Wie Unternehmen in Österreich mit künstlicher Intelligenz umgehen
"Ich glaube nicht, dass es einen Verlag wie unseren in fünf Jahren noch geben wird.“ Gernot Winter hat seit Wochen vor allem eines im Kopf: Wie künstliche Intelligenz – kurz: KI – seine Branche, die Wirtschaft, die Gesellschaft und sein eigenes Leben verändern wird. Dem 50-Jährigen gehört die Hälfte des kleinen Wiener Verlags Wirl & Winter, der etwa ein Print-Kulturmagazin und ein Magazin für Personalwesen herausgibt. Sehr spezialisierte Hefte, die über Abos vertrieben werden. Das mag in einer digitalen Welt altmodisch wirken – bisher hat das Unternehmen den Wandel jedoch gut mitgemacht.
Winter glaubt aber, dass jetzt wirklich ein neues Zeitalter anbricht. Innerhalb von wenigen Wochen hätten sich die Anbieter von AI-Anwendungen (AI ist die Abkürzung für künstliche Intelligenz auf Englisch, Artificial Intelligence) vervielfacht, die alle fast das Gleiche machen. „Die Technologie wird rapide besser. Was in der Vergangenheit ein Jahr gedauert hat, wird in Zukunft ein Monat dauern. Man kann sich vorstellen, was in zwei, drei Jahren gehen wird“, sagt Winter.
„Da herrscht einfach totale Wildwest-Stimmung."
Die Website seines Unternehmens hat Winter bereits mit einem Chatbot ausgestattet, also einem Programm, das menschenähnliche Konversationen führen kann und Anfragen zur Firma automatisch beantwortet. Auch beim Recherchieren habe er bereits KI eingesetzt, und zu Testzwecken sei auch ein vollständig von KI geschriebener Artikel erschienen, natürlich gekennzeichnet. „Man wäre verrückt, es nicht zu verwenden. Wir werden alle mit KI arbeiten lernen“, ist Winter überzeugt. Und trotzdem: Noch müsse man sich intensiv damit auseinandersetzen, um die neuen Werkzeuge zielgerichtet anwenden zu können. Vieles sei ungenau, unausgereift. Eigentlich gäbe es für ihn jetzt mehr Fragen als Antworten bei künstlicher Intelligenz. „Da herrscht einfach totale Wildwest-Stimmung“, sagt Winter.
Plötzlich macht es Boom
Das hat vor allem mit einer Anwendung zu tun, nämlich ChatGPT – und damit vor allem mit Sprache. Denn die letzten drei Buchstaben stehen für „Generative Pre-trained Transformers“ – also eine Technologie, die kurz gesagt in der Lage ist, Texte zu verstehen und selbst zu verfassen. Der Transformer wird dafür mit großen Textmengen trainiert. „Durch dieses Pre-Training kann das Modell das Sprachmuster, den Kontext und die Beziehungen zwischen den Wörtern erfassen,“ schreibt ChatGPT über sich selbst.
Wirklich neu ist das nicht. Das vor acht Jahren gegründete und unter anderem vom US-Milliardär Elon Musk (Tesla, Twitter) und Microsoft unterstützte KI-Unternehmen OpenAI hat die erste Version von ChatGPT bereits 2018 veröffentlicht. Es folgten mehrere Zwischenschritte, noch ohne großes Aufsehen zu erregen. Das änderte sich vergangenes Jahr schlagartig, als OpenAI die dritte Version von ChatGPT herausbrachte, die laut dem Unternehmen bereits mit Milliarden von Sätzen trainiert wurde und teilweise gesunden Menschenverstand nachbilden kann. Gegen Bezahlung ist mittlerweile auch schon die vierte Ausbaustufe von ChatGPT verfügbar.
Innerhalb weniger Monate ist ChatGPT jedenfalls zu einer der bedeutendsten Internet-Plattformen aufgestiegen. Es gibt Schätzungen, wonach es überhaupt die am schnellsten wachsende Anwendung jemals ist, denn bereits Anfang des Jahres hätten schon über 100 Millionen Menschen ChatGPT genutzt. Innerhalb von nur fünf Tagen hatte die Anwendung bereits eine Million Nutzerinnen und Nutzer. Um das zu erreichen, hat Apple beim iPhone mehr als zwei Monate gebraucht, Facebook zehn Monate und Netflix über drei Jahre, so das Beratungsunternehmen McKinsey.
Das Ende der Menschheit?
Seit dem Aufkommen von ChatGPT zeigte sich, dass die rasant besser werdende KI große Teile der Zentralmatura bestehen, täuschend echte Fotos generieren und Weltuntergangsszenarien heraufbeschwören kann. Gerade erst hat ein vermutlich mittels KI generiertes Foto in den USA einen Anschlag auf das Pentagon in Washington vorgetäuscht, woraufhin die Börsenkurse kurzfristig eingebrochen sind, bis die wahren Umstände aufgeklärt wurden.
Und letztes Jahr haben Hunderte Forscherinnen und Forscher bei einer Befragung angegeben, dass zumindest eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit bestehe, dass KI die Menschheit irgendwann ausrotten werde.
Dass die aktuellen Betreiber von Plattformen wie ChatGPT kaum reguliert werden und die Anwendungen eine Gefahr für freie und demokratische Gesellschaften darstellen können – das hat zuletzt die EU dazu veranlasst, Regeln für den Umgang mit KI einzuführen. So könnte es in Zukunft Gesetze geben, die es verbieten, dass KI-Anwendungen etwa „manipulative, ausbeuterische und soziale Kontrollpraktiken“ darstellen. Das EU-Parlament hat dazu bereits eine Richtlinie auf den Weg gebracht. Beim kürzlich zu Ende gegangenen Gipfel der G7 in Japan haben die Staats- und Regierungschefs der westlichen Industrieländer beschlossen, technische Standards für „vertrauenswürdige“ KI zu erarbeiten, um die Technologie in Einklang mit den demokratischen Werten der Länder zu bringen. Die Regierung in Österreich will noch kommendes Jahr eine KI-Behörde einrichten, die auch Gütesiegel für die Technologie entwickeln könnte.
Während viele rechtliche, moralische und demokratiepolitische Fragen also noch ungeklärt bleiben, durchdringt die KI nichtsdestotrotz schon jetzt viele Bereiche der Gesellschaft – und vor allem der Wirtschaft. Kleine Unternehmen wie der Verlag von Gernot Winter können leichter experimentieren als Konzerne, die oft aufwendigen Regeln und langwierigen Prozessen unterliegen. So lässt man selbst programmierte Chatbots Anfragen beantworten, speist seitenweise Recherchen in die KI ein, um sie zusammenzufassen, holt sich von den Anwendungen Inspiration für den Aufbau von Texten.
Der Gründer einer Werbeagentur erzählt, wie er seit dem Aufkommen von ChatGPT Präsentationen für seine Kundinnen und Kunden fast ausschließlich mithilfe dieser Anwendung erstellt, Meetings mit der dahinterliegenden Spracherkennung automatisch transkribieren und E-Mail-Anfragen ohne sein Zutun beantworten lässt. Oder die Architektin, die für Visualisierungen jetzt immer eine KI-basierte Anwendung verwendet, die ihr Ideen für den ersten Entwurf gibt, mit dem sie dann weiterarbeitet.
Gerade bei der Kommunikation mit der Außenwelt bringt KI schon jetzt sehr viel Nutzen, sagt Stevan Borozan vom Beratungsunternehmen Deloitte. „Denn das ist ein Spannungsfeld. Die Unternehmen wollen alles automatisieren, aber die Kundinnen und Kunden wollen individuell betreut werden. Da hat KI einen großen Hebel: Mit künstlicher Intelligenz kann man Standardthemen schnell identifizieren und beantworten. Dafür hat man mehr Zeit für spezielle Fälle, die mehr Aufmerksamkeit brauchen.“ Das kann bedeuten: Schriftliche Anfragen einordnen und nur dann telefonisch in Kontakt treten, wenn die KI nicht mehr weiterkommt.
Nicht alles gleich sinnvoll
Aber auch bei großen Dokumenten könne man mit KI viel Zeit sparen, etwa bei Versicherungsbedingungen: Mit einem gut trainierten Chatbot ließe sich dann schnell herausfinden, wo Änderungen gemacht wurden und wo man genauer hinschauen sollte, so Borozan, der Unternehmen vor allem bei Digitalisierungsthemen berät. Das seien sinnvolle sogenannte Use Cases – ein Begriff aus der Softwareentwicklung, der dazu dient, Anforderungen an ein System zu beschreiben und zu verstehen. „Ein Use Case kann beispielsweise beschreiben, wie ein Benutzer sich in einem Online-Shop anmeldet, ein Produkt auswählt und es in den Warenkorb legt, die Bestellung abschließt und schließlich die Zahlung durchführt. Jeder Schritt dieses Ablaufs wird im Use Case detailliert beschrieben“, schreibt ChatGPT dazu.
Nun gibt es Use Cases, die noch vor wenigen Monaten – ähnlich wie die KI selbst – nur für ein Randpublikum relevant waren und jetzt für viele Unternehmen in der Prioritätenliste ganz weit nach oben gewandert sind. Das Thema Energie etwa. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine vor mehr als einem Jahr haben die Preise für Gas, Strom und Treibstoffe zeitweise massiv zugelegt. Das belastet viele Firmen, vor allem jene mit hohem Energieverbrauch. Es ist also Energiesparen angesagt, und für manche ist das zu einer Existenzfrage geworden.
Das Wiener Start-up mit dem Namen nista.io sieht darin auch ein Geschäftsmodell. Es hat eine Software entwickelt, die mit KI arbeitet, den Energieverbrauch von Unternehmen analysiert und selbstständig Empfehlungen gibt, um die Gas- oder Stromrechnung deutlich zu senken. „Unser Ziel ist es, mit unserer Lösung irgendwann 20 Prozent der Treibhausgasemissionen in der Industrie zu reduzieren“, sagt Anna Pölzl, Mitgründerin von nista. Schon jetzt könnten Unternehmen mit der Software zwischen fünf und 20 Prozent der jährlichen Energiekosten sparen.
Dazu hat das Team des Start-ups die KI unter anderem mit physikalischen Gesetzen angereichert, die beim Energieverbrauch relevant sind. So könne die Software sehr schnell erkennen, wenn es Abweichungen gibt – zum Beispiel eine Maschine, die ungewöhnlich viel Strom verbraucht oder zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt läuft. Mithilfe der KI werden dann Empfehlungen erstellt, die von den Kundinnen und Kunden weiterverfolgt oder verworfen werden können. Die KI lernt auch dazu und soll so über die Zeit bessere Vorschläge machen. „Was daran neu ist: Alles läuft automatisch, von der Datensammlung, der Analyse bis zum Setzen von Aktionen. Es braucht keine Analysten oder Berater mehr, die das interpretieren“, sagt Pölzl.
Gerade kleine und mittelgroße Firmen hätten sich vor der Energiekrise kaum mit Energieeffizienz beschäftigt und daher auch keine Strukturen aufgebaut. „Viele Unternehmen wollen sich damit nicht beschäftigen, sondern nur noch wissen, was man ändern muss.“ Man gehe daher von zeitlich begrenzten Projekten weg und würde versuchen, das Thema Energiesparen mithilfe von KI im täglichen Betrieb zu verankern. Deshalb gibt es die Software von nista auch nur im Abo – für etwa 3000 Euro im Jahr. Laut Pölzl hat das vor drei Jahren gegründete Start-up seit dem Markteintritt im November bereits 25 Kundinnen und Kunden in Deutschland und Österreich gewonnen.
Dass künstliche Intelligenz von sich aus etwas generiert – seien es Vorschläge zum Energiesparen, Präsentationen oder Schularbeiten: Das ist der Kern des aktuellen Booms bei der Technologie. Bisher hat KI vor allem dazu gedient, Daten zu analysieren und zu interpretieren, womöglich Entwicklungen vorherzusagen. Mit der Weiterentwicklung hin zur sogenannten Generative AI – also generierender künstlicher Intelligenz – kann die KI jetzt wirklich Neues schaffen.
Das erzeugt auch Angst. Das Geschäft mit KI wächst rasant, manche Schätzungen gehen davon aus, dass der Markt bis 2030 jedes Jahr um ein Drittel zulegt.
Je tiefer die Technologie in die Gesellschaft vordringt, desto mehr Arbeitsplätze könnte sie ersetzen. Hier gehen die
Erwartungen in die Millionen – das Beratungsunternehmen Accenture hat mit der Prognose aufhorchen lassen, dass bis zu 40 Prozent aller Arbeitsstunden über alle Branchen hinweg wegen Anwendungen wie ChatGPT wegfallen könnten. Am stärksten würde sich das auf das Personal bei Banken, Versicherungen und Softwarefirmen auswirken, wo viel Zeit mit sprachlicher Interaktion verbracht werde – also vor allem mit Reden, Präsentieren und dem Schreiben von E-Mails.
Wohlstand auf dem Spiel?
In Österreich ging der für Digitalisierung zuständige Staatssekretär Florian Tursky (ÖVP) so weit, dass der Umgang mit KI letztlich auch darüber entscheiden werde, „ob wir weiterhin Wohlstand haben werden in unserem Land und in Europa“.
Für Stevan Borozan, den Berater von Deloitte, ist klar: „Trotz des revolutionären Aspekts von AI glaube ich nicht, dass viele Jobs wegfallen. Sie werden sich aber stark verändern.“ Noch würden sich in Unternehmen oft nur wenige Menschen mit KI auseinandersetzen. Man müsse das Wissen und die Werkzeuge für den richtigen Umgang mit der Technologie eben erst aufbauen. Da würden viele Firmen noch zögern, gerade in Österreich, wo man lieber mal abwarte, was die anderen so machen. „Es geht darum, wie man AI längerfristig im Unternehmen verankert“, sagt Borozan. „Da sollten alle eingebunden sein.“