Schaubild im Rahmen des Planungs- und Beteiligungsprozesses in Tulln
Klima

Abbrucharbeiten: Gemeinden und Unternehmen entsiegeln Flächen

Österreich ist berüchtigt für seine Betonwut. Die Kritik daran wächst. Manche versuchen nun bislang Undenkbares.

Drucken

Schriftgröße

Wer in Tulln vom Hauptplatz zur Donau will, der muss über den Nibelungenplatz. In der Ferne glitzert der Fluss, davor ragen die Bronzefiguren von Burgunderkönigin Kriemhild und Hunnenkönig Etzel ins Blau des Himmels. Links liegt das mit Blumen und Fahnen geschmückte Rathaus. Eine malerische Kulisse, könnte man meinen-befände sich dazwischen nicht eine Betonwüste mit mehr als 200 Autos darauf. Dass einer der zentralen Plätze seiner Stadt ein schnöder Parkplatz ist, störte Bürgermeister Peter Eisenschenk (ÖVP) schon lange. Er wünschte sich die komplette Entsiegelung der Fläche, eine Verwandlung von Beton und Blech hin zu einer grünen Oase. Nur: "So etwas lässt sich nicht von oben verordnen", sagt Eisenschenk in der aktuellen Folge des Tauwetter-Podcasts, in der er von dem österreichweit einzigartigen Projekt berichtet.

Flächenfraß

Jährlich werden 42 km2 verbaut, obwohl die Politik schon vor 20 Jahren den Grenzwert von 9 km2 festgelegt hat.

Die versiegelte Fläche pro Einwohner ist wegen der vielen Einfamilienhäuser am Land besonders groß (Österreich: 268 m 2 / Kopf).

Ideen wie die des Tullner Bürgermeisters muss man hierzulande mit der Lupe suchen. Obwohl Österreich in Sachen Bodenversiegelung in der Top-Liga Europas mitspielt und obwohl uns nicht erst der heurige Sommer vor Augen führt, wie schnell sich Betonflächen in Hitzeinseln verwandeln. Die Wissenschaft warnt seit Jahrzehnten vor der Versiegelung der heimischen Wiesen und Äcker. Gewerbegebiete, Kreisverkehre, Supermärkte, Parkplätze, Straßen, Verhüttelung durch Einfamilienhäuser: Die stetig zunehmende Verbauung ist nicht nur schlecht für Klima, Nahrungsmittelproduktion und Biodiversität, sie befeuert auch die Auswirkungen von Extremwetterereignissen.

Im Frühjahr 2021 startete in Tulln, was Expertinnen und Experten seit Jahren mantraartig einfordern, jedoch kaum noch für möglich gehalten hätten. Die Stadtregierung begann eine Neugestaltung des großen Platzes samt Bürgerbeteiligung und Volksbefragung. Das erklärte Ziel: so viel Beton loszuwerden, wie die Tullnerinnen und Tullner bereit waren, aufzugeben. Leicht war das nicht, sagt Bürgermeister Eisenschenk. Vor allem die Parkplätze wurden sowohl im Gemeinderat als auch außerhalb hitzig diskutiert. "Natürlich ist die Politik zögerlich, weil das Thema, auch in meiner Partei, der ÖVP, kontroversiell gesehen wurde. Es gab einige Vertreter, allerdings nicht innerhalb der Fraktion, die von der Idee, so viele Parkplätze zu opfern, in keinster Weise begeistert waren", so der Bürgermeister. Doch auch die hartnäckigsten Stellplatzverteidiger mussten am Ende zugeben, dass Tulln mit seinen vielen Parkhäusern kein Stellplatzengpass drohte.

Die Volksbefragung im Dezember des Vorjahres machte es schließlich amtlich. Eine satte Mehrheit von 60 Prozent entschied sich für die vollständige Entsiegelung des Nibelungenplatzes sowie der Donaulände vor dem Rathaus-obwohl auch eine kleinere und eine mittlere Variante mit entsprechend mehr Parkplätzen zur Auswahl gestanden hatten. 5700 Quadratmeter Beton werden weggerissen werden. Im Herbst wird die Stadt die Siegerpläne eines Landschaftsarchitekten-Wettbewerbs präsentieren. Es soll möglichst viel von dem umgesetzt werden, was sich die Bewohnerinnen und Bewohner in den Umfragen gewünscht haben: Der Asphalt weicht Baumgruppen, Blumenbeeten, Wasserspielen, Wiesen und Bänken. 50 Autos werden unter Bäumen weiterhin Platz finden.

Laut Daten des Umweltbundesamtes werden hierzulande täglich rund 11,5 Hektar Äcker und Wiesen versiegelt. Das entspricht in etwa der Größe von 16 Fußballfeldern. Dabei wurde schon vor rund 20 Jahren von der damaligen Bundesregierung festgelegt, dass der Bodenverbrauch bei 2,5 Hektar pro Tag zu deckeln sei, und so ist es auch im aktuellen Regierungsprogramm verankert. Das umzusetzen, erfordere politischen Mut, sagt Gernot Stöglehner, Leiter des Instituts für Raumplanung an der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU). Denn das bedeute, keine neuen Industriegebiete, Gewerbeparks und Einfamilienhäuser mehr abseits der bereits gewidmeten Flächen zu genehmigen. Rund ein Viertel der in Bauland umgewidmeten Grundstücke ist derzeit ungenutzt.

Doch Widmungswahn und Betonierwut gehen ungebrochen weiter, und die Auswirkungen sind bereits spürbar. In den Städten wird es im aktuellen Hitzesommer kaum noch kühl, Hundstage und Tropennächte wechseln einander ab. Sogar viele Dörfer zählen mittlerweile zu den Hitzeinseln. Das ist kein Wunder, sind doch die meisten nicht von Feldern und Wäldern, sondern von Gewerbegebieten und Kreisverkehren umzingelt. Beton und Asphalt speichern die Wärme hervorragend.

Zuletzt schockierte der Neusiedler See mit einem historisch tiefen Wasserstand und einem massiven Fischsterben. Das hat viele Gründe, etwa die Entnahme durch die Landwirtschaft und die aktuelle Hitzewelle, doch auch der Flächenfraß trägt mit Schuld daran. Denn Regenwasser, das auf Gebäude, Parkplätze oder Straßen fällt, kann kaum versickern. Anstatt im Boden gespeichert zu werden und Grundwasser sowie umliegende Gewässer langsam zu nähren, landet der Großteil des Regens sofort im Kanal. Von dort schießt er zwar in die Flüsse, wird jedoch zu rasch abtransportiert, um gegen niedrige Pegel zu helfen. Kurz gesagt: Das meiste Wasser ist für die Umgebung verloren. Das Burgenland ist übrigens Staatsmeister bei der Versiegelung von Grünland: Mit einem aktuellen Stand von 510 Quadratmetern pro Kopf ist die Flächeninanspruchnahme fast doppelt so hoch wie im österreichischen Durchschnitt (268 Quadratmeter).

Wer übers Land fährt, kennt sie zur Genüge, die Fachmarktzentren, die in den vergangenen Jahrzehnten am Rande der Ortschaften auf der grünen Wiese entstanden sind: ein Supermarkt da, ein Möbelhaus dort, dazwischen Baumärkte und Geschäfte für Bekleidung, Heimtierbedarf und Autozubehör. Je Betrieb eine Zufahrt, je Betrieb ein Parkplatz, je Betrieb das Maximum an denkbarer Bodenversiegelung. Noch ineffizienter kann Fläche und Raum kaum genutzt werden kann. Doch das Problembewusstsein ist endenwollend. Dabei gäbe es hier in Form der riesigen Parkplatzflächen ein enormes Entsiegelungs-Potenzial. Auch wenn man sie nicht gleich völlig eliminieren kann wie in Tulln-es gibt durchaus Möglichkeiten, diese Areale klimafit zu gestalten.

Wie das ginge, zeigt ein Blick nach Salzburg. Im Zuge des Baus der Salzburgarena im Jahr 2002 wurden auch die Parkplätze des benachbarten Messezentrums gestaltet. Rund 28.000 Quadratmeter wurden mit Rasengittersteinen gepflastert, sodass Vegetation gedeihen und Regenwasser versickern kann. Dazwischen wachsen Spitzahorn, Linde, Ulme und Hainbuche. "Wir haben exakt 261 Bäume auf unseren Parkplätzen, die spenden Kühle", sagt Friedrich Holzer, technischer Betriebsleiter der Messe Salzburg. Wenn es nach ihm ginge, würde es noch viel mehr Grün geben. Doch ein Teil des Areals befindet sich auf einer ehemaligen Mülldeponie, und diese muss versiegelt bleiben.

Derart triftige Gründe gibt es beim Großteil der über das Land verstreuten Asphaltwüsten allerdings nicht. Doch Bestrebungen, diese aufzubrechen, sind eher spärlich, wie etwa eine profil-Anfrage bei den drei großen österreichischen Lebensmittelhandelsketten ergab. Bei Spar heißt es, man statte die asphaltierten Flächen mit Versickerungsschächten aus. Besser als nichts, aber eine flächige Versicherungsmöglichkeit können diese freilich nicht ersetzen. Diskonter Hofer erklärt, "ökologische Ausgleichsflächen" zu schaffen, etwa mittels Mulden und Grünflächen. Wer aufmerksam durch das Land fährt, bemerkt davon allerdings recht wenig. Der Lebensmitteldiskonter weist außerdem darauf hin, dass die Außenanlagen allesamt "nach gültigen Normen" errichtet würden. Dass die gesetzlichen Vorgaben erfüllt werden-wovon hoffentlich immer auszugehen ist-,bedeutet jedoch nicht, dass es sich dabei auch um eine ökologisch ausreichende Variante handelt.

Der Handelskonzern Rewe wiederum hat mit einem im vergangenen Herbst eröffneten Billa im steirischen Obdach die Latte recht hoch gelegt: Erstmals wurde ein Parkplatz mit einem versickerungsfähigen Belag ausgestattet. Mit Dach- und Fassadenbegrünung, eigener Photovoltaikanlage und einem um 40 Prozent gesenkten Energiebedarf spielt der Supermarkt auch sonst viele klimafreundliche Stückerl. Dass aber bei der enormen Supermarktdichte in Österreich (mit 1,67 Quadratmeter Verkaufsfläche pro Kopf sind wir europaweiter Spitzenreiter) und einem gleichzeitigen Immobilien-Leerstand von 40.000 Hektar trotzdem noch Neubauten in die Landschaft gestellt werden, ist in Zeiten von Klima- und Energiekrise nicht mehr argumentierbar.

In Sachen Raumplanung, Bodenschutz und Regionalentwicklung herrscht föderaler Wildwuchs. Eine bundesweite Entsiegelungsstrategie fehlt. Und es droht noch mehr Flächenfraß. Wegen des Online-Handels bricht den großen Shoppingcentern zunehmend die Kundschaft weg. Es klingt paradox, aber anstatt etwa an Rückbau zu denken, schmieden viele Betreiber Erweiterungspläne. Sie folgen damit einem US-amerikanischen Trend. "Das Zauberwort lautet derzeit Multi-Use", sagt der Regionalentwickler Roland Murauer. Die Betreiber werben um Kindergärten, Ärztezentren, Anwaltskanzleien, Horte und sogar öffentliche Bibliotheken, um wieder Leben in ihre verwaisten Hallen zu bekommen. So soll das Geschäft wiederbelebt werden. Das beschert allerdings nicht nur noch mehr Beton und Asphalt, sondern auch ein weiteres Ausbluten der Ortskerne.

Genau dem wollte man im niederösterreichischen Lanzenkirchen nicht weiter zusehen. Die 4000-Seelen-Gemeinde war einer dieser Orte, die über kein Zentrum verfügen, das zum Verweilen einlädt. Der Ortskern, früher ein besserer Parkplatz, wurde völlig neu gestaltet. "Ich wollte keine 08/15-Lösung sondern einen nachhaltigen, zukunftsfitten Stadtkern", sagt Bürgermeister Bernhard Karnthaler (ÖVP).Der Planungsprozess zog sich über mehrere Jahre, worüber Karnthaler im Nachhinein froh ist. Denn das Planungsbüro 3:0 brachte ihn schließlich auf die Idee der sogenannten Schwammstadt: Anstatt das Regenwasser so schnell wie möglich per Kanal in die Leitha zu schicken, bleibt es nun möglichst lange im Stadtboden. Der neue Hauptplatz wurde deshalb 1,5 Meter tief ausgebaggert und mit verschiedenen Schotter- und Substratschichten befüllt. Darin wachsen Linden, Felsenbirnen und bienenfreundliche Blumen, die durch die langsame Verdunstung für Kühle sorgen.

Wie gut das Zentrum gegen die hohen Temperaturen gewappnet ist, merkte der Bürgermeister kürzlich beim Besuch einer Nachbargemeinde, die im Vergleich vor Hitze flirrte. Das Lanzenkirchener Projekt hat sich mittlerweile herumgesprochen; zuletzt war eine große Delegation deutscher Landschaftsarchitekten zu Gast. Und auch in Österreich herrscht reges Interesse. Bürgermeister aus dem ganzen Land kommen, um sich Ideen zu holen. Vielleicht muss man die Entsiegelung bald nicht mehr mit der Lupe suchen.

"Tauwetter", das bezeichnet Zeiten der Schneeschmelze ebenso wie Phasen politischen Aufbruchs. "Tauwetter", so heißt auch der profil-Podcast zur Klimakrise und deren Bekämpfung - mit Fokus auf Österreich. Er erscheint jeden zweiten Freitag.

In der aktuellen Folge ist der Tullner ÖVP-Bürgermeister Peter Eisenschenk zu Gast bei Christina Hiptmayr und 
Franziska Dzugan.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

war bis Oktober 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.