Was hinter dem Boom an Automaten-Shops in Wien steckt
Die Sperrstunde ist am Mexikoplatz 20 im zweiten Wiener Gemeindebezirk abgeschafft. Das magentafarbene Schild des Vendora-Shops ziert die Hausfassade. Neben Getränken und Lebensmitteln werden hier auch ein Passbild- und Wäscheservice angeboten. Alles in Selbstbedienungsautomaten - rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche. Der Betreiber Martin Miranda schlichtet vor den Feiertagen seine Automaten ein. Bier und Süßigkeiten sind gerade gut nachgefragt. Ladegeräte und Kleinelektronik verstauben dagegen in den Automaten, erzählt er. Er überlegt sie aus dem Sortiment zu nehmen - in der Umgebung gäbe es zu viele Handyläden.
160.000 Automaten sollen nach Schätzung der Österreichischen Verkaufsautomaten Vereinigung aufgestellt sein. Neben den klassischen Kaffee- und Getränkeautomaten wie an Bahnhöfen zählt der Branchenverband zirka 50 neuartige Automaten-Shops wie jenen am Mexikoplatz. Tendenz steigend, denn die Akzeptanz sei seit Corona enorm gestiegen. „Nahrungsmittel aus dem Automaten zu beziehen, war früher im Büro der Fall, wenn es gar keine andere Wahl gab”, erzählt Klaus Irmler, Vizepräsident der Vereinigung gegenüber profil: „Heute wird es in der Bevölkerung als völlig normal akzeptiert.” Was für den Berliner sein Spätkauf ist, ist der Automat also für den Wiener? Anders als in der deutschen Hauptstadt Berlin haben sich in Wien sogenannte „Spätis” - kleine Kioskläden, die auch nachts geöffnet haben - nie durchgesetzt. Stattdessen schießen nun immer mehr Automaten-Shops aus dem Boden.
Einkaufen bei Nacht
Rudolfsheim-Fünfhaus. An der Schweglerstraße im Laden der Firma Mundwerk trifft eine Gruppe Touristen ein. Das Angebot ist groß, sie fragen die Einheimischen nach einer Dosenbier-Empfehlung. Letztlich entscheiden sie sich für alle zwölf angebotenen Sorten. Bier ist der Verkaufsschlager schlechthin, aber auch Maxi King, ein Schokoriegel - der Betreiber kann sich das selbst nicht erklären. Was schlecht ankommt, wird aus dem Sortiment genommen. Was immer geht: Süßigkeiten, Eintöpfe im Glas oder Liebesspielzeug.
In der hinteren Reihe des Automaten-Shops schlägt ein Paar schimpfend gegen die Automatenscheibe. Eine Brezel hat sich im Automaten verfangen. Mittels unkoordinierter Schläge soll die Maschine das Gebäck herausrücken - ohne Erfolg. Ein Schild weist auf die Telefonnummer des Betreibers hin, aber ab 17 Uhr ist niemand mehr erreichbar.
Ein Anruf zu den Bürozeiten gibt Auskunft über den Shop. Hinter der Betreiberfirma Mundwerk stecken die Gastronomen des Schutzhauses Auf der Schmelz im 15. Wiener Gemeindebezirk. Die Pandemie hätte die Wirte zum Umdenken gebracht. Ausgangsbeschränkungen, Social Distancing und kaum zu findendes Personal sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Gastronomiebetrieb. Schnell wurde klar: ein Automaten-Shop musste her.
Automaten statt Spätis
Vor dem Automaten-Shop ist das Gejammer der deutschen Studenten kaum zu überhören. Eine Weltstadt wie Wien bräuchte doch Spätis, aber warum setze sie dann auf Automaten?
Was ist ein Späti?
Späti oder Spätkauf (kurz für Spätverkaufsstelle) ist ein Laden, der vorwiegend in ostdeutschen Städten wie Berlin oder Leipzig vorzufinden ist. Die kleinen Läden haben in der Regel länger als die gewöhnlichen Supermärkte geöffnet. In ihrem Sortiment werden vorwiegend Getränke und Tabakwaren, aber auch Dinge des täglichen Bedarfs angeboten. Spätis sind meist von Einwandererfamilien betrieben und haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Teil der lokalen Kultur der Kieze (österreichisch: Grätzel) entwickelt.
Zurück ins Stuwerviertel. Für den studierten Betriebswirt Martin Miranda kam ein klassischer Spätkauf nie in Frage. Ihm fehle das Personal dafür. In den Spätis stünden oftmals die Inhaber und deren Familienangehörige im Geschäft, anders wäre ein Späti vermutlich nicht rentabel. Mirandas Familie lebt nicht in Wien und Verkaufsangestellte anzuheuern, ist ihm in Österreich wegen Nachtzulagen und Überstunden viel zu teuer. „Personal in einem 24-Stunden-Laden anzustellen, macht keinen Sinn.”
Den Automaten-Shop am Mexikoplatz eröffnete er vor einem Jahr. Mehrere zehntausend Euro hat er zu Beginn in den Laden investiert. Die richtige Arbeit stand aber erst an, denn die Lernkurve ist steil. Das Geschäftsmodell rund um die Automaten ist knallhart kalkuliert. Wie hoch sind die Einkaufspreise, wie gut verkauft sich ein Produkt, welcher Artikel passt zu welchem Standort und wie viel ist letztlich der Kunde bereit zu bezahlen? Es gibt viele kleine Stellschrauben, die in einem Automatenbetrieb eingestellt werden müssen.
Personal in einem 24-Stunden-Laden anzustellen, macht keinen Sinn.
Craftbier ist am Mexikoplatz übrigens nicht mehr im Sortiment. Die Laufkundschaft zwischen U-Bahnstation und Donauinsel hätte bodenständige Ansprüche, so Miranda. In der Zirkusgasse im Karmeliterviertel steht die Eröffnung seines zweiten Shops bevor. Was die dortige besser situierte Nachbarschaft nachfragt, muss er noch austesten - Bioprodukte sind Teil seiner Überlegung.
Reich werden mit Automaten
In sozialen Netzwerken wie TikTok oder Youtube wird das Geschäftsmodell rund um die Automaten aggressiv beworben. „Mehrere tausend Euro pro Monat verdienen”, titeln die viral gegangenen Videos. Ein passives Einkommen, also Geld verdienen mit kaum Arbeitseinsatz, versprechen die Influencer mit Automaten. Kann man wirklich damit reich werden?
Branchenvertreter Klaus Irmler kritisiert die unrealistischen Versprechen: „Das sind Leute, die wissen wie Social Media Marketing funktioniert. Dahinter stehen Unternehmen, die ein unseriöses Franchise aufziehen.” Die Videoclips sind für die Influencer daher nicht uneigennützig. Sie verdienen an den Provisionen. Anständige Anbieter fühlen sich geschädigt, da die ganze Branche unter den unlauteren Methoden leide.
Einen eigenen Betrieb zu führen, sollte nicht unterschätzt werden. Denn mit dem Kauf der Automaten sei es nicht getan. „Ich brauche ein Zahlungssystem, Verträge und Betriebsgenehmigungen. Ein wenig betriebswirtschaftlich bewandt sollte man sein, sonst fällt man raus”, so Irmler.
Nüchterne Realität
„Easy Money ist es auf keinen Fall”, sagt Martin Miranda. Von großem Reichtum und einem entspannten Leben mit passivem Einkommen kann er nicht berichten. Vielmehr ist der Automatenbetreiber sichtlich gestresst. Die Baustelle für den zweiten Standort in der Zirkusgasse ist in vollem Gange.
Miranda denkt realistisch und lässt sich vom Werbeversprechen der Influencer nicht beirren. Seine Automaten am Mexikoplatz sind inzwischen gut eingestellt. Auswahl und Preise stimmen. Läuft es optimal, rentiere sich seine Investition nach wenigen Jahren. Letztlich ist er ein Unternehmer wie jeder andere. Firmengründung, Einkauf, Logistik und Buchhaltung gehören dazu. Das Geschäftsmodell der Automaten basiere auf Expansion. Mit einem einzelnen Automaten werde niemand reich, so Miranda. „Bis mein erster Standort optimal lief, hat es fast ein Jahr gedauert. Mit dem zweiten Standort geht es dann schneller, weil die Grundstrukturen schon da sind.”
Der Aufstieg der Automaten-Shops in Wien - erscheint mangels Konkurrenz von Spätis unaufhaltsam.