Interview

Warum ist der Nachtzug nach Rom teurer als ein Flug, Herr Matthä?

ÖBB-Chef Andreas Matthä über Ticketpreise, volle Züge, Stehen bis St. Pölten und die Rolle der Bahn in Russlands Angriffskrieg.

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Am 23. November 1837 fuhr die erste Dampfeisenbahn der damaligen Nordbahn-Gesellschaft  eine 13 Kilometer lange Zugstrecke von Wien-Floridsdorf nach Deutsch-Wagram. Historisch betrachtet gilt das als die Geburtsstunde der heimischen Eisenbahn. Die Geburtsstunde der heutigen ÖBB kam  86 Jahre später, 1923. Heute fahren täglich 1,2 Millionen Menschen in Österreich mit der Bahn. Rechnet man die Zeit der k. u. k. Monarchie ein, ist Andreas Matthä  der 31. Bahn-Chef Österreichs. Er mag Züge, und er spricht gern darüber. In seinem Büro im ÖBB-Tower am Wiener Hauptbahnhof zieren kleine Modelllokomotiven die Regale. Am Bahnsteig schweift er kurz ab, um beim Umstecken einer Railjet-Lokomotive zuzuschauen. Worüber er nicht ganz so gern spricht, ist das Engagement der russischen ÖBB-Tochter. Oder über das etwas angespannte Verhältnis zum Hauptlieferanten.

„Wir sind noch weit weg davon, dass man mit einem Zug so einfach wie mit einem Bus oder einem Lkw durch Europa fahren kann.“

Nach Krise sieht die Bilanz  trotz Inflation und hoher Energiepreise nicht aus: Der Gewinn vor Steuern ist auf 193 Millionen gestiegen, die Fahrgastzahlen liegen wieder auf dem Vor-Corona-Niveau, ein Minus gab es nur beim Frachtverkehr. Was hat Ihnen denn am meisten in die Hände gespielt: das österreichweite Klimaticket, die hohen Spritpreise im Vorjahr, die Reiselust nach der Pandemie?
Matthä
Es ist eine Mischung aus allem. Im Fernverkehr haben wir einen neuen Fahrgastrekord verzeichnet. Das lag an der großen Reiselust nach Corona und auch an den Turbulenzen im internationalen Flugverkehr. Und natürlich hat uns auch das österreichweite Klimaticket ein paar Extrafahrten beschert. Im Nahverkehr ganz anders: Hier spüren wir die veränderten Arbeitsbedingungen. Die Leute arbeiten öfter im Homeoffice, und sie fahren auch mehr mit dem Rad.
Die hohen Energiekosten spüren die ÖBB vor allem im Frachtverkehr. Bekommen Sie eigentlich einen Energiekostenzuschuss?
Matthä
Leider nicht. Beim Energiekostenzuschuss sind Eisenbahnen und Unternehmen im öffentlichen Eigentum ausgenommen. Obwohl Bahn und Bus extrem von den hohen Energie- und Treibstoffpreisen betroffen sind. 
Wieso denn „leider“? Sie haben trotz der hohen Energiekosten einen Gewinn (vor Steuern, Anm.) von fast 200 Millionen eingefahren. Braucht es da unbedingt staatliche Energiezuschüsse?
Matthä
Die heimischen Eisenbahnunternehmen haben 2022 noch die „normalen“ Vorkrisen-Strompreise bezahlt, weil die ÖBB-Infrastruktur mit langfristigen Stromlieferverträgen gut vorgesorgt hat. In anderen EU-Ländern wurden die steigenden Strompreise gleich an die Schienenunternehmen weitergegeben. In Österreich kommen die teuren Preise aber jetzt voll im Bahnsektor an. Der Strompreis hat sich für uns fast verdreifacht, während Diesel wieder so viel kostet wie vor der Krise. Das heißt, wir spüren beim Güterverkehr wieder eine Verlagerung von der Bahn zum Lkw. Wir sind im Verkehrsbereich ein normales, kapitalorientiertes Unternehmen, das seine Investitionen über Kredite am Kapitalmarkt finanziert. Und damit wir investitionsfähig bleiben, muss ich auch solide Ergebnisse vorweisen. 
Wie oft fahren Sie eigentlich mit der Bahn?
Matthä
So oft es geht. Sicher mehrmals die Woche. Autofahren ist ja in Wahrheit verschenkte Zeit. 
Wie oft mussten Sie am Gang stehen, weil der Zug zu voll war?
Matthä
Sie spielen auf unsere gut besuchten Züge an. Bis St. Pölten ist es schon vorgekommen, dass ich gestanden bin. Wir versuchen permanent, unsere Kapazitäten auszuweiten, indem wir neue Züge kaufen. Wir wollen 4,7 Milliarden Euro bis 2030 in neue Garnituren investieren. Das sind zusätzliche 40 Prozent bei der Sitzplatzkapazität. 
Die überfüllten Züge nach der Einführung des Klimatickets haben den Anschein erweckt, dass die ÖBB nicht auf den Andrang vorbereitet waren. Die ersten Garnituren, die Sie im Vorjahr erwartet haben, kommen erst Ende dieses Jahres. 
Matthä
Wie viele neue Klimaticketbesitzer dazugekommen sind und wie viele Passagiere von anderen Verkehrskartenmodellen ins Klimaticket gewechselt sind, können wir leider nicht analysieren, weil uns die Daten dazu fehlen. Aber die hohen Spritpreise, die Reiselust nach Corona und auch das flächendeckende Parkpickerl in Wien haben die Fahrgastzahlen erhöht.
Kann man Züge einfach beliebig verlängern?
Matthä
Leider nicht. Es gibt fixe Längen, die durch die Bahnsteiglängen definiert sind und durch das sogenannte Anhängegewicht der Lokomotive. Diese muss mit einer bestimmten Geschwindigkeit fahren und kann deshalb nur ein bestimmtes Gewicht ziehen. Bei Doppelgarnituren haben wir aber etwas mehr Spielraum.
Ihr Hauptlieferant ist Siemens. Dort ist man verschnupft, weil Sie Ihre Zuggarnituren und das Zubehör jetzt woanders bestellen, unter anderem beim chinesischen Bahnausrüster CRRC für Ihre Güter-Tochter in Ungarn. Wie  auch Ihr Mitbewerber.
Matthä
Wir haben einen ganz normalen Ausschreibungsprozess und unterliegen dem Bundesvergabegesetz. Wir sind ein Großabnehmer von Siemens-Produkten. Siemens gewinnt also oft, ist aber natürlich nicht alleiniger Lieferant. Wir haben auch Schweizer und französische Zulieferer, und wir haben in Ungarn keine chinesischen Lokomotiven gekauft, sondern wir haben zwei Verschublokomotiven und zwei Streckenlokomotiven aus China angemietet. Unser Mitbewerber hat Züge aus China gekauft. Sie haben es ja selbst angesprochen: Unsere Fahrgäste müssen teilweise in den Zügen stehen, und die Nachtzüge sind ausgebucht. Wir haben dafür rechtzeitig vorgesorgt und zusätzliche Züge bestellt. Dass die jetzt nicht kommen und wir auf Liefertreue pochen, ist doch verständlich. Die Nachtzüge wurden 2018 bestellt, die Lieferverzögerung beträgt schon ein Jahr. Das macht uns natürlich unglücklich.
Wir diskutieren gerade sehr viel über hohe Abhängigkeiten von China in fast allen Industriebereichen, fragile Lieferketten. Sollen öffentliche Unternehmen vor allem bei europäischen Anbietern einkaufen oder doch lieber bei den schnellsten oder billigsten Lieferanten, die dann manchmal aus China stammen?
Matthä
Beim besten Preis geht es ja nicht nur um die Beschaffungskosten, sondern auch um Ersatzteile, um Lagerhaltung. Wenn bei der Zugbeschaffung gemeinwirtschaftliche Bestellungen dahinter liegen, also der Steuerzahler einen Teil des Preises zahlt, ist es mehr als legitim, dass die europäischen und österreichischen Steuerzahler auch die Beschäftigungseffekte genießen. Im internationalen Wettbewerb ohne öffentliche Leistungsbestellungen hat der günstigste Preis mehr Gewicht, und da müssen sich auch die europäischen Hersteller anstrengen. Aber aktuell haben wir das Problem nicht, und wir kaufen auch keine Züge in China.
Der Nightjet soll die klimafreundliche, bequeme Alternative zum klimaschädlichen Kurzstreckenflug sein. Wenn man sich Preise und Verfügbarkeit  ansieht, dann kann der Nachtzug nicht immer mit dem Billigflieger mithalten. Zum Beispiel kostet ein Flug nach Rom über das Pfingstwochenende bei einem britischen Billigflieger 160 Euro hin und zurück. Mit dem Nachtzug zahlt man derzeit so viel in eine Richtung, und er ist fast ausgebucht. Wieso? 
Matthä
Da müssen wir jetzt kurz über Kostenwahrheiten sprechen. Viele Angebote sind nur auf den ersten Blick günstig. Versuchen Sie mal beim Billigflieger einen Koffer mitzunehmen oder beim Handgepäck ganz wenig über dem Höchstgewicht zu landen. Da kostet das Gepäck schnell mehr als das Ticket. Und wenn Sie alle Nebenkosten mitnehmen – Taxi in die Stadt etc. –, bin ich mir sicher, dass Sie sogar im Schlafwagen gleich teuer unterwegs sind, im Liegewagen billiger.  Ich hätte auch gern Wettbewerbsfairness. Wir zahlen bei den Tickets im Fernverkehr in sieben Ländern Mehrwertsteuer. Beim Flugticket zahlen Sie keine Mehrwertsteuer, dasselbe gilt bei der Energie: Kerosin ist steuerbefreit, obwohl Kerosin nachweislich klimaschädlicher ist als andere Treibstoffe.
Wenn man mit der Bahn in ein anderes Land fahren will, ist es generell nicht so einfach, ein günstiges Ticket zu bekommen. Man muss sehr früh buchen, oft ist es günstiger, die einzelnen Streckenabschnitte bei den nationalen Bahnunternehmen zu kaufen. Warum fehlt ein EU-weiter One-Stop-Shop für Bahnreisen, wie es das im Flugverkehr gibt?
Matthä
Das Problem entstand bei der Bahnliberalisierung um die Jahrtausendwende, als alle Bahnen ihren jeweiligen Nachbarn als Konkurrenz gesehen haben. Jetzt erkennen aber die Bahnbetreiber, dass wir kooperieren müssen. Das wird in Brüssel bei unseren Bahntreffen heftig diskutiert. Das Ganze ist auch technisch nicht trivial. Im Flugverkehr haben wir EU-weit vielleicht etwas über 200 Destinationen. Im Zugverkehr wären das über zwei Millionen Haltestellen, die man in einem Ticketsystem abbilden muss. Ich plädiere dafür, dass wir zunächst die großen Hauptdestinationen vernetzen. Diese Tickets werden von den Kunden am stärksten nachgefragt. Kleinere Destinationen sollen dann national gebucht werden. Wir werden in Zukunft mehr Bahn brauchen, um die Klimaziele zu erreichen. Wir brauchen mehr Vereinheitlichung und Zusammenarbeit bei der Bahninfrastruktur und im internationalen Ticketing. 
Sie sind auch Präsident der Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (CER). Simone Tagliapietra vom Brüsseler Thinktank Bruegel beklagte kürzlich, dass es der EU nicht an einer grünen Industriepolitik fehle, sondern dass sie zu viel davon habe, mit Blick auf die Nationalstaaten. Gilt das auch für die Bahn?
Matthä
Es braucht sicher mehr Europa. Die Nationalstaaten bauen ihre Infrastrukturen national aus. Wir brauchen aber die Vernetzung der nationalen Infrastrukturen. Wir sind noch weit weg davon, dass man mit einem Zug so einfach wie mit einem Bus oder einem Lkw durch Europa fahren kann.
Sehr viel Geld aus dem EU-Resilienzfonds fließt in den Bahnausbau. Allein in Österreich ist es eine halbe Milliarde. Damit wird zum Beispiel ein Streckenabschnitt bis zur Landesgrenze saniert, und auf der anderen Seite passiert nichts, weil etwa der tschechische Aufbauplan genau dort keine Sanierungen vorsieht.
Matthä
Das ist ein Problem. Zuerst haben wir Zigmilliarden in den Ausbau des europäischen Straßennetzes gesteckt. Jetzt wird es Zeit, dass wir Zigmilliarden in eine moderne Schieneninfrastruktur in ganz Europa investieren. Je weiter wir Richtung Osten schauen, desto notwendiger ist der Bahnausbau, sonst haben wir hier langfristig ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. 
In den vergangenen 20 Jahren wurde aber tatsächlich europaweit viel Bahninfrastruktur abgebaut, Bahnhöfe wurde geschlossen. Jetzt soll man wieder aufbauen, was man zuvor vernachlässigt hat?
Matthä
Ja, wir werden wieder jene Regionalbahnen, die in allen EU-Ländern teilweise eingestellt wurden, brauchen, um neue Formen der Mobilität zu implementieren. Was spricht denn dagegen, dass auf diesen kleineren Strecken in naher Zukunft selbstfahrende Einheiten unterwegs sind? Es gibt schon erste Pilotprojekte.
Die Kollektivvertragsverhandlungen im Vorjahr haben in einem 24-stündigen Generalstreik bei den ÖBB gegipfelt, weil das Management die Lohnforderungen der Gewerkschaft nicht akzeptieren wollte. Sie sind SPÖ-Mitglied. Hat der Manager den Genossen übermannt?
Matthä
Ich habe totales Verständnis für die Forderungen der Mitarbeiter, die mit der Inflation kämpfen. Und wir haben deshalb in der ÖBB noch vor den KV-Verhandlungen einen Mindestlohn von 2000 Euro brutto festgelegt. Schließlich haben wir einen Abschluss auf zwei Jahre vereinbart, das heißt: Wir gelten auch die diesjährige Inflationsrate – in welcher Höhe auch immer – ab. Und wir haben eine Teuerungsprämie, auf zwei Jahre geteilt, vereinbart. Aus meiner Sicht wäre für dieses Ergebnis aber kein Streik notwendig gewesen! Und eines möchte ich festhalten: Mein Parteibuch ist rot-weiß-rot, weil die ÖBB rot-weiß-rot sind.
Kommen wir zu Russland: Die Cargo Logistics RUS ist eine 100-prozentige Tochter der ÖBB und beschäftigt über 50 Mitarbeiter. Sie arbeitet aber bei der Frachtlogistik mit den russischen Staatsbahnen RŽD  zusammen, die seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine Kriegslogistiker sind, wie der „Falter“ kürzlich berichtete. Muss man da nicht die Notbremse ziehen und sich unter diesen Bedingungen aus Russland verabschieden?
Matthä
Wir verurteilen zutiefst Russlands Krieg gegen die Ukraine, das haben wir wiederholt klargestellt. Zum anderen sieht man auch, was wir für und in der Ukraine leisten. Die ÖBB haben im Vorjahr 1,2 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine transportiert, das ist mehr als jedes andere europäische Bahnunternehmen. Wir fahren jeden Monat 100 Züge in die Ukraine, unter anderem einen regelmäßigen Nachtzug von Wien nach Kiew. Wir halten uns in Russland an alle geltenden Sanktionen, jeder Transport wird sehr genau nach der Trade-Compliance-Richtlinie geprüft. Und es wird zudem nicht in Russland, sondern hier in Wien geprüft, welcher Transport zulässig ist und welcher nicht. Wenn es sich um Transporte aus China nach Europa handelt, muss man die russischen RŽD  nutzen, weil sie Monopolist sind, es gibt dort sonst niemanden. Und die RŽD  selbst sind nicht sanktioniert. 
Planen Sie einen Ausstieg aus Russland?
Matthä
Wir beliefern in Russland nur österreichische oder europäische Kunden, aber keine russischen mehr. Wir bemühen uns dort nicht um neue Kunden. Und wir versuchen außerdem, für den Handelsstrom zwischen  China und Europa verstärkt den Mittelkorridor zu forcieren (über Aserbaidschan und die Türkei, Anm.). Das ist aber deshalb nicht so einfach, weil man da auch zwei Meere überqueren muss.
Bleiben wir noch kurz in Russland: Im Zuge der neuen Seidenstraße wurde eine eigene Breitspurbahngesellschaft geschaffen. Österreich sollte den Ausbau der Breitspurbahn von Moskau über Kiew und Bratislava nach Wien planen, um China auf dem Landweg mit der EU besser zu verbinden. Was wurde aus diesem Projekt? 
Matthä
Die Gesellschaft befindet sich nach einem Gesellschafterbeschluss seit Monaten in Auflösung. Erstaunlicherweise haben sich hier alle Gesellschafter an einen Tisch gesetzt und diesen Beschluss gefasst, auch der russische und der ukrainische. Das Projekt ist seit Kriegsbeginn obsolet. Und ich selbst dachte auch nicht, dass Bahnen in einer modernen Kriegsführung überhaupt noch eine Rolle spielen. Weil sie eigentlich ein sehr leichtes Ziel für Präzisionswaffen sind. Der Ukraine-Krieg belehrt uns da eines Schlechteren. 
Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Erkenntnis? 
Matthä
Dass man leider im Eisenbahnwesen auch weiterhin militärische Aspekte mitbedenken muss. Was ein Fluch für die Eisenbahnen ist. Warum sind denn diese technischen Unterschiede in Europa entstanden, über die wir gesprochen haben? Weil die Eisenbahn früher Teil der militärischen Gesamtlogistik war. Man hat unterschiedliche Spurweiten gebaut, damit das Nachbarland nicht so einfach militärisch einfallen kann. Das ist der Fluch der Geschichte.  
Interview: Marina Delcheva,  Fotos: Alexandra Unger
Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".