Wie es nach dem Ende des Gas-Transitvertrags in der Ukraine weitergehen könnte
Von Marina Delcheva
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Naturgeschützte Storch-Nistplätze, flache Felder, ein Horizont voller Windräder – und zuletzt 86 Terawattstunden Gas aus Russland. Die niederösterreichische 207-Seelen-Gemeinde Baumgarten an der March ist über die Jahrzehnte zum bedeutendsten Gasknotenpunkt Europas aufgestiegen. Im Kalten Krieg war der Gashub, welcher heute von Gas Connect Austria betrieben wird, die einzige offene Tür in den Osten. Bis Kriegsbeginn kam ein Drittel aller russischen Gasexporte hier an und wurde in Richtung Westen geleitet. Heute sind die Gasrohre, die in die Verdichtungsstation führen, die letzte direkte Gasverbindung nach Russland. Ende des Jahres könnte diese Verbindung aber zumindest in ihrer derzeitigen Form gekappt werden und der 66-jährigen österreichisch-russischen Gasfreundschaft ein holpriges Ende setzen.
Nur noch bis Jahresende ist die Ukraine vertraglich verpflichtet, russisches Gas durch das eigene Staatsgebiet zu leiten (siehe Grafik). Was danach kommt, weiß derzeit niemand. Dass sich der staatliche ukrainische Energiekonzern Naftogaz und die russische Gazprom über einen neuen Vertrag einigen, ist angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands illusorisch.
Ganz anders in Österreich: 98 Prozent der heimischen Gasimporte kamen im Dezember aus Russland. Im Jahresdurchschnitt 2023 waren es laut Daten des Energie-Dashboards des Energieministeriums 67 Prozent. Von Diversifikation also keine Spur. Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) hat deshalb Anfang der Woche angekündigt, Energieunternehmen per Gesetz verpflichten zu wollen, gewisse Anteile aus nichtrussischen Quellen zu beschaffen. Außerdem sollen sie einen Nachweis erbringen, dass sie ihre größten Lieferanten im Notfall schnell ersetzen können. Ein entsprechender Gesetzesvorschlag soll demnächst kommen.
„Ich verstehe nicht, warum das bisher nicht passiert ist“, sagt die Energiesprecherin der NEOS, Karin Doppelbauer. „Wir zahlen damit direkt in die Kriegskassa ein“, meinte die Mandatarin kürzlich bei einem Pressegespräch. Derzeit seien die Bedingungen für neue, nichtrussische Gasquellen besonders gut, denn die Gaspreise sind mit rund 23 Euro pro Megawattsunde im Großhandel wieder auf das Niveau von 2021 gesunken, und es gibt genug Gas am Markt. Das NEOS-Lab hat auf Basis von Handelsdaten der Statistik Austria berechnet, dass österreichische Importeure im Vorjahr 3,5 Milliarden Euro für russisches Gas bezahlt haben.
Dass nichts passiert sei, lässt man im Energieministerium nicht gelten: „Wir haben seit Anfang 2022 umfangreiche Maßnahmen gesetzt. Von der Sicherung der Gasversorgung im Jahr 2022 bis zu finanziellen Anreizen für die Gasdiversifizierung. Diese Schritte haben gewirkt – es gab keine Knappheit, und der Anteil an russischem Erdgas ist insgesamt zurückgegangen.“ Dass die Anteile wieder steigen, liege daran, dass einzelne Gasversorger zu wenig in puncto Diversifizierung getan hätten, heißt es aus dem Ministerium.
Zurück zum Gastransit: Wie könnte Österreichs Gasversorgung ab dem 1. Jänner 2025 also aussehen? Vier mögliche Szenarien. Freilich unter Vorbehalt; denn seit Kriegsbeginn gilt: Alles ist möglich.
Kein Transit, kein Liefervertrag
1968 schloss die damals staatliche OMV den ersten Gasliefervertrag mit der damaligen UdSSR. Es war das erste Unternehmen auf der Westseite des Eisernen Vorhangs, das überhaupt offizielle Geschäftsbeziehungen mit der Sowjetunion einging. Das letzte Mal wurde der Vertrag 2018 erneuert – ganz ohne Zeitdruck übrigens, er wäre erst 2028 ausgelaufen. Er läuft nun bis 2040. Zur Vertragsverlängerung waren Russlands Präsident Wladimir Putin und Gazprom-Chef Alexej Miller eigens nach Wien gereist.
Das Vertragswerk wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Bekannt ist aber, dass der Vertrag eine sogenannte Take-or-Pay-Klausel beinhaltet, welche die OMV verpflichtet, die vertragliche Mindestmenge zu bezahlen, egal ob sie diese abruft oder nicht. Sowie dass der Liefervertrag ab dem Gasknotenpunkt Baumgarten gilt. Bis dahin muss die Gazprom liefern und ab da muss die OMV kaufen. Wenn aber die russische Gazprom ihrer Lieferverpflichtung bis zur österreichischen Grenze nicht nachkommt, könnte die OMV das als Vertragsbruch auslegen und aus den Verträgen auszusteigen versuchen.
„Wir können die Zukunft des Vertragsverhältnisses zwischen dem ukrainischen Pipelinebetreiber und Gazprom Export nicht beurteilen. Die OMV hat sich jedoch auf Szenarien einer Unterbrechung der russischen Gaslieferungen vorbereitet“, heißt es auf Nachfrage aus der OMV-Pressestelle. Im letzten Jahr war das Unternehmen in Sachen Alternativen tatsächlich sehr aktiv. Man verweist auf die eigene Gasproduktion in Norwegen, neue LNG-Lieferverträge und auf zusätzliche Transportkapazitäten für Gas, das über Deutschland oder Italien ins Land kommen könnte. Aus dem Konzern ist hinter vorgehaltener Hand schon länger zu hören, dass man mittlerweile wenig Freude mit dem Vertrag hat.
Gas-Freundschaft
Ex-OMV-Chef Rainer Seele, Ex-Kanzler Sebastian Kurz, Präsident Wladimir Putin und Gazprom-Chef Alexei Miller während der Vertragsunterzeichnung in Wien 2018.
Die OMV ist zwar der größte, aber bei Weitem nicht der einzige Importeur von russischem Pipeline-Gas. In Österreich sind um die 170 Gashändler tätig. Von den 86 Terawattstunden russischen Gases, die im Vorjahr in Baumgarten angekommen sind, entfallen lediglich 60 Terawattstunden auf die OMV.
EU-Länder sanktionieren russisches Gas
Anstatt auf einen abrupten Transitstopp zu warten, könnten die EU-Länder russisches Pipeline-Gas sanktionieren oder sukzessive zurückfahren. Ein Lieferstopp wäre heute jedenfalls verkraftbarer als 2022. EU-weite Sanktionen auf russisches Gas sind nicht geplant. Aber eine neue EU-Verordnung, die im April kommen soll, soll es den Mitgliedstaaten legistisch ermöglichen, russische Importe zu beschränken. Das Gesetz richtet sich aber vor allem an die Abnahme-Stationen an den EU-Außengrenzen und betrifft Österreich deshalb eher indirekt.
Aus der Energiebranche war in den vergangenen Monaten immer wieder zu hören: Wenn man kein russisches Gas mehr möchte, dann müsse man das politisch lösen. Einige Akteure fürchten wieder steigende Preise, wenn russisches Pipeline-Gas am EU-Markt gar nicht mehr verfügbar ist. Andere versuchen den Krieg auszusitzen und hoffen auf eine baldige Zeit danach.
Alles wie bisher, aber unter neuem Namen
„Russland hat natürlich ein Interesse, die Gaslieferungen weiterzuführen“, sagt der Politikwissenschafter und Russland-Experte Gerhard Mangott. „Die Frage ist nur, wer ein Interesse hätte, den Transitvertrag zu übernehmen?“ Energieexporte sind für Russland eine wichtige Finanzierungsquelle. Vor Kriegsbeginn machten die Einnahmen allein aus dem Gasgeschäft rund sieben Prozent des gesamten russischen Budgets aus. Wie viel es heute sind, wird vom Kreml nicht kommuniziert. Nachdem die staatliche Gazprom zahlreiche europäische Abnehmer verloren hat, dürfte der Anteil etwas gesunken sein.
Laut „Financial Times“ sei das Ergebnis vor Steuern der Gazprom im ersten Halbjahr 2023 um 40 Prozent eingebrochen und könnte laut der staatlich kontrollierten Russischen Akademie der Wissenschaft sogar bald ins Negative drehen. Und so paradox das auch klingt: Russland zahlt trotz Krieg noch immer rund vier Milliarden US-Dollar pro Jahr an die Ukraine für den Gastransit.
„Man könnte ein ähnliches Modell wie beim Getreideabkommen damals verhandeln, ohne dass eine Seite ihr Gesicht verliert“, meint Mangott. Ein dritter neutraler Akteur also, zum Beispiel ein europäisches Energieunternehmen, schließt einen Transitvertrag mit der ukrainischen Naftogaz ab, übernimmt das russische Gas schon an der ukrainisch-russischen Grenze, leitet es weiter in die EU-Länder und bezahlt Transitgebühren. Diese Lösung wäre jedenfalls im Sinne Russlands, und die Ukraine käme nicht in die Verlegenheit, eigentlich verbündeten EU-Staaten die Energieleitung zu kappen. Bisher hat aber noch niemand Interesse bekundet, das zu tun, zumindest nicht öffentlich.
Aber: Das ungarische Öl- und Gasunternehmen MOL hat mit der Ukraine bereits einen Transitvertrag für russische Öllieferungen abgeschlossen und selbst Pipelinekapazitäten gebucht, nachdem russisches Öl auf die EU-Sanktionsliste wanderte. Gut möglich, dass für die Durchleitung von Gas nun eine ähnliche Regelung getroffen wird. Die Ukraine könnte die Pipeline-Kapazitäten auch für die eigene Gasproduktion nutzen.
Der Transit von russischem Gas durch das Kriegsgebiet war bisher aber so etwas wie die Sicherheitsgarantie für die „Progress“-Pipeline. Obwohl das russische Militär in den vergangenen zwei Jahren immer wieder ukrainische Energieinfrastruktur angegriffen hat, blieb die Pipeline bisher ganz.
Russisches Gas auf Umwegen
Während der Anteil russischen Pipeline-Gases in Österreich noch immer sehr hoch ist, ist er EU-weit auf unter acht Prozent gefallen. Im gleichen Zeitraum sind die Flüssiggasimporte aus Russland in die EU allerdings stark gestiegen. Laut der britischen Umwelt- und Menschenrechts-NGO Global Witness, basierend auf Daten des französischen Branchenanalysten Kpler, gehen 52 Prozent der russischen LNG-Exporte in die EU.
Von den frostigen europäisch-russischen Beziehungen profitieren derzeit zumindest Russlands Nachbarstaaten – auch beim Gas. Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev empfing im Juli 2022 EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Baku, um medienwirksam einen Gasliefervertrag für die EU-Staaten zu unterzeichnen. 20 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich soll das kaukasische Land bis 2027 liefern. Einige Monate später, am 15. November 2022, unterzeichneten wiederum die aserische Gasgesellschaft Socar und die russische Gazprom einen weiteren Gasliefervertrag, der diesmal russisches Gas nach Aserbaidschan befördern soll. Solange Gas gebraucht wird, findet es also seinen Weg in die EU – auch das russische.
Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".