Wifo-Chef Gabriel Felbermayr erklärt im Gespräch mit profil, warum Wirtschaftsprognosen derzeit nicht so einfach sind.
Interview

Felbermayr: „Die Lage war genauso schlecht wie die Stimmung“

WIFO-Chef Gabriel Felbermayr über die unbemerkte Rezession, wie zuverlässig Wirtschaftsprognosen gerade sind und seine Wünsche an den Finanzminister.

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Herr Felbermayr, das WIFO und das IHS mussten letzte Woche ihre Konjunkturprognosen deutlich nach unten korrigieren, wie auch die deutschen Wirtschaftsforscher. Der Internationale Währungsfonds rechnet für Österreich heuer mit einem Miniwachstum von 0,1 Prozent, Sie mit einem Minus von 0,8 Prozent. Sind Wirtschaftsprognosen dieser Tage nicht ein bisschen Voodoo?
Felbermayr:
Also Voodoo sind sie sicher nicht. Aber in einer Zeit, in der die Riesenschocks der Corona-Krise noch nachwirken, wir auf den Energiemärkten absolute Ausnahmesituationen vorgefunden haben und an Europas Grenzen brutale Kriege stattfinden, sind Prognosen schwierig. Wir sind in einer Rezession, und gleichzeitig haben wir fast Vollbeschäftigung. Das ist nicht der Standardfall aus dem Lehrbuch. Wir haben am WIFO das Instrument des Konjunkturtests. Das ist eine umfassende und repräsentative Unternehmensbefragung, mit der wir recht präzise erheben können, wie die Betriebe die aktuelle Lage einschätzen und wie ihre Erwartungen für die nächsten sechs Monate sind. Dieses Instrument hat der Währungsfonds zum Beispiel nicht. Und in diesen Daten sehen wir, dass schon das dritte Quartal 2022 nicht so gut gelaufen ist und das vierte auch nicht gerade toll angefangen hat. Deshalb sind wir, was das Jahr 2023 angeht, nicht so optimistisch.

 

Wie kann es sein, dass wir ein Jahr lang Rezession haben, und niemand merkt es?
Felbermayr:
Die realen, verfügbaren Einkommen der Haushalte sind im Durchschnitt im Jahr 2023 gestiegen – und nicht gefallen. Dahinter verbirgt sich eine ganz unterschiedlich verteilte Betroffenheit. Die Einbußen müssen also irgendwo anders stattgefunden haben. Im Unternehmenssektor zum Beispiel, wo die Energiepreise stark zu spüren waren. Die Verschuldung des Staates trägt auch dazu bei, dass die Haushalte trotz Rezession keinen Kaufkraftverlust hatten. Außerdem ist die vierteljährliche Quartalsrechnung, die wir von der Statistik Austria bekommen, in so unruhigen Zeiten nicht punktgenau. Diese Schätzungen werden immer überarbeitet, weil auch viele Unternehmensdaten nachträglich gemeldet werden. In ruhigen Zeiten sind solche Revisionen klein, aber in unruhigen können sie größer sein. Im Nachhinein stellte sich also heraus: Die Lage war genauso schlecht wie die Stimmung.
Sie rechnen damit, dass die Inflation kommendes Jahr auf rund vier Prozent sinkt. Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie diese Prognose nach oben korrigieren müssen, angesichts der zahlreichen internationalen Kriegsherde, die jetzt wieder den Öl- und Gaspreis in die Höhe treiben?
Felbermayr:
Auch da haben wir hohe Unsicherheiten. Aber: nicht nur nach oben. Wenn der Iran die Straße von Hormus schließt und das Öl der Golfstaaten nicht mehr auf den Weltmarkt kommt, dann werden sich diese vier Prozent nicht ausgehen. Es gibt aber auch Risiken in die andere Richtung. Wir gehen noch davon aus, dass die USA ein „soft landing“ hinbekommen, also nicht in eine Rezession rutschen. Wenn aber die US-amerikanische Volkswirtschaft schwächelt, senkt das den Ölpreis und trübt die Weltwirtschaft ein. Aber das, was jetzt im Nahen Osten passiert, ist zunächst einmal inflationstreibend. Und wir wissen noch nicht, wie dieser Konflikt den Russland-Ukraine-Krieg beeinflussen wird.
Auf die Energiepreiseexplosion im Vorjahr folgten eine Reihe weiterer unerfreulicher Inflationsentwicklungen. War es im Nachhinein betrachtet ein Fehler, dass die Regierung nicht in die Energiepreise eingegriffen hat, wie das zum Beispiel Spanien gemacht hat?
Felbermayr:
Als Präambel: Der Energiemarkt ist nicht zusammengebrochen. Wir hatten zwar eine Preisexplosion, aber wir hatten keine Sekunde lang ein Blackout. Wenn die Gaspreise von 20 Euro pro Megawattstunde auf über 300 Euro hinaufschnalzen, würde ich zunächst erwarten, dass ganz viele Gashändler, Energieproduzenten und energieintensive Produktionsbetriebe bankrottgehen. Das ist nicht passiert. Die Versorgung hat gehalten. Im vergangenen Jahr war das Risiko, dass Wohnungen kalt bleiben oder Industriebetriebe die Produktion ganz einstellen müssen, hoch. So kam es nicht. Die Kehrseite waren und sind hohe Preise. Wir haben – im Gegensatz zu anderen Ländern – die Energiewirtschaft aber nicht kaputtgemacht. Allein der Energieanbieter „Électricité de France“ ist mit 65 Milliarden Euro Schulden so überschuldet, dass er verstaatlicht werden musste. Das auch, weil man das Unternehmen daran gehindert hat, die Preise anzuheben. Das kann man aus sozial- und inflationspolitischer Perspektive gut argumentieren. Aber pro Einwohner haben die Franzosen 1000 Euro Extraschulden gemacht. Trotzdem hätte man in dem Moment, in dem die österreichische Inflationsrate über dem Euro-Durchschnitt geklettert ist, die direkte Inflationsbekämpfung priorisieren müssen und die Bekämpfung der Auswirkungen zurückfahren. Es hat zu lange gedauert, bis man sich zum Beispiel zur Mietpreisbremse durchringen konnte.
Waren wir in Österreich zu blauäugig, was unsere Energieversorgung angeht? Letzten Endes sind wir zu einem sehr hohen Maß von Ländern abhängig, die gerade Krieg führen oder gefährlich nahe an einem solchen sind, wie der Nahe Osten.
Felbermayr:
Ja, ex post kann man das so sagen. Bei der Gasversorgung kommt es uns jetzt teuer zu stehen, dass wir die Gasbezugsquellen nicht früher diversifiziert haben. Unsere Ölbezugsquellen sind diversifiziert, aber auch da spüren wir Verwerfungen am Weltölmarkt. Was sich wirklich rächt, ist, dass wir etwa im Vergleich zu Dänemark das Ausbautempo bei Erneuerbaren nicht halten konnten, das wir mal hatten. Die Windparks im Nordosten Österreichs sind auch schon zehn Jahre alt oder älter. Und anderswo entstehen keine neuen. Hätten wir einen höheren Erneuerbaren-Anteil in der Energieversorgung, wäre auch die Inflation niedriger, weil weniger Haushalte mit Gas heizen würden und wir weniger häufig teures Gas für die Stromproduktion bräuchten.
Heuer wurde noch kein einziger Antrag für eine neue Windkraftanlage gestellt. Können wir uns das leisten?
Felbermayr:
Das ist nicht gut. Das WIFO macht seit Kurzem auch eine vierteljährliche CO2-Prognose. Wir liegen 20 Prozent unter dem Abbaupfad, den sich die Bundesregierung in der Koalitionsvereinbarung vorgegeben hat. Und der Abstand wird von Prognose zu Prognose größer, auch wenn die Emissionen zurückgehen. Warum ist das so? Es ist ein schlechter Cocktail aus verschiedenen Gründen. Die Kosten für ein Windrad sind massiv gestiegen – die Pachtkosten für den Baugrund, der Stahl, Lieferkettenprobleme, geopolitische Risiken. Und dann herrscht noch Rechtsunsicherheit. Es ist nicht allen, die investieren wollen, klar, ob der CO2-Preis so hoch bleibt wie die 80 bis 90 Euro pro Tonne CO2 derzeit. Es gibt genug politische Kräfte in Europa, die ihn wieder senken wollen. Aber ein Windrad hat eine Lebensdauer von 25 Jahren, und wenn ich nicht darauf vertrauen kann, dass die konventionellen Kraftwerke aufgrund eines hohen CO2-Preises unattraktiv bleiben, werde ich nicht investieren. Wir haben auch nicht genug Netzleistung installiert. Und die Kapitalkosten sind durch die steigenden Zinsen höher. Was die Politik ändern kann, ist die Rechtsunsicherheit. Es wäre also gut, wenn wir bald ein Klimaschutzgesetz und ein Erneuerbaren-Wärmegesetz bekommen.

„Wir haben in unserer Prognose angenommen, dass die Löhne tatsächlich um die rollierende Inflation steigen.“

Gabriel Felbermayr

zur Wirtschaftsprognose

Über diese beiden Gesetze sind sich ÖVP und Grüne aber uneins.
Felbermayr:
Als Ökonom würde ich hier sagen, es geht vor allem um die Rechtssicherheit und weniger darum, wie hoch genau einzelne Vergütungen ausfallen. Es ist wichtiger, den Menschen und Unternehmen klar zu kommunizieren, womit sie in den nächsten Jahren rechnen müssen. Ich will die Details nicht kleinreden, aber diese Rechtsunsicherheit ist nicht gut.
Die Metaller feilschen gerade um die Löhne. Forderung und Angebot klaffen diesmal besonders weit auseinander. Sollten die Löhne um die rollierende Inflation der letzten zwölf Monate steigen, oder sind die 2,5 Prozent plus Prämie, die die Arbeitgeber bieten, genug?
Felbermayr:
Es gibt hier zwei legitime Argumente. Wir brauchen hohe Lohnabschlüsse zum Erhalt der Kaufkraft und zur Unterstützung der Konjunktur. Wenn wir in unserer Prognose sagen, 2024 wird besser, dann liegt dieser Annahme zugrunde, dass wir höhere Lohnabschlüsse haben. Wenn die Löhne jetzt nicht um acht oder zehn Prozent steigen, sondern nur um vier, dann haben wir bei einer angenommenen Inflationsrate von vier Prozent keinen Reallohnzuwachs. Und dann können wir den Aufschwung durch Konsum absagen. Gleichzeitig hatte die Sachgütererzeugung in den letzten vier Quartalen einen Zuwachs der nominalen Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigen von gerade einmal 3,3 Prozent. Das ist die Verteilmasse der Industrie. Schließt man mit diesem Wert ab, bliebe die Lohnquote konstant – eine legitime Forderung der Arbeitgeber. Schließt man darüber ab, entsteht für die Industrie ganz klar ein Wettbewerbsnachteil. Das kann die Branche jetzt deshalb schlecht verkraften, weil auch andere Standortnachteile schlagend werden. Energie ist bei uns viel teurer als anderswo, viele Rohstoffe auch. Wir haben in unserer Prognose angenommen, dass die Löhne tatsächlich um die rollierende Inflation steigen. In Summe wäre dies mit schwachem, aber doch positiven Wachstum im kommenden Jahr kompatibel.
Am Mittwoch hält Finanzminister Magnus Brunner seine Budgetrede vor dem Parlament. Was ist denn der Budgetwunsch des Wirtschaftsforschers an den Finanzminister?
Felbermayr:
Was jetzt nicht mehr notwendig ist, sind flächendeckende Maßnahmen zur Bekämpfung der Teuerung. Die Senkung der Strom- und Gassteuern läuft bald aus. Diese würde ich nicht wieder hochfahren, weil die Energiepreise in Österreich immer noch die Inflation antreiben. Was wichtig wäre, aber Geld kostet, ist, gezielt dem Abschwung entgegenzuwirken.
Wie genau?
Felbermayr:
Man sollte der Bauwirtschaft unter die Arme greifen, die jetzt massiv unter Druck ist, noch stärker als die Industrie. Wir brauchen in Zukunft weiter viel Kapazität in der Bauwirtschaft, weil wir Millionen von Häusern klimafit machen müssen. Wenn wir die Branche jetzt durch hohe Zinsen, hohe Baukosten und strengere Regulatorien in eine längere Rezession schicken, dann verlieren wir diese Arbeitskräfte. Wir schlagen deshalb ein Programm zur Finanzierung der Gebäudesanierung vor. Es geht nicht um den Neubau, sondern den Umbau und die energetische Sanierung von Bestandsgebäuden. Man muss der Branche helfen, von Neubau auf Umbau umzusatteln. Wir müssen in einzelnen Branchen auch mit mehr Kurzarbeit rechnen. Darüber hinaus würde ich aber nicht nach neuen Konjunkturprogrammen rufen.
Sollten die Strompreisbremse und die Mietpreisbremse auslaufen?
Felbermayr:
Die Strompreisbremse muss rekalibriert werden. Jetzt liegt der maximale Zuschuss bei 30 Cent pro Kilowattstunde. 15 Cent wären besser. Und irgendwann muss sie wieder auslaufen. Die Mietpreisbremse muss erst noch beschlossen werden. Sie ist derzeit ein wenig einschneidendes Instrument, wenn sich die Inflation wie prognostiziert entwickelt. Aber sie bietet die Sicherheit, dass die Mieten eben nicht um mehr als fünf Prozent steigen.
Warum müssen Mieten überhaupt automatisch an die Inflation angepasst werden?
Felbermayr:
 Wenn man will, dass Vermieter unbefristete Mietverträge vergeben, wird irgendeine Art von Indexierung notwendig sein. Sonst vermiete ich die Wohnung nur für ein Jahr und verhandle den Vertrag dann immer wieder neu. Wenn der Markt das hergibt, kann ich dann auch 15 Prozent mehr verlangen. Das Indizieren ist für die Mieter sehr viel besser. Die Frage ist aber, wie ich indiziere. Man könnte statt dem Verbraucherpreisindex den sogenannten BIP-Deflator verwenden, das ist der Preisauftrieb im Inland, ohne die importierten Preise. In den letzten zwei Jahren hatten wir Inflationsraten von acht bis neun Prozent, der Deflator lag bei drei Prozentpunkten weniger. Dann steigen bei uns die Mieten nicht automatisch, wenn Putin wieder den Gashahn zudreht.
Sie äußern sich immer wieder durchaus kritisch, auch in Richtung Bundesregierung. Haben Sie im Vorjahr Anrufe aus dem Bundeskanzleramt oder einem Ministerium bekommen?
Felbermayr:
Gar nicht, ich bekomme keine unguten SMS oder WhatsApp-Nachrichten. Aber das braucht es auch nicht. Es gibt ja andere Kanäle.
Welche denn?
Felbermayr:
Über die Medien zum Beispiel. Oder auch über direkte Gespräche, die wir gerne und zahlreich mit der Bundesregierung und auch mit Oppositionspolitikern führen.

Zur Person

Gabriel Felbermayr (47) ist seit 2021 Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO). Davor war der habilitierte Volkswirt Präsident des Kieler Insituts für Weltwirtschaft (IfW). In diesem Wintersemester leitet er die Lehrveranstaltung „Wirtschaftspolitik in Österreich“ an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU).

Marina  Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".