Wie heimische Greißler ums Überleben kämpfen
Eyup Işik hievt Kartons voller Gemüse auf seinen Hochhubwagen und karrt sie in seinen kleinen Supermarkt in Wien-Meidling. Der Kleinlaster ist voll. Der Händler war die halbe Nacht auf dem Großgrünmarkt und hat dort Ware, die nicht für die großen Lebensmittelketten bestimmt ist, für sein Geschäft eingekauft. Die Gurken hat er zum Beispiel um 70 Cent pro Kilogramm erworben und wird sie um 1,90 Euro das Kilo an seine Kunden weiterverkaufen. Im Umkreis von gut 300 Metern betreiben drei große Supermarktketten eigene Filialen. Dort kosten Gurken, aber auch ein paar andere Nahrungsmittel etwas mehr.
„Es ist alles richtig teuer geworden. Ich zahle für Miete, Betriebskosten, Energie und für meine Waren heuer um 30 Prozent mehr als vor einem Jahr. Meine Gewinnmarge wird immer kleiner“, erzählt Işik. Weil der Lebensmitteleinkauf für viele Menschen mittlerweile „richtig teuer“ ist, luden Sozialminister Johannes Rauch, Vizekanzler Werner Kogler (beide Grüne) und Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) rund 40 Branchenvertreter vergangenen Montag zum Lebensmittelgipfel ins Sozialministerium. Um 14,3 Prozent sind die Lebensmittelpreise laut Statistik Austria im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Das ist zwar weniger als in Deutschland oder Ungarn, wo Lebensmittel heuer um 21,8 beziehungsweise 44 Prozent teurer sind. Aber: Die gleichen Produkte sind in heimischen Supermärkten um 13 Prozent teurer als im benachbarten Deutschland, so die EZB jüngst. Rewe und Spar rechtfertigten die höheren Preise mit höheren Lohnkosten hierzulande, einem kleineren Markt und damit weniger Verhandlungsmacht gegenüber Weltmarken. Zudem seien die Gewinnmargen deutlich kleiner als in anderen Branchen.
Der Gipfel blieb ergebnisoffen; abgesehen von der Ansage, für mehr Preistransparenz, zum Beispiel mittels Preisdatenbank, sorgen zu wollen und die Bundeswettbewerbsbehörde genauer prüfen zu lassen. Eine Ansage seitens der Handelsvertreter sorgte aber doch für Verwunderung: Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbands, rechtfertigte die hohen Lebensmittelpreise damit, dass ein „Greißlersterben drohe“, wenn die großen Ketten die Preise jetzt stark senken würden. Wie abhängig sind die wenigen verbliebenen Greißler von der Preispolitik bei Spar, Rewe oder Hofer?
„Wenig Rücksicht bisher“
„Wie sich die Preise im Supermarkt entwickeln, hat mittlerweile wenig Auswirkungen auf mich. Und es wäre mir neu, dass sich die großen Ketten Sorgen um kleine Greißler machen“, sagt Andreas Drazil. Er betreibt den „Greißler mit Herz“ in Wien-Döbling, zwischen Gemeindebau und Nobelvilla. Drazil ist einer von 2500 kleinen Einzelhändler in Österreich, die laut Wirtschaftskammer 4100 Geschäfte betreiben. Im circa 30 Quadratmeter großen Geschäft mit dazugehöriger Gastwirtschaft verkauft er regionale Teigwaren, Käse, Wein, Kaffee und täglich zwei Mittagsgerichte. Wer hierher kommt, braucht gerade nichts vom Supermarkt. Kunden kaufen zum Beispiel die Histamin-armen Weine. Und in den vergangenen Monaten komme es vor, dass Pensionistinnen und Pensionisten kleinere Einkäufe anschreiben lassen und zum Bezahlen kommen, wenn die neue Pension auf dem Konto ist. An der Supermarktkassa geht das nicht. Herr Drazil hat sein Geschäftsmodell längst an die große Konkurrenz angepasst, um zu überleben.
Österreich hat mit 60 Supermärkten pro 100.000 Einwohner die höchste Supermarktdichte in der EU. Eigentlich sollte mehr Angebot zu mehr Konkurrenz und damit zu niedrigeren Preisen führen. „Bei Lebensmitteln ist das aber nicht der Fall“, erklärt Ökonom Franz Sinabell vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Wer mehr Filialen betreibt, mit teils kleiner Verkaufsfläche, muss mehr Geld für Logistik, Miete, Personal und Energie zahlen. Die Kosten werden weitergereicht. „Die Taktik der großen Lebensmittelhändler, viele Filialen zu betreiben, macht es für Menschen bequemer, einzukaufen, aber es wird dadurch nicht günstiger.“
Hinzu kommt, dass fast alle diese Filialen von nur vier Lebensmittelketten betrieben werden. Rewe (Billa, Penny, Bipa), Spar, Hofer und Lidl haben laut dem Marktforschungsunternehmen RegioData einen Marktanteil von 91 Prozent. Alle anderen Händler wie Drazil und Işik teilen sich den Rest des Umsatzkuchens. Zum Vergleich: Im benachbarten Deutschland entfallen auf die großen Vier – Edeka, Rewe, Aldi und die Schwarz-Gruppe – 70 Prozent des Lebensmittelmarktes. In Österreich würde mehr Wettbewerb – hier sind sich Ökonomen einig – dem Markt und damit den Preisen gut tun.
Die Marktdominanz bringt auch mehr Verhandlungsmacht, wie der im März veröffentlichte Jahresbericht des Fairness-Büros zeigt. Dort haben Bauern und Lieferantinnen die Möglichkeit, anonym unfaire Handelspraktiken anzuprangern. Seit der Gründung vor einem Jahr beschweren sich im Schnitt vier Lieferanten pro Woche. Der Vorwurf: Eine Vielzahl teils kleiner Lieferanten verhandelt mit einigen wenigen großen Ketten. Rabattaktionen würden oft auf die Lieferanten abgewälzt. „Offenbar ist die Anzahl der vom Fairnessbüro aufgezeigten Fälle im Vergleich zu den 10.000en Geschäftsbeziehungen, die der LEH mit Lieferanten unterhält, erfreulicherweise gering“, schreibt ein Rewe-Sprecher zu den Vorwürfen auf Nachfrage. „Aktionen im Handel bedeuten nicht automatisch, dass die Lieferanten für ihre Produkte einen niedrigeren Preis erhalten. In vielen Fällen investiert der Handel selbst in die Aktionen, in anderen Fällen werden die Kosten geteilt.“
Zurück nach Meidling: Auch das Geschäftsmodell von Herr Işik fußt auf Anpassung, nicht nur beim Preis. In den Regalen finden sich türkische und niederösterreichische Milchprodukte, arabische Fladen, ukrainische Süßigkeiten, Halal-Fleisch. Ein Drittel seiner Kundschaft seien Türken, ein Fünftel Araber und rund zehn Prozent Österreicher, schätzt er. „Meine Kunden haben die Preisdatenbank im Kopf. Sie müssen aufs Geld schauen.“ Mit steigender Inflation nehmen die Waren im Einkaufswagen ab. Zuerst haben seine Kunden bei den Süßigkeiten zu sparen begonnen. Jetzt halten sie sich immer öfter beim Fleisch zurück. „Ob die Großen ihre Preise leicht heben oder senken, ist egal“, sagt er. Ganz im Gegenteil: Wenn die Kunden anderswo weniger zahlen müssen, kaufen sie vielleicht wieder mehr bei ihm.