Wiener Musical-Ausbildung steht vor dem Aus
„Five, six, seven, eight“, ertönt es zackig aus den Fenstern in einem Hinterhof in Wien-Neubau. Auf das Kommando der Ausbildnerin setzt sich im Saal mit dem wandfüllenden Spiegel ein Dutzend junger Tänzerinnen und Tänzer zum Rhythmus der Musik in Bewegung. In den Schränken sind Ballett- und Jazzschuhe nach Größen und Farben sortiert, in den Gängen hängen Tutus in allen Farben des Regenbogens und Plakate vergangener Musicalproduktionen. Alexander Tinodi kann den Werdegang so ziemlich aller abgebildeten Darstellerinnen und Darsteller referieren. „Das ist Anna Rosa Döller“, erklärt der Inhaber des Performing Center Austria (PCA) und zeigt auf ein Foto. „Sie hat erst vergangenes Jahr ihren Abschluss gemacht und im heurigen Sommer bereits Eliza Doolittle, eine Hauptrolle in ‚My Fair Lady‘, bei den Seefestspielen in Mörbisch gespielt“, sagt Tinodi nicht ohne Stolz.
Die unter diesem Dach betriebene Performing Academy ist in der heimischen Musical- und Operettenszene eine fixe Größe. Hier bekommen junge Talente eine dreijährige professionelle Ausbildung in Tanz, Schauspiel und Gesang. Absolventinnen und Absolventen finden sich im Ensemble der Volksoper, in Produktionen der Vereinigten Bühnen Wien und stehen auch international unter Engagement. Zu den prominentesten Absolventinnen zählen die Schauspielerinnen Nina Proll und Lilian Klebow.
Strafrechtlich relevante Vorwürfe
Nun, mit Anfang September, soll ein neuer Jahrgang starten. Doch ob die Ausbildungsstätte den Betrieb aufrechterhalten kann, ist mehr als fraglich. Die Institution steht ökonomisch schwer unter Druck und kämpft um ihr Überleben. Tinodi sieht für die wirtschaftliche Misere die Stadt Wien und deren Unternehmen verantwortlich. Allen voran die im Verantwortungsbereich von SPÖ-Finanzstadtrat Peter Hanke stehende Wien Holding beziehungsweise deren Töchter. In hoch emotionalisierten Videos erhebt Tinodi schwere Vorwürfe – auch solche strafrechtlicher Natur. Die SPÖ Wien zerstöre vorsätzlich Österreichs erfolgreichste Musicalausbildung, so seine Überzeugung.
Noch im April wurden an der Performing Academy Aufnahmeprüfungen abgehalten. Doch nur wenige Wochen später folgte die Ernüchterung. Anfang Juli informierte Tinodi Studierende und Lehrkörper, dass eine Weiterführung wohl nicht finanzierbar sei. „Weil vonseiten der Stadt und der Wien Holding keinerlei Bereitschaft zu erkennen war, die von ihnen verursachten finanziellen Schäden zu bezahlen“, sagt Tinodi. 750.000 Euro sollen die Genannten zuschießen, damit die rund 40 angehenden Musicalstars ihre Ausbildung abschließen können, fordert Tinodi.
Tatsächlich ist die Vorgeschichte rund um diese Auseinandersetzung einigermaßen komplex und reicht weit zurück. Sie steht im Zusammenhang mit den Bemühungen der Stadt, den mit Auslastungsproblemen kämpfenden Gasometer zu beleben. In dem denkmalgeschützten Industriebau sollte mit der „Music City“ ein musikalisch-künstlerischer Ausbildungscluster etabliert werden. Neben der Pop-Akademie und dem Jam Music Lab wollte man 2011 auch die Performing Academy als Partner gewinnen. „Aufgrund der hohen Mietkosten und der notwendigen finanziellen Unterstützung für die Performing Academy durch unseren gewinn-orientierten Tanzkursbetrieb hat uns der budgetäre Spielraum gefehlt, und ich musste ablehnen“, sagt Tinodi. Zwei Jahre später wurde man dann doch einig: „Die Stadt sicherte zu, die PCA mit 350.000 Euro jährlich zu unterstützen sowie Altlasten von 360.000 Euro seitens der Wiener Stadthalle auszugleichen“, sagt Tinodi.
Alle Produktionen wurden ordnungsgemäß abgerechnet. Der vorgeworfene Vertragsbruch ist eindeutig widerlegt.
Über diese „Altlasten“ gehen die Wahrnehmungen auseinander. Unstrittig ist: Ab dem Jahr 2006 bestand eine Kooperation zwischen PCA, der Wien Holding, der Wiener Stadthalle und den Vereinigten Bühnen Wien, in deren Rahmen mehrere Shows, wie etwa die Disney-Musicals „Alice im Wunderland“ und „Aladdin“, auf die Bühne der Stadthalle gebracht wurden. PCA-Studierende standen dafür ganzjährig quasi als „stehendes Ensemble“ zur Verfügung. „Für diese Leistung war ein Kooperationsbeitrag vereinbart, der vonseiten der Wiener Stadthalle nicht zur Gänze beglichen wurde“, sagt Tinodi. Die Wien Holding widerspricht: „Alle Produktionen wurden ordnungsgemäß abgerechnet“, wie es in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber profil und „Der Standard“ heißt. Der dem Unternehmen vorgeworfene Vertragsbruch sei eindeutig widerlegt.
Trotz des nicht gerade friktionsfreien Verhältnisses wurden die Geschäftsbeziehungen fortgesetzt. 2014 begannen im Gasometer die Umbauarbeiten, um auf über 1500 Quadratmetern Tanzstudios einzurichten. Rund zwei Millionen Euro investierte die Stadt Wien beziehungsweise der gemeinnützige Bauträger Gesiba (eine Wien-Holding-Tochter). Im darauffolgenden Herbst zog die PCA im Gasometer ein. Doch die Gelder, mit denen Tinodi kalkuliert hatte, kamen nicht. Als für den Sommer 2015 eine Zahlung avisiert wurde, sei es laut Tinodi zu einer „bemerkenswerten Situation“ gekommen. In einer Besprechung habe Gesiba-Vorstandsdirektor Klaus Baringer gefordert, dass ein Teil der Förderung der MA 13 (Magistratsabteilung Bildung & Jugend) direkt an die Verpächterin, die GSE Gasometer Shopping- und Entertainment Center Vermietungs GmbH, überwiesen werden sollte. Und so geschah es auch: Von insgesamt 350.000 Euro gingen 198.000 Euro an die Gesiba-Tochter. „Die Überweisung dieses Betrages an die GSE erfolgte mit schriftlicher Zustimmung des Herrn Tinodi“, heißt es vonseiten der MA 13 und der Gesiba unisono. Die PCA sei von Beginn an den Pachtzins schuldig geblieben und habe keinerlei Zahlungen geleistet. Tinodi stellt das gar nicht in Abrede, doch er habe nur zugestimmt, weil er enorm unter Druck gesetzt worden sei: „Mir wurde beschieden, dass man uns andernfalls mit sofortiger Wirkung in Konkurs schicken würde.“ Der PCA-Leiter spricht von „Korruption“ und „Erpressung“. Er habe vehement gegen diese Vorgangsweise protestiert und darauf hingewiesen, dass dieses Budget für Lehrerhonorare benötigt werde.
Spitzentanz
Seit 1994 werden in der Performing Academy Nachwuchstalente in Tanz, Gesang und Schauspiel ausgebildet.
Das Gasometer-Gastspiel war nur von kurzer Dauer. Nach einer von der GSE als Verpächterin eingebrachten Räumungsklage zog die PCA im Herbst 2017 wieder aus.
Der Überlebenskampf des Alexander Tinodi ist ein zunehmend verzweifelter. Man wolle seine Ausbildung „liquidieren“, fürchtet er. Tatsächlich wurde die PCA in den Jahren 2017 bis 2020 mit insgesamt mehreren Hunderttausend Euro weiterhin von der Wien Holding unterstützt, um den laufenden Jahrgängen ihren Abschluss zu ermöglichen. Vertragliche Bedingung dafür war, dass die Performing Academy keine weiteren Studierenden aufnimmt. Damit wolle man künftig Auszubildende vor dem Schicksal schützen, plötzlich ihre Ausbildung zu verlieren, erklärt man seitens der Wien Holding.
Die PCA machte mithilfe eines privaten Sponsors dennoch weiter.
Doch die Pandemie machte Tinodis Hoffnungen zunichte, die Verluste wieder aufzuarbeiten.
Für den letzten Akt ist der PCA-Chef trotzdem noch nicht bereit. Doch die Fronten sind verhärtet. Sowohl die Wien Holding als auch Gesiba-Chef Baringer weisen alle Vorwürfe als haltlos zurück und kündigen rechtliche Schritte gegen Tinodi an. Die Wien Holding weist darauf hin, dass man die Einrichtung schon mehrmals vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch gerettet habe. Man beabsichtige nicht, sich neuerlich finanziell zu engagieren.
In der Szene werden diese Entwicklungen mit Bedauern beobachtet. Sollte die Performing Academy tatsächlich schließen müssen, „würde eine wichtige Institution fehlen, die junge talentierte Darstellerinnen und Darsteller ausbildet und fördert“, heißt es aus dem Büro von Mörbisch-Generalintendant Alfons Haider. Für die Musikstadt Wien wäre das freilich kein Renommee.