Die georgische Heeresstrasse: Voll beladene LKS stauen sich südlich der russischen Grenze. Über diese Passstraße gelangen besonders viele Güter nach Russland.
Russland-Sanktionen

Wie Wirtschaftsgüter auf Umwegen nach Moskau kommen

Heimische Maschinen und Hightech-Produkte landen trotz Sanktionen in Russland – mit und ohne Wissen der Hersteller. Die Exporte in die Türkei und die Kaukasus-Länder sind zuletzt massiv gestiegen. Die Region gilt als Drehscheibe für Parallelimporte nach Russland.

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Allen Kriegen und Krisen zum Trotz läuft es in manchen Exportmärkten für die heimische Wirtschaft richtig gut. Fast schon zu gut. Denn heimische Unternehmen verkaufen ausgerechnet in jene Länder mehr Waren und Güter, die sich nicht an den EU- und US-Sanktionen gegen Russland beteiligen. Und die ihrerseits seit Kriegsbeginn deutlich mehr nach Russland exportieren. Zum Beispiel haben österreichische Betriebe im Vorjahr fast doppelt so viele Waren nach Armenien verkauft wie in den Jahren davor. In Georgien betrug der Zuwachs 26,5 Prozent. In die Türkei plus 23,6 Prozent (siehe Grafik).

Solche Entwicklungen – die übrigens in vielen anderen EU-Ländern ähnlich sind – sehen die Behörden nach mittlerweile elf Sanktionspaketen gegen Russland gar nicht gern und wittern Umgehungskonstruktionen im großen Stil. Denn eigentlich dürften seit Kriegsbeginn keine iPhones, Autos, Ersatzteile, Mikrochips oder Luxusklunker aus der EU – und somit auch aus Österreich – nach Russland verkauft werden. Nach einem kurzen Einbruch im Frühjahr 2022 sind die Regale der Moskauer Kaufhäuser aber wieder voll mit westlicher Ware. Und Ersatzteile sowie Mikrochips aus der EU poppen auch immer wieder in der russischen Kriegsindustrie auf.

Vor allem für lokale Frächter und Händler, aber auch für russische Unternehmen, die in den vergangenen Monaten Firmenstandorte in den Nachbarländern eröffnet haben, sind die sogenannten Parallelimporte, mit denen Russland gezielt Sanktionen umgeht, ein richtig gutes Geschäft. Und so ist ein vielschichtiges, komplexes und für Behörden nur schwer greifbares Distributoren-Netzwerk in Russlands neutralen Nachbarländern entstanden. Oft wissen das die Firmen auch, die mit Russland sanktionsbedingt einen gewichtigen Abnehmer verloren haben. „In der Branche ist es allgemein bekannt, dass Istanbul zum Beispiel ein Umschlagplatz für viele Industriegüter und deren Weiterverkauf nach Russland ist“, sagt ein heimischer Industrievertreter, der mit dieser Aussage nicht namentlich von profil zitiert werden will.

Aus Österreich wurden heuer profil-Informationen zufolge überdurchschnittlich viele Fahrzeuge und Autoersatzteile, Maschinenbau-Erzeugnisse und -Ersatzteile sowie Getränke in die Türkei und in die Kaukasus-Länder exportiert. Eine Sonderauswertung der Statistik Austria für profil zeigt außerdem: Der Export von Halbleiterelementen nach Kasachstan ist massiv gestiegen, während jener nach Russland auf Eis liegt. Und in die Türkei hat die heimische Wirtschaft heuer viermal so viele Bau- und Ersatzteile für automatische Drehmaschinen verkauft als im vergangenen Jahr. Das sind Erzeugnisse, die auf der Sanktionsliste stehen.

Russland importiert auf Vorkriegsniveau

„Die russische Wirtschaft hat sich an die neuen Bedingungen angepasst“, sagt Vasili Astrov. Er ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), das vergangene Woche seine Wirtschaftsprognose für Osteuropa vorgestellt hat. Für Russland gilt: Das Wirtschaftswachstum soll heuer 2,3 Prozent betragen, die Reallöhne steigen um fast sieben Prozent, erklärt Astrov. Während die russischen Importe kurz nach Kriegsbeginn 2022 um 40 Prozent eingebrochen sind, importiert die Russische Föderation heute wieder genauso viel aus dem Ausland wie vor dem Krieg. Aber eben nicht mehr aus der EU oder den USA, sondern aus China, der Türkei, Indien oder den Kaukasus-Ländern.

Während die Ausfuhren aus der EU nach Russland sanktionsbedingt um 80 Prozent eingebrochen sind, exportieren die EU-Länder um 30 Prozent mehr sanktionierte Wirtschaftsgüter nach Georgien, Armenien und Kirgistan. Bei den nichtsanktionierten ist ein derartiger Anstieg nicht zu beobachten. Das zeigt eine Untersuchung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Auch deshalb hat sich der EU-Rat im Sommer darauf geeinigt, „die Durchfuhr von Gütern und Technologien, die zur militärischen und technologischen Stärkung Russlands oder zur Entwicklung seines Verteidigungs- und Sicherheitssektors beitragen könnten, von Gütern und Technologien, die für die Verwendung in der Luft- oder Raumfahrtindustrie geeignet sind, sowie von Flugturbinenkraftstoffen und Kraftstoffadditiven“ zu verbieten, wie es im Beschluss heißt. Vor Ort soll auch genauer überprüft werden.

In der Praxis ist dieses Verbot aber kaum kontrollierbar. Westliche Unternehmen, die sich an Sanktionen halten müssen, schließen einen Liefervertrag mit einem regionalen Abnehmer. Was danach mit ihrer Ware passiert, unterliegt dann meist nicht mehr ihrer Kontrolle. Und in vielen Fällen landet diese quasi ungewollt über zwischengeschaltete Händler und Frächter in Russland. Bei Mikrochips ist das besonders heikel. Denn diese braucht Russland ganz dringend in allen Bereichen – auch in der Kriegsindustrie. Weil Russland keine nennenswerte Chipproduktion hat, ist man auf das Ausland angewiesen. Das russische Investigativ-Portal Verstka hat auf Basis von Zolldaten ermittelt, dass Russland eigentlich sanktionierte Mikrochips im Wert von mehr als 500 Millionen US-Dollar eingeführt hat, vor allem über China und Hongkong. Darunter waren auch Halbleiter des deutschen Produzenten Infineon, der eine Österreichtochter hat. „Die Einhaltung der geltenden Gesetze hat für Infineon eine überragende Bedeutung, und wir haben zuverlässige Richtlinien und Prozesse zu ihrer Einhaltung eingeführt. Es ist äußerst schwierig, den Weiterverkauf eines Produkts über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu kontrollieren“, heißt es von Infineon auf Nachfrage. „Infineon hat alle Vertriebspartner weltweit angewiesen, verlässliche Maßnahmen zu ergreifen, um eine Lieferung von Produkten beziehungsweise die Erbringung von Leistungen im Namen von Infineon, die gegen die Sanktionen verstoßen, zu unterbinden.“

Auch der heimische Kranhersteller Palfinger hat mit Kriegsbeginn die Beziehungen zu seinem russischen Ableger gekappt. Das Unternehmen beliefert aber weiterhin die Kaukasus-Länder. Angesprochen auf die Problematik der Sanktionsumgehung heißt es gegenüber profil: „Generell ist unser internationales Händlernetzwerk, auch in der Kaukasusregion, darüber informiert, keine Weiterverkäufe in die Russische Föderation zu tätigen. Darüber hinaus setzt Palfinger bei Exporten in exponierte Staaten auf interne Prüfprozesse, um Sanktionsumgehungen zu vermeiden.“ Auf die Nachfrage, wie die Prüfprozesse genau aussehen, verweist man auf Firmeninterna.

Der Ware auf der Spur

Um die Warenströme zu verfolgen, können die Unternehmen Experten beauftragen – spezialisierte Berater. profil hat mit einem solchen gesprochen. Da diese Tätigkeit vom Kreml naturgemäß nicht gerne gesehen wird, unter dem Siegel der Anonymität.

Der Experte macht sich bezüglich der Motivation seiner Kundschaft nichts vor: Vielen der Unternehmen gehe es nicht um die Menschenrechtssituation. Sie haben stattdessen Angst vor den USA. „Betriebe, die ein aktives US-Geschäft haben, sind extrem vorsichtig“, erklärt der Spezialist – und zwar auch bei Produkten, die per se gar nicht sanktioniert sind. Die USA würden nämlich direkt das Management rechtlich belangen, wenn ein Problem auftritt.

„Gefühlt gehen zwei Drittel des Warenverkehrs von Europa nach Russland über Georgien.“

Sicherheitsberater (anonym)

Dass ihre Produkte in Russland gelandet sind, erfahren europäische Anbieter mitunter, wenn sich die dortigen Endabnehmer mit Reklamationen melden, weil etwas nicht funktioniert. „Sehr häufig wissen die Endkunden in Russland gar nicht, wie die Ware importiert wurde“, sagt der Experte. Vieles laufe über Mittelsleute in Drittländern – sogenannte „Distributoren“. Estland lasse zum Beispiel viele Waren durchgehen. Der Löwenanteil entfalle aber auf die Türkei. Von dort geht es dann weiter nach Georgien und über eine bestimmte Passstraße nach Russland. „Gefühlt gehen da zwei Drittel des Warenverkehrs von Europa nach Russland durch“, meint der Unternehmensberater.

Natürlich ist es nicht bei jedem europäischen Exporteur so, dass dieser aus allen Wolken fällt, wenn seine Produkte plötzlich in Russland aufschlagen. Der Experte verweist darauf, dass gerade Industrieunternehmen einen genauen Überblick haben, wen sie bisher womit beliefert haben: „Die merken natürlich, wenn plötzlich von Firmen Ersatzteilbestellungen eingehen, die selbst keine Produzenten in dem Bereich sind oder in einem Land sitzen, wo es gar keinen entsprechenden Bedarf gibt.“

Obwohl er selbst Sanktionsumgehungen aufdeckt, ist der Experte nicht unbedingt von der Sinnhaftigkeit der jetzigen Strafmaßnahmen überzeugt. Diese würden nur den Mittelstand treffen – jenen Teil der russischen Bevölkerung, von dem am ehesten ein demokratisches Zukunftspotenzial ausgehen könnte. Gleichzeitig würde das Distributoren-System einen riesigen Markt für Leute eröffnen, die der organisierten Kriminalität oder erst wieder dem russischen Staat und Oligarchen nahestehen. Verhindert würde der Warenverkehr letzten Endes nicht, lediglich verteuert. Ökonom Astrov meint: „Die EU-Länder können andererseits in der Praxis nicht sagen: Wir verbieten Importe in die Türkei oder nach Georgien.“ Vor allem, weil man dort die prowestliche Unterstützung in einem Teil der Bevölkerung verliert.

Von Sanktionsumgehung will man im Istanbul-Büro der Wirtschaftskammer, das auch für Georgien und Aserbaidschan zuständig ist, nichts wissen. „Wir hatten im vergangenen Jahr einen starken Anstieg in der gesamten Region“, sagt Gerhard Lackner, WKO-Wirtschaftsdelegierter in Istanbul. Vieles davon sei aber auf die gute Konjunkturentwicklung und langjährige Wirtschaftsbeziehungen zurückzuführen. „Außerdem gibt es zwar starke Zuwächse bei den Beträgen, aber nicht im gleichen Ausmaß bei den Mengen.“ Die Ware werde also teurer verkauft. Auf ihrer Website schreibt die WKO zu Aserbaidschan etwa: „Die aserbaidschanische Außenpolitik versucht weiter, eine Balance zwischen Russland, EU, USA und den Staaten der islamischen Welt zu finden.“

Wolle man die Sanktionen ernsthaft durchsetzen, müsse man bei den Banken ansetzen, über welche die Zahlungsströme laufen, resümiert der Warenstrom-Experte, mit dem profil gesprochen hat: „Für jeden Direktor einer kleinen armenischen Bank werden in Russland derzeit die roten Teppiche ausgerollt.“ Andere bevorzugte Transitländer für Geldströme seien Georgien, Aserbaidschan, die Türkei, Kasachstan und Kirgistan. Und er verweist auch darauf, dass Österreich mit der Raiffeisenbank International weiterhin direkt in Russland vertreten sei. Vor so weitreichenden Eingriffen schrecken aber die politischen Verantwortlichen zurück. Die Türkei ist in der NATO ein Puffer für Migrationsströme in die EU. Kasachstan und Aserbaidschan sind derzeit wichtige Importländer für fossile, nichtrussische Importe. Ganz verscherzen will man es sich mit diesen Ländern also auch nicht.

Marina  Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).