Jahresausgabe

Was werden wir uns 2023 noch leisten können?

Auf die politische Zeitenwende folgte die ökonomische: Die Inflation zog an, Zinsen kamen zurück und Energiereserven wurden das neue Gold. Was heißt das für unseren Lebensstil in den nächsten Jahren?

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Der deutsche Kanzler Olaf Scholz prägte den Begriff von der Zeitenwende für die Außenpolitik, sein Finanzminister Christian Lindner dehnte ihn auf die Wirtschaft aus: „Es gibt eine wirtschaftliche Zeitenwende, die noch nicht alle verinnerlicht haben. Nach einem Jahrzehnt, in dem wachsender Wohlstand von der Politik verteilt wurde, folgt jetzt eine Phase, in der wir wirtschaftliche Substanz sichern und neue Wettbewerbsfähigkeit schaffen müssen,“ erklärte er dem Berliner „Tagesspiegel“. Durch den Krieg in der Ukraine, die in der Folge explodierten Energiepreise und die daraus gespeiste Inflation wandelte sich unser Konsumumfeld drastisch. Bruchstellen wurden sichtbar.

Prominente Stimmen, die nicht für ihre Systemkritik bekannt sind, kritisierten plötzlich genau dieses: Dreißig Jahren Hyperglobalisierung seien vorbei, Wandel durch Handel mausetot. Marktliberale Systeme standen heftig in der Kritik, als Paradebeispiel die Merit-Order-Regelung beim Strompreis, die jahrelang nur Experten kannten. Jetzt zieht sie auch auf den Stammtischen Zorn auf sich.

Das alte Grundvertrauen, dass kleine Veränderungen zum Überwinden zukünftiger Krisen – etwa des Klimawandels – ausreichen, wankt. Seit Beginn der Pandemie greifen Staaten aktiver ins Wirtschaftsgeschehen ein, Unternehmen versuchen, Abhängigkeiten zu reduzieren; eine grüne Transformation der Wirtschaft schreitet (langsam) voran. Doch wie soll man die Zeit nach der Zeitenwende nennen? Oder ist die Zeit der großen Begriffe und Ideen vorbei? Vielleicht ist 2023 ein gutes Jahr für neue Konzepte.

Welchen Lebensstil werden wir uns 2023 noch leisten können?

Überspitzt gesagt: Alles was wir tun, ist Konsum. Die pandemiebedingten Lockdowns haben uns das vor Augen geführt. Ohne Konsum steht alles still, auch unsere Wirtschaft. Dieses Jahr stand nichts still, im Gegenteil: Es kam zu rasender Veränderung. Auch im Konsumverhalten.

Die derzeitige Situation trifft uns alle, aber alle doch sehr unterschiedlich, je nach Einkommen, Wohnort, Fortbewegungsmittel, Heizung. Man kann nicht von heute auf morgen in ein Passivhaus mit Anbindung an Zug oder U-Bahn ziehen. Wer mit Porsche und Maserati durch die Straßen bretterte, wird das wegen der gestiegenen Preise nicht gleich ändern. Wer davor schon kaum die Mittel für gewisse Konsumgüter hatte, dessen Spielraum hat sich verkleinert. Aber wie schaut es mit dem Rest aus? Was verändert sich? Was nicht?

Frank Trentmann beschäftigt sich als Historiker mit 500 Jahren Konsumgeschichte. Er sagt: Kriege, Dürren und Energiekrisen verstärken Trends und ordnen das tägliche Leben neu. Aber es gehe nicht nur um rein individuelle Entscheidungen, Veränderungen würden immer auch gesteuert: „Sie wurden von Politik und Macht unterstützt und gelenkt. Auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen in der reichen Welt heute in einem eigenen Haus wohnt, eine Hypothek hat und auf elektrische Geräte oder ein im Ofen backendes Brot schaut, ließe sich nicht erklären, wenn man nicht auf die Unterstützung der Politik für Wohneigentum, den Kauf der ersten Kühlschränke und Investitionen in die Infrastruktur verweisen würde.“ Wie also verändert sich unser Leben 2023?

Kann man noch in eine Wohnung mit Gasheizung ziehen?

Vor ein paar Jahren sang die Band AnnenMayKantereit: „Ich will mit dir in einer Altbauwohnung wohnen, Zimmer, Küche, Bad und ein kleiner Balkon.“ Damals wurde das als bescheidener Wunsch einer entpolitisierten Generation gedeutet, „das Spießigste jenseits von Bausparverträgen" nannte es die Musikzeitschrift „Rolling Stone“. Hohe Decken, alte Fenster und große Räume klingen heute freilich mehr nach einem Albtraum.

Nach wie vor wird in einer Million Haushalten mit Gas geheizt, vor allem in Wien, Niederösterreich, im Burgenland und in Vorarlberg. Die Hälfte davon wohnt zur Miete. Bei Wohnungsbesichtigungen ist mittlerweile die erste Frage: „Und wie wird hier geheizt?“, erzählt Karina Schunker, Geschäftsführerin des Immobilienunternehmens EHL. Das Interesse für effizient geschnittene, gut gedämmte und nicht gasbeheizte Wohnungen ist groß. Der Gaspreis hat sich heuer vervielfacht, Energieversorger erhöhten die Preise, manche kündigten abrupt Verträge oder gingen selbst zugrunde.

Aber nicht nur die hohen Energiepreise, auch die im Sommer eingeführten strengeren Kreditvergaberichtlinien drehten den Wohnungsmarkt. Jahrelang überschlugen sich die Preise für Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser, angefeuert durch die Niedrigzinspolitik, die Kredite sehr günstig machte. Seit Juli brauchen Kreditnehmer mindestens 20 Prozent Eigenkapital, Zwischenfinanzierungen werden komplizierter. Die Zahl der vergebenen Wohnkredite ist in den vergangenen Monaten um ein Drittel gesunken, heißt es von Raiffeisenbank und Uni Credit. Und die Preise sinken.

Umgekehrt steigt allerdings die Nachfrage nach Mietwohnungen, und somit auch deren Preis. Dazu kommt: Fast alle Mietverträge berücksichtigen die Teuerung und werden dementsprechend angepasst. Allein vom zweiten auf das dritte Quartal stiegen die Mieten um drei Prozent. Das wird sich im kommenden Jahr nicht ändern. „Wir rechnen bei fast allen Mietverträgen mit Erhöhungen“, sagt Martin Ucik von der Mietervereinigung. Der Richtwert soll das nächste Mal Anfang April steigen, um wie viel, ist noch nicht klar. Manche Experten rechnen mit acht Prozent. Die Faustregel, dass die Mietkosten nicht mehr als ein Drittel des verfügbaren Einkommens betragen sollen, wird unrealistischer.

Und dass die Frage der Heizung nicht nur in diesem Winter relevant bleibt, ist klar. Der europäische Gaspreis (TTF) lag zuletzt bei 136 Euro pro Megawattstunde, nach einer Spitze von 320 Euro im August. Volle Gasspeicher und ein eher milder Winter entspannten die

Situation, Kältewellen bleiben aber ein Risiko. Vor allem könnte der nächste Winter noch herausfordernder werden als der aktuelle, zeigen Simulationen der OECD: Im Sommer wird kaum russisches Pipelinegas zur Auffüllung der Speicherstände verfügbar sein, Investitionen in Flüssiggas werden erst ab 2025 zu mehr Angebot führen.

Kann man Job wechseln oder muss man um ihn fürchten?

Heuer suchte die Unternehmen – stets „händeringend“ – nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und zwar quer durch die Branchen. Schon lange gab es nicht mehr so aufgeheizte Lohnrunden, Arbeitgeber stöhnten über hohe Lohnforderungen, Mitarbeitende freuten sich über die neue Macht am sogenannten ArbeitnehmerInnenmarkt. Doch wird das im nächsten Jahr auch noch so sein?

Ein Blick auf ein paar Indizien, die nicht deprimieren: Die Arbeitslosenzahlen erfreuen AMS-Chef Johannes Kopf nach wie vor von Monat zu Monat. Zwischen Juli und September stieg die Zahl der Erwerbstätigen im Vergleich zum Vorjahresquartal um 2,1 %, die Zahl der Arbeitslosen ging um 9,5 % zurück. Gleichzeitig stellten 218.100 offene Stellen einen Rekordwert dar. Ein zweites Indiz: die Leiharbeiter. Sie gelten als Rezessionsfühler, nach der Logik: Bevor ich fixe Mitarbeiter kündige, reduziere ich erst einmal hier. Aber auch da tat sich nichts. Drittens gelang es den EU-Staaten bisher überraschend gut, ihre Gasspeicher zu füllen, so dass akute Produktionsausfälle unwahrscheinlicher werden. In chaotischen Zeiten bleibt die demographische Entwicklung eine Konstante und bildet Indiz Nummer vier: Die Pensionswelle der Babyboomer macht vor der Krise nicht halt, sondern sorgt weiter für freie Stellen.

Arbeitsmarktexperte Rainer Eppel rechnet, dass im kommenden Jahr die Arbeitslosigkeit zwar steigen wird, allerdings nur leicht. „Denn Betriebe werden mit dem Stellenabbau zurückhaltend sein und eher versuchen, Mitarbeiter zu halten, da sie gemerkt haben, wie schwierig es ist, welche zu finden.“

Lockt noch ein Pendlerleben?

Durch die pandemische Durchsetzung des Homeoffice ist es attraktiver geworden, weiter weg zu ziehen. Nicht in den Speckgürtel, sondern gleich ganz aufs Land. Die Wohnpreise sind am Dorf oft günstiger und ins Büro musste man ja nicht mehr. Zwei Jahre später ist diese Vision brüchig geworden. Heizkosten und teures Benzin machen trotz Pendlerpauschale das Leben unerfreulicher. Die Büros füllten sich, sobald die Temperaturen sanken, berichten viele Unternehmen. Laut Statistik Austria war es im Oktober um knapp 18 Prozent teurer, ein Auto zu haben, als vor einem Jahr. Der hohe Strompreis macht auch Elektroautos nicht gerade zur attraktiven Alternative. Heuer wurden bisher um elf Prozent weniger Autos neu zugelassen. Gleichzeitig kauften überraschend viele Menschen ein Klimaticket – der Öffi-Verkehr war die seltene Ausnahme, bei der die Preise nach unten gingen. Trotz fossiler Förderungen wie dem Pendlerpauschale wird es rational immer weniger vertretbar, sich ein Auto zuzulegen.

Kann man seine Hoffnung in Aktien setzen?

Die Zinsen steigen, das Sparbuch ist dadurch aber nicht zurück. Bei der Erste Bank liegen die Sparzinsen derzeit bei unter einem Prozent, bei der Bank Austria sind 1,5 Prozent das höchste der Gefühle. Beide Banken sagen klar: Mit klassischem Sparen wird es auf absehbare Zeit unmöglich sein, mehr Rendite zu erzielen, als die Inflation kostet.

Wie schaut es aber mit Aktien aus? Der S&P 500, der die 500 größten börsennotierten Unternehmen in den USA abbildet, hat im Verlauf des Jahres sechzehn Prozent seines Werts verloren. Sein deutsches Pendant, der DAX, ist um zehn, der österreichische ATX um achtzehn Prozent weniger wert als vor einem Jahr. Viele Tech-Aktien haben ein ernüchterndes Jahr hinter sich. Öl und Rohstoffe schlugen sich hingegen gut. Ein Vergleich der Bank of America Corporation zeigt: Rohstoff, Öl und Dollar haben sich heuer rentiert; Firmenbonds, Staatsanleihen und Aktien nicht. An letzter Stelle steht Bitcoin. Der Wert der Kryptowährung ist auf gut 16.000 USD abgestürzt. US-Notenbankchef Jerome Powell hat für das kommende Jahr eine weniger aggressive Gangart bei den Zinsen angekündigt. Eine gute Nachricht – zumindest – für Aktienmärkte.

Urlaub, Essen gehen, Konzert, Theater und Co.? Wird es irgendwann wieder billiger? Kann man sich 2024 wieder mehr Luxus und Völlerei leisten?

In meinem Lieblingslokal kostet das Schnitzel zwar immer noch gleich viel, dafür wird beim Butterschmalz gespart. In vielen Gasthäusern ist das anders, dort stellt sich schon die Frage: Wo liegt die Schmerzensgrenze? Naheliegenderweise reagieren Menschen bei nicht lebensnotwendigen Produkten viel empfindlicher auf Preisanstiege als etwa bei Medikamenten und Grundnahrungsmitteln.

Mit dem Ende der Lockdowns füllten sich die Lokale wieder. Jetzt merken aber 70 Prozent der Gastronomen, dass ihre Gäste sparsamer sind, heißt es von der Wirtschaftskammer. Die Gäste bestellen weniger, bleiben weniger lang sitzen. Zwischen Juli und September verzeichneten Gastronomie, Hotels, Sport- und Kultureinrichtungen im Schnitt ein negatives Geschäft, so die Zahlen der Statistik Austria.

Eine gute Nachricht für das kommende Jahr ist allerdings: Die bisherigen Kollektivvertragsabschlüsse für 2023 liegen über dem Inflationsschnitt der vergangenen 12 Monate. Zu den hohen Lohnabschlüssen kommen Entlastungsmaßnahmen der Regierung. „Die realen Nettoeinkommen im Jahr 2023 steigen trotz hoher Inflation, nach einem realen Einkommensminus 2022“, sagt Arbeitsmarktexperte Rainer Eppel vom WIFO.

Eine Lohnpreisspirale, die dieses Jahr vor allem von Arbeitgeberseite an die Wand gemalt wurde, zeichnet sich bisher nicht ab, sagt sein Kollege Stefan Ederer. „Die Lohnabschlüsse fallen zwar hoch aus, aber die Energiepreise sinken und das wird die Inflation dämpfen.“ Das heißt zwar im Umkehrschluss nicht, dass das Leben billiger wird. Aber immerhin nicht noch viel viel teurer.

Clara Peterlik

Clara Peterlik

ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.