtschaftsleistung. Das sind gut 21,3 Milliarden Euro, die sich der Staat die Inflationskrise bisher kosten ließ. Dabei sind die zig Milliarden Euro schweren Ausgaben für die Folgen der Corona-Pandemie noch nicht verdaut.
Schratzenstaller nennt drei Gründe für das Zurückfahren von schnellen, aber kostspieligen Krisenhilfen: Erstens kommt die nächste Krise bestimmt. „Mit einer hohen Staatsschuldenquote ist die Ausgangsposition denkbar schlecht.“ Zweitens steigen mit dem demografischen Wandel die Ausgaben für Pensionen und Gesundheit rasant an. Laut der Pensionskommission der Bundesregierung steigen allein die Budgetzuschüsse für Pensionen bis 2027 auf 37,8 Milliarden Euro. Und drittens: Es bleibt weniger Geld für Zukunftsinvestitionen wie erneuerbare Energien, eine qualitativ hochwertige, flächendeckende Kinderbetreuung und Bildung.
Das Schlechteste aus beiden Welten
Zur hohen Inflation kommt heuer auch ein schwaches Wirtschaftswachstum, Ökonomen sprechen dann von Stagflation. Das Institut für Höhere Studien (IHS) rechnet in seiner aktuellen Konjunkturprognose mit einem Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent des BIP, das Wifo sogar mit mageren 0,3 Prozent. Gepaart mit der weiter hohen Teuerung ist das eine toxische Mischung, die „das Schlechteste aus beiden Welten vereint“, wie die Ökonomin Heike Lehner sagt.
„Wir sehen ganz klar eine stagnierende Wirtschaft und ich würde schon sagen, dass sich Österreich in einer Stagflation befindet“, sekundiert Josef Baumgartner vom Wifo. Es ist diese schwierige Mischung aus stagnierendem Wachstum und hoher Inflation, die derzeit dazu führt, dass Ersparnisse erodieren und Einkommen nicht wachsen können. Der Chefökonom der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein, warnt dennoch vor Alarmismus. Denn anders als in einem klassischen Stagflationsszenario, würden die Arbeitslosenzahlen derzeit nicht steigen – vor allem wegen des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels.
Schwaches Wachstum und hohe Teuerung: Es gibt kein Mittel, das gegen beide Probleme wirkt. Um die Inflation und die Nachfrage zu zügeln, erhöht die EZB die Zinsen. Damit würgt sie aber Investitionen und das Wirtschaftswachstum ab. Dafür müsste sie die Zinsen senken. So wie damals nach der Finanzkrise, als Inflation und Wachstum darniederlagen. „Diese beiden Fliegen kann man nicht mit einer Klappe schlagen“, sagt Baumgartner. Dennoch plädiert die Ökonomin Lehner dafür, die Zinsschritte der EZB erst einmal wirken zu lassen, um die hohe Kerninflation in der Euro-Zone zu senken. Auch wenn das zwangsläufig zu wirtschaftlichen Einbrüchen führt.
Aber es gibt auch gute Nachrichten: „Wir gehen davon aus, dass der Zustand nur temporär ist und wir jetzt einfach durchtauchen müssen.“, sagt Josef Baumgartner. Die Energiepreise würden weiter sinken, was vor allem im energieintensiven Bereich für Entspannung sorgen würde. Für das kommende Jahr erwartet das Wifo wieder ein Wachstum von 1,8 Prozent des BIP, das IHS rechnet mit 1,4 Prozent. Die Inflation dürfte aber noch länger relativ hoch bleiben.
Ende des billigen Geldes
Als die schwarz-grüne Bundesregierung zu Beginn der Pandemie im März 2020 die „Koste es, was es wolle“-Politik (das Zitat stammt von Ex-ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel) einläutete, lag der Leitzins bei null Prozent. Geld und Schulden waren also billig. Und tatsächlich wurden die Corona-Hilfen und später auch die Inflationsmaßnahmen zu einem guten Teil auf Pump finanziert. Mit der Zinswende der EZB ändert sich das aber und es wird für den Staat teurer. Bis 2027 werden sich Zinskosten für den Fiskus auf rund zehn Milliarden Euro summieren.
Dass die Staatsschulden in den kommenden Jahren trotzdem sinken werden, ist weniger der Ausgabendisziplin als der Inflation zu verdanken. Wenn man so will, inflationieren sich die Schulden derzeit selbst weg, weil das Geld, das man schuldet, durch die hohe Inflation an Wert verliert. Problematisch wird es, wenn die Zinsen weiter steigen und die Wirtschaft in eine Rezession rutscht, wodurch auch die Staatseinnahmen sinken. Und die ersten Vorboten eines möglichen Abschwungs sind schon da.
Die Nachfrage nach Unternehmenskrediten ist wegen der gestiegenen Zinsen im Euro-Raum um ein Drittel eingebrochen. Jeder vierte Betrieb aus den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Handel und Handwerk kann seinen Kredit nicht mehr aus den laufenden Einnahmen bedienen, zeigt eine Umfrage des heimischen Finanzombudsteams unter 834 Klein- und Mittelbetrieben. Und dann ist da noch die deutsche Industrie, die einen großen Teil der heimischen Lieferindustrie mitträgt. Dort brachen die Fabriksbestellungen im März gegenüber dem Vormonat um 10,7 Prozent ein. Das ist um ein Dreifaches höher, als Wirtschaftsforscher angenommen hatten. Wenn deutsche Industriebetriebe weniger Aufträge bekommen, fällt zeitverzögert auch weniger für heimische Zulieferer ab.
„Wir müssen uns die Frage stellen, welche Art von Standortpolitik wir in Zukunft betreiben wollen“, sagt IV-Ökonom Helmenstein. Er plädiert dafür, neben dem Fokus auf Rahmenbedingungen wie Steuern, Bürokratie oder Fachkräfte auch ganz gezielt bestimmte Technologien und Industriezweige staatlich zu fördern, was derzeit noch wenig passiere. „Unser Krisenpotenzial ist längst überzogen“, meint er mit Blick auf die vergangenen Jahre. „Aber anders als in früheren Krisen, gibt es bei der grünen Transformation das Potenzial, einen selbst getragenen Aufschwung zu generieren.“ Um die Anforderungen des Erneuerbaren-Ausbaugesetzes zu erfüllen, sind 50 Milliarden Euro an Investitionen notwendig, also acht Milliarden Euro pro Jahr, um bis 2030 die Stromerzeugung bilanziell zu 100 Prozent auf erneuerbare Energieträger umzustellen. „Das wäre ein wirtschaftlicher Aufschwung, der allein in unseren Händen liegt und nicht von der Wirtschaftslage in China oder den USA abhängt.“