3D-Druck: Die enormen Möglichkeiten für Medizin und Industrie
Sylvain Charpiot steht vor einem Roboterarm, der einen seltsamen Tanz vollführt: Die Spitze dreht sich wie wild im Kreis und scheint etwas auf eine Platte zu zeichnen. Innerhalb weniger Minuten wird ersichtlich, dass der Roboter ein Objekt aufbaut. Charpiot ist Gründer des französischen Unternehmens Drawn, das Möbelstücke und Kunstobjekte mittels 3D-Druck herstellt. Dazu hat er einen ausrangierten Industrieroboter aus einer ehemaligen Automobilfabrik in einen großen 3D-Drucker umgewandelt. Es sieht schon ein wenig nach Science-Fiction aus, wie der riesige Roboterarm kunstvolle Stühle, Lampen, Vasen, Kleiderbügel oder Regale fertigt – jeweils nach den Wünschen des Kunden.
Im Skype-Interview erläutert Charpiot seine Beweggründe: „Ich kann damit einzigartige Möbel herstellen, die es sicher immer nur ein Mal geben wird.“ In einer Crowdfunding-Kampagne will er nun mindestens 15.000 Euro einsammeln, um sein nächstes Ziel zu erreichen: einen kleineren Druckroboter zu entwickeln und in vielen europäischen Ländern – darunter in Österreich – Außenstellen seiner Möbelfertigung zu etablieren. Einen Namen hat der Roboter auch: Galatéa – benannt nach der von Aphrodite zum Leben erweckten Elfenbeinstatue.
Gemeinhin verbindet man den seit geraumer Zeit populären 3D-Druck mit Anwendungen für den Heim- gebrauch, wie sie auf der Onlineplattform 3DShare verfügbar sind. Dort lässt sich eine riesige Auswahl an Vorlagen für 3D-Drucker abrufen: ein Maya-Kalender; eine Pistole; ein 20 Zentimeter großer weiblicher Rücken. Küchengeräte, Spielzeugflugzeuge, Handyhüllen. Vieles ist nützlich, manches sinnlos, einiges ausgesprochen hässlich. Die Muster kann jeder, der einen 3D-Drucker besitzt, in reale Objekte umwandeln. Ab 500 Euro sind die Apparate erhältlich.
Die Revolution in der additiven Fertigung, wie 3D-Druck korrekt heißt, werden solche Applikationen aber wohl nicht darstellen. Zwar mag der Endkonsument den einen oder anderen brauchbaren Gegenstand erzeugen, doch die wahre Perspektive besteht in professionellen und industriellen Anwendungen. Die neuen Fertigungsverfahren haben das Zeug, die Herstellung von unterschiedlichsten Produkten individueller, rascher und genauer zu gestalten. Bisherige Produktionsprozesse werden verändert, verlagert oder gar obsolet. An eindrucksvollen Beispielen mangelt es nicht, wobei die Grenzen zwischen Skurrilem und Seriösem fließend sind (siehe auch „Essen aus dem 3D-Drucker“, Seite 46): Das chinesische Unternehmen WinSun hat 24 Häuser mittels 3D-Druck hergestellt. Kostenpunkt je Eigenheim: rund 4500 Euro. Das System soll nun exportiert werden.
Der kleinste Bohrer der Welt stammt von einem neuseeländischen Tüftler: 17 mal 13 Millimeter misst das funktionstüchtige Gerät, der Bohrkopf ist einen halben Millimeter klein.
Ein New Yorker Unternehmen bietet plastischen Chirurgen einen speziellen Service: 3D-Modelle der Körperteile, die sie verändern werden. Damit können realistische Abbilder von Gesichtern hergestellt werden – einmal vor dem Eingriff, einmal, wie sie nach der Operation (hoffentlich) aussehen werden.
Blair Neal aus New York übersetzt Musikstücke in 3D-Modelle. Mit der Software Sonic Sculptures werden Frequenzbereiche räumlich und farblich dargestellt. Das so entstehende Computermodell kann ausgedruckt werden, beispielsweise in Form eines Armreifs.
Täglich kommen ähnliche Beispiele dazu. Wichtigster Vorteil der Technologie ist die Möglichkeit, Kleinserien oder Komponenten einzeln herstellen zu können: Werden für eine Maschine nur wenige Ersatzteile benötigt, können diese einfach ausgedruckt werden statt dafür eigene Gerätschaften bereit- oder gar herstellen zu müssen. Künstler wiederum können Kreationen ohne großen Aufwand produzieren. Zweiter großer Vorteil dieser additiven Fertigung ist die Herstellung komplexer Strukturen, die etwa mit Spritzguss nicht möglich wären. So können filigrane Vogelknochen nachgebildet werden. Durch mehr Freiheiten bei der Stärke von Objekten können weiters Gewicht und Energieverbrauch reduziert werden. Hier sind Automobil- und Flugzeugbau sowie die Raumfahrt gute Beispiele.
3D-Druck durchdringt jedenfalls die Fertigungsstraßen. „Es ist eine echte Revolution. Derzeit entstehen nachhaltige Geschäftsmodelle, aber das geschieht eher im Stillen“, sagt Jürgen Stampfl. Der Professor am Institut für Werkstoffwissenschaft und Werkstofftechnologie der Technischen Universität (TU) Wien gilt in Europa als einer der profiliertesten Experten in dem Bereich. Sein Spezialgebiet ist die lithografiebasierte generative Fertigung, bei der mit Licht gedruckt wird. „Mit Licht ist eine sehr hohe Auflösung möglich, die geometrische Qualität ist besser als bei anderen generativen Verfahren.“ Es gibt viele Anwendungsmöglichkeiten, etwa Kronen und Brücken in der Dentalmedizin, technische Keramiken für den Maschinenbau sowie technische Polymere. „Bisher sind erst rund zehn Prozent der Teile aus dem 3D-Drucker funktionale Produkte“, sagt Hannes Fachberger vom Forschungsunternehmen Profactor, das einige Projekte zum 3D-Druck laufen hat. „Der Rest sind Anschauungsobjekte und Spielzeuge.“ Sobald aber mehr qualitativ hochwertige Materialien verfügbar sind, mit denen ebenso hochwertige Produkte gedruckt werden können, werde der Anteil der funktionalen Erzeugnisse rasch ansteigen.
Besonders in der Medizin erscheinen die Möglichkeiten attraktiv, individuell gefertigte, komplexe Einzelteile rasch herstellen zu können. Am Wuhan Union Hospital in der chinesischen Provinz Hubei wurde Ende Mai einem Sechsjährigen eine Handprothese aus dem 3D-Drucker angefertigt. Der Bub hatte bei einem Unfall alle Finger seiner linken Hand verloren. Herkömmliche Armprothesen wären den Eltern zu teuer gewesen, jene aus dem Drucker kostete 130 Euro und war in weniger als sieben Stunden fertig. In Deutschland bekam vor Kurzem eine Patientin ein 3D-gedrucktes Titanimplantat an der Halswirbelsäule eingesetzt. Einem deutschen Hersteller war es gelungen, die poröse Struktur des Knochens im Drucker nachzubauen. Die Zukunft der „patientenspezifischen Implantate“ habe begonnen, meinten die behandelnden Neurochirurgen.
Weniger weit fortgeschritten ist das sogenannte Bioprinting: die Idee, Fleisch, Organe und Haut auszudrucken. Der große Hype um dieses Feld ist recht rasch wieder abgeflaut. Unternehmen wie Organova und Modern Meadow, die in diese Richtung experimentieren, müssen sich mit eher bescheidenen Etappenzielen zufriedengeben. So soll für den Kosmetikkonzern L’Oreal Haut aus dem 3D-Drucker entwickelt werden, an der neue Produkte getestet werden können. Organovo stellt zudem Nieren- und Lebergewebe für die Erprobung neuer Medikamente her. Bis zum ersten Mal ganze Organe aus dem Drucker kommen, um diese bei Transplantationen zu verwenden, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Generell können jedoch fast alle Branchen vom Potenzial des 3D-Drucks profitieren, zum Beispiel die Textilindustrie.
Beim neuen Bachelorstudium Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz wird diese Fertigungsmethode ein zentrales Thema sein. Studierende würden einerseits eine klassische Ausbildung im Modedesign erhalten, andererseits „viel Input durch die technologischen Möglichkeiten“, erläutert Lehrgangsleiterin Ute Ploier. Auf einem 3D-Drucker daheim eigene Kreationen zu realisieren, werde die Modebranche ebenso verändern wie die Umstellung der industriellen Fertigung. „Das derzeitige System mit einigen Kollektionen und langfristigen Produktionsprozessen ist passé“, glaubt Ploier. Ein spezieller Vorteil sei, dass die Produktion wieder in der Region stattfinden könnte, nicht in Billigfabriken in Fernost.
3D-Druck soll demnach auch bedeuten, dass Produktionsprozesse aus Ländern mit niedrigeren Lohnkosten zurück nach Europa und Nordamerika wandern. Jürgen Stampfl: „3D-Druck ist ein Baustein für die Reindustrialisierung der alten Industrienationen.“ Weniger enthusiastisch ist Johannes Gartner vom Institut für Innovationsmanagement der Johannes-Kepler-Universität Linz, der auch das größte deutschsprachige Onlineportal zu 3D-Druck (3Druck.com) betreibt. Es sei zu früh, von einem generellen Umbruch zu sprechen. „Realistischer ist auf mittlere Sicht eine Koexistenz von additiven und traditionellen Fertigungsverfahren.“ Für die meisten Herstellungsprozesse sei 3D-Druck noch zu langsam und nicht günstig genug. „Additive Verfahren sind immer interessant, wenn es um individualisierte Produkte und um komplexe Strukturen geht“, sagt Gartner.
Relevant ist das neue Fertigungsverfahren allerdings für großindustriellen Einsatz in Kombination mit einem anderen Trend: Industrie 4.0 heißt die Digitalisierung und Vernetzung von Produktionsabläufen. „Schnittstellen waren bisher eher manuell, nun kommt es zu einer echten Vernetzung“, meint Stampfl. In Zukunft werden digitale Produktionsaufträge etwa vom Büro in Österreich kurzfristig an 3D-Druckzentren geschickt, zwei Tage später ist das fertige Teil beim Kunden. „Es gibt jetzt nicht nur die technologischen Möglichkeiten, sondern auch den Willen, diese Technologien einzusetzen“, sagt Jörg Busch vom Beratungsunternehmen PwC. „Es könnte zum Beispiel ein gewinnbringendes Geschäftsmodell sein, notwendige Ersatzteile direkt vor Ort auszudrucken.“
Konzerne wie Siemens und General Electric nutzen den 3D-Druck, um Teile von Kraftwerksturbinen, Flugzeugtriebwerken oder Pumpen zu drucken. Großformatige Druckmaschinen, die auch mit Beton arbeiten können, sind im Entstehen. Werden aber Großkonzerne den 3D-Druck dominieren oder wird dieser den Weg zu einer dezentralisierten, kleinteiligen Wirtschaftslandschaft ebnen? Letzteres wäre ganz nach der Idee des US-Theoretikers Jeremy Rifkin, der „collaborative commons“ eine große Zukunft prophezeit. Es sieht immerhin danach aus, als würde durch den 3D-Druck die Option, echte Produkte herzustellen, auf breitere Basis gestellt werden: Die Fertigung wird regionaler, kleinteiliger, rascher und kreativer.
Österreich spielt bei der Weiterentwicklung des 3D-Drucks durchaus eine Rolle, unter anderem durch die TU Wien. Wie man Wissenschaft und Wirtschaft verbindet, zeigt ein Wiener Unternehmen, das auf Ergebnissen der TU aufbaut: Lithoz hat ein Verfahren zur Herstellung von Bauteilen aus Keramik entwickelt: Das sogenannte Lithography-based Ceramic Manufacturing (LCM) ermöglicht die Produktion besonders fester und präziser Teile. Die Forschungsförderungsgesellschaft FFG hat zudem den Forschungscluster AddManu ins Leben gerufen. Forschungseinrichtungen und Unternehmen sollen gemeinsam die entsprechende Kompetenz erarbeiten, etwa bei der Entwicklung neuer Werkstoffe. Eifrig am Tüfteln ist auch Profactor: So geht es im Projekt NextFactory um mikromechatronische Bauteile wie Mikropumpen. Eine andere Initiative zielt auf die laufende Kontrolle von Druckprozessen ab. Und beim soeben von der EU freigegebenen Projekt Dimap soll ein 3D-gedruckter Roboterarm mit humanen Fertigkeiten entstehen. Projektleiter Hannes Fachberger: „Wir sind bei der generativen Fertigung noch auf wenige Materialien beschränkt. Nun geht es darum, weitere für den 3D-Druck zu entwickeln.“
Was also sollte den 3D-Druck noch aufhalten? Gartner sieht die fehlende Harmonisierung von Standards und Zertifizierungen als Problem. Dies könnte zu mangelnder Produktqualität führen. Offen sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt: Generell können gedruckte Teile zu Energieeinsparung, kürzeren Transportwegen und einer längeren Verwendung von Produkten beitragen. Doch die Frage wird sein, wie sich der Materialeinsatz – etwa im Heimbereich – langfristig auswirkt und ob nachwachsende Rohstoffe verwendet werden. Das im Privatbereich häufig verwendete PLA beispielsweise ist ein Biokunststoff aus Substanzen wie Maisstärke, die biologisch abbaubar ist. Aber was geschieht mit den Abfällen, werden sie weitgehend wiederverwertet? Kritiker des 3D-Drucks verweisen zudem auf gefährliche Anwendungen, etwa selbst gedruckte Waffen. Jürgen Stampfl von der TU winkt ab: „Eine Waffe kann ich mit einer Drehbank und einer Fräse auch selbst herstellen. Die Gefahr sehe ich eher in der Verbreitung von Bauanleitungen über das Internet.“