Glauben Sie nicht, dass das heutige Regime auch dazu beigetragen hat, dass Demokratie ein Schimpfwort bleibt?
Stepic
Das wird schon so sein. Aber das hat alles schon sehr viel früher begonnen. Damals war die Anlehnung an den Westen noch groß. Und es gab auch Maßnahmen des Westens, um die Privatisierung der bestehenden Wirtschaft voranzutreiben, durch die sogenannte Voucher-Privatisierung unterstützt durch das „Share for Loan“-Programm (Anfang der 90er-Jahre wurde der Großteil der bis dato planwirtschaftlich geführten russischen Unternehmen mittels Voucher an Private Eigentümer überführt. Das wurde unterstützt durch staatlich garantierte Kredite zum Erwerb der Aktien. Es ist bis heute die größte Privatisierungswelle weltweit. Diese Art von Coupon-Privatisierung wurde in vielen ehemals kommunistischen Ländern durchgeführt, Anm.).
In so gut wie allen ehemals kommunistischen Staaten ist das Wort Privatisierung bis heute sehr negativ behaftet. Kaum eine dieser Privatisierungen wurde nach unseren heutigen Vorstellungen von Transparenz und einem ordentlichen Bieterverfahren abgewickelt.
Stepic
Anatoli Tschubais, ein überzeugter Reformer (Vizeministerpräsident unter Boris Jelzin nach der Wende, Anm.), hat einen sogenannten 500-Tage-Plan entwickelt. Er wurde von der Weltbank, von Harvard-Professoren, der US-Agentur für internationale Entwicklung unterstützt. Es war ein klar westlich orientiertes Projekt. Der Tenor war: Nur wenn man die Wirtschaft schnell privatisiert, kann man den Kommunismus brechen. Dass die Form und die Geschwindigkeit letzten Endes zu den heutigen Wirtschaftsstrukturen geführt haben, ist bedauerlich. Aber das war damals ein politisches Kalkül. Die Bevölkerung hat durch diese Vouchers die Möglichkeit bekommen, Anteile an Unternehmen zu erwerben. Viele haben sie zum Teil günstig weiterverkauft und zu Geld gemacht. Die wenigen, die wussten, was diese Betriebe eigentlich wert sind, waren die damaligen Direktoren der Unternehmen oder Geheimdienstler, die sich quasi für ein Butterbrot ganze Imperien unter den Nagel gerissen haben. So wurden die ersten Oligarchen groß. Und dann kam Putin, und das Credo lautete: Ihr Oligarchen spuckt mir nicht in meine Politik, und ich spucke nicht in eure Wirtschaft.
Österreich war das erste westliche Land, das Geschäftsverbindungen mit der UdSSR aufgenommen hat. Wir haben 1968 einen Gasliefervertrag unterzeichnet, Rohre für den Pipeline-Bau geliefert. Welche Rolle haben heimische Banken in diesem Gefüge gespielt?
Stepic
Ich halte die heutige Kritik am Gasliefervertrag für bedauerlich. Österreich hat zu sehr günstigen Preisen über Jahrzehnte Gas bezogen. Wir haben viele Gegengeschäfte gemacht, die von internationalen und von österreichischen Banken finanziert wurden. Und das hat der österreichischen Wirtschaft große Möglichkeiten eröffnet. De facto haben wir damit für die Russen jene Devisen geschaffen, die dann den österreichischen Exporteuren zugutekamen. Es war der Türöffner und mit ein Grund, warum so viele österreichische Firmen Lieferanten von russischen Firmen wurden.
Die Karten wurden aber mit dem Einmarsch in die Ukraine neu gemischt. Wir hatten eine massive Energiekrise. Mit den Gaszahlungen wird der Krieg mitfinanziert.
Stepic
Natürlich wird die Diskussion stark von den Ereignissen in der Ukraine geprägt. Aber es wäre politisch wie wirtschaftlich unsinnig, diesen Vertrag nicht weiterlaufen zu lassen, weil Österreich ja mit Gas versorgt werden muss. Ich kann zwar sehr wohl meinen Bezug von russischem Gas sukzessive abbauen und beenden. Aber nur, wenn ich tragbare Alternativen für die österreichische Bevölkerung und Wirtschaft aufgebaut habe. Und da habe ich, als einigermaßen Kenner der Interna, meine Zweifel, dass wir hier nicht im Grunde das Gleiche indirekt über sechs Ecken teurer einkaufen, als wenn wir es weiter direkt kaufen würden. Und einen Vertrag gibt es ja auch noch.
Sie meinen russisches Gas und LNG, das über Umwege – zum Beispiel den Kaukasus – in die EU gelangt?
Stepic
Das meine ich, da liegt so viel politische Missinterpretation dahinter!
Glauben Sie, dass der Gasliefervertrag auch als eine Art Sicherheitsgarantie für österreichische Firmen gesehen wird, die noch in Russland tätig sind? Da gibt es neben der RBI auch eine Menge anderer.
Stepic
Ich glaube, das ist eine relativ normale Vorgehensweise, dass jede Aktion eine Reaktion hervorruft. Auf jede negative Aktion – Sanktionen oder Ähnliches – wird eine Reaktion der Russen erfolgen. Ohne reden geht gar nichts. Die heutige Situation ist auch darauf zurückzuführen, dass in der Vergangenheit viel zu wenig aufeinander eingegangen wurde.
Die russische Armee hat ihren Nachbarn überfallen, ohne zu verhandeln.
Stepic
Natürlich, das ist ein absolut verdammenswerter Vorgang, und jede kriegerische Auseinandersetzung, welcher Art auch immer, ist zu verurteilen. Aber wenn ich die Situation ändern will, muss ich das schrittweise am Verhandlungstisch tun.
Wie oft haben Sie Wladimir Putin getroffen?
Stepic
Ich habe ihn drei Mal getroffen. Das erste Mal hatten wir einen Termin bei Anatoli Sobtschak (Er war von 1991 bis 1996 Bürgermeister von St. Petersburg und gilt als Ziehvater Putins. 2000 starb er unter bis heute nicht restlos aufgeklärten Umständen in einem Hotelzimmer in der Region Kaliningrad, Anm.). Seine Sekretärin sagte uns: „Herr Sobtschak ist nicht da, aber sein Stellvertreter, Herr Putin, empfängt Sie.“ Er saß am Ende eines riesigen Saals an einem Schreibtisch.
Worum ging es bei dem Gespräch?
Stepic
Wir haben über eine Raiffeisen-Niederlassung in St. Petersburg gesprochen, sonst nichts. Das zweite Mal habe ich ihn in Wien getroffen, als er bei der Wirtschaftskammer zu Besuch war. Ich habe ihn dann gefragt, ob er eine Raiffeisen-Kreditkarte hat, was er verneinte – und sagte, er habe natürlich eine von der Sberbank.
Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?
Stepic
Das war bei den Wirtschaftsgesprächen in St. Petersburg, circa ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Sotschi 2014. Putin hat der Presse und ausgewählten Gästen Sotschi vorgestellt. Ich war dort, auch Gerhard Schröder (Deutschlands Bundeskanzler von 1998 bis 2005, Anm.) und etliche andere. Und da haben wir länger miteinander gesprochen.
Was bespricht ein österreichischer Bankmanager mit dem Präsidenten Russlands?
Stepic
Es ging fast ausschließlich um bilaterale wirtschaftliche Themen. Themen, die die Bank betrafen, bis hin zu Projekten von Kunden, die Unterstützung brauchten.
Die RBI war die erste westliche Bank in Russland und ist heute eine der letzten. Soll sie Ihrer Meinung nach gehen oder den Krieg aussitzen?
Stepic
Ich möchte meinem Nachfolger keine Ratschläge geben.
Sie sind heute Berater. Beraten Sie denn auch die RBI in Russland-Fragen?
Stepic
Nein.
Richtig groß wurde Raiffeisen in Russland mit der Übernahme der Impex Bank 2006 (Kaufpreis 550 Millionen Dollar, 350 Filialen, über 4000 Angestellte, Anm.). Impex wurde 1993 gegründet. Man findet heute aber so gut wie keine Informationen darüber, wer die Bank ursprünglich gegründet hat, wer dahinterstand. Mit wem haben Sie denn damals Geschäfte gemacht?
Stepic
Wir konnten damals aufgrund der administrativen Hemmnisse pro Jahr nicht mehr als fünf oder sechs Filialen gründen, und mir war klar, dass das viel zu wenig ist. Der Grund, warum wir die Bank gekauft haben, war, dass sie ein bestehendes Filialnetz hatte. Und erst damit waren wir in der Lage, ein klassisches Retail-Geschäft anzubieten. Ich habe in ganz Osteuropa keine Bank erlebt, die keine Überprüfungsgeschichte von den Geheimdiensten hatte. Es war klar, dass Banken, egal von wem sie geführt wurden, vom Geheimdienst überwacht wurden. Ich erinnere mich an einen Fall in der Slowakei, als wir das „Weiße Haus“ der Tatra-Bank beziehen sollten. Spezialisten waren monatelang damit beschäftigt, das Gebäude zu entwanzen und abhörsicher zu machen. Ähnliche Erfahrungen haben wir in Sofia, in Bulgarien, gemacht. Das war 1993 oder 1994.
Mit der Annexion der Krim 2014 hat sich – rückblickend betrachtet – abgezeichnet, wohin die Reise geht und was Putin mit der Ukraine vorhat. Hätte man aus Ihrer Sicht damals schon als Bank Worst-Case-Szenarien oder Exit-Strategien zeichnen sollen?
Stepic
Die RBI hat auch nach Kriegsbeginn in der Ukraine, nämlich auch in den besetzten Gebieten, den Betrieb aufrechterhalten und teilweise Pensionen händisch ausgeliefert. Unter extremem Einsatz der Mitarbeiter. Und von unserer Charity möchte ich gar nicht sprechen.
Die Ukraine wirft der RBI vor, mit ihrem Russlandgeschäft und den hohen Steuern, die sich daraus ergeben, den Krieg mitzufinanzieren. (Laut „Financial Times“ hat die RBI 2023 464 Millionen Euro an Steuern in Russland bezahlt, Anm.)
Stepic
Das ist ein politischer Vorwurf. Wenn ich irgendwo wirtschaftlich tätig bin, muss ich Steuern zahlen, ob es mir passt oder nicht.
Sie sind der Architekt des gesamten Osteuropa-Geschäfts der RBI. Können Sie sich eine RBI ohne Russland vorstellen?
Stepic
Diese Frage möchte ich bitte unbeantwortet lassen.
Was glauben Sie, wohin der Krieg noch führen wird, wohin sich Russland entwickelt?
Stepic
Ich kann die Angst in vielen Ost-Staaten, die an Russland angrenzen, absolut nachvollziehen. Man darf auch nicht vergessen, dass der Westen kein homogener Block ist. Machtverhältnisse ändern sich. Wenn ich weiß, dass derzeit Hunderte Menschen täglich ihr Leben lassen, würde ich sehr intensive Verhandlungen suchen, auch wenn sie momentan politisch nicht opportun scheinen.
Aber was ist denn die Verhandlungsbasis?
Stepic
Das kann nur eines der besetzten Gebiete sein.
In den besetzten Gebieten leben Menschen. Kann sich ein mächtiger Staat einfach Landgebiete einverleiben?
Stepic
Natürlich nicht. Man darf niemanden überfallen, man muss sich wehren und sein eigenes Land verteidigen – alles richtig. Aber die entscheidende Frage ist: Was passiert jetzt und in nächster Zukunft? Glauben Sie, dass die Ukraine den Krieg gewinnt? Oder dass ein westlicher Partner Truppen schickt? Es fürchtet sich doch jeder vor einem dritten Weltkrieg. Die Ukrainer führen einen Stellvertreterkrieg für den Westen. Aber um welchen Preis? Was ist die Lösung?
Kann es unter Präsident Putin überhaupt eine Lösung geben?
Stepic
Auch die Bereitschaft von Autokraten, einzulenken, nimmt mit dem Leid von Müttern, die ihre Söhne verlieren, zu. Mütter beenden Kriege, davon bin ich überzeugt.
Bis jetzt scheint das Leid im Kreml noch nicht so laut zu hören zu sein.
Stepic
Russland hat 140 Millionen Einwohner, die Ukraine nur 40 Millionen. Die Alternative, nicht zu verhandeln, verschlimmert das Leid täglich.
Sie sind vor zehn Jahren als RBI-Chef gegangen, nachdem Sie im Zuge der sogenannten Offshore-Leaks mit Immobiliendeals und Briefkastenfirmen in British Virgin Islands in Verbindung gebracht wurden. Die Verfahren wurden später eingestellt. Was wurde eigentlich aus diesen Immobilien, die damals im Fokus waren? Haben Sie die noch?
Stepic
Nicht nur alle Verfahren wurden eingestellt! Ich habe auch einen Medienprozess gewonnen. Das Ganze war eine Medienhatz gegen einen prominenten Namen, der aus den Dokumenten herausgepoppt ist. Den Steuerbehörden war alles bekannt. Ja, die Immobilien gibt es noch. Ich sehe auch keinen Grund, warum ich Immobilieninvestments verkaufen soll, wenn ich es nicht muss.