Abnehmspritze: Wie wirkt Semaglutid in der Adipositas-Behandlung?

Elon Musk hat damit Gewicht verloren, Kim Kardashian wahrscheinlich auch. Medizinerinnen und Mediziner bezeichnen sie als Durchbruch in der Adipositas-Therapie. Was die Abnehmspritze kann - und welche Gefahren sie birgt.

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Seit einem Jahr hat Anneliese Widhalm eine neue Routine. Jeden Montag setzt sie sich mittags ins Wohnzimmer und spritzt sich ein knappes Milligramm Ozempic in den Oberschenkel. Die 66jährige Wienerin leidet an einer Schilddrüsenunterfunktion und hatte seit der Diagnose vor 30 Jahren ständig mit ihrem Gewicht zu kämpfen. Immer wieder wurde ihr geraten, im Sinne der Gesundheit doch abzunehmen. Diäten, Sport, Ernährungsumstellungen, Kalorienzählen: Widhalm probierte alles, gefruchtet hat nichts. Dann hörte sie die Ärztin Bianca Itariu in einem ORF-Interview über eine Spritze sprechen, die beim Abnehmen helfen kann. Sie wandte sich an Itariu, die Leiterin der internistischen Adipositasambulanz an der Medizinischen Universität Wien. Die Medizinerin hatte eine gute Nachricht für Widhalm. Seit Jänner 2022 war das ursprünglich für Diabetiker entwickelte Medikament auch für Adipositas-Patient:innen wie Anneliese Widhalm zugelassen. 15 bis 20 Prozent ihres Gewichts könne sie im besten Fall verlieren, erklärte ihr die Internistin. "Ich habe sofort beschlossen, das zu probieren", sagt Anneliese Widhalm.

Der Wirkstoff Semaglutid ist das weltweit erste dermaßen effektive Medikament gegen Übergewicht. Medizinerinnen und Medizinern gilt es als Durchbruch in der Adipositas-Behandlung. Die enorme Wirkung ist auch Prominenten nicht verborgen geblieben. Tesla-Gründer Elon Musk und Realitystar Kim Kardashian haben einen wahren Hype um das Mittel ausgelöst-seither dokumentieren zahllose junge Frauen auf TikTok, wie ihre Pfunde purzeln. Wie wirkt Semaglutid und welche Nebenwirkungen sind zu befürchten? Birgt es die Gefahr des Jo-Jo-Effekts? Und sollte das Medikament Adipositas-Patient:innen vorbehalten sein oder eignet es sich auch dafür, ein paar überschüssige Kilos loszuwerden?

Semaglutid ist ein sogenannter GLP-1-Rezeptor-Agonist. Es wirkt genauso wie das natürlich im Darm gebildete Sättigungshormon GLP-1, das auf die Nahrungsaufnahme reagiert und den Insulinspiegel erhöht. Das Mittel verlangsamt zudem die Magenentleerung und fördert das Sättigungsgefühl. "Anfangs habe ich mir die gewohnten Portionen auf den Tisch gestellt. Dann saß ich davor und dachte mir: Ich kann das unmöglich alles essen",sagt Anneliese Widhalm. Sie esse jetzt etwa die Hälfte wie vor der Spritzentherapie. Bremsen muss sie sich dafür nicht. Ein Überessen wie früher komme ihr einfach nicht mehr in den Sinn, berichtet die Pensionistin.

Erhältlich ist der Wirkstoff aktuell unter den Markennamen Ozempic und Wegovy. Ersterer ist geringer dosiert und ursprünglich für Diabetiker konzipiert, Letzterer ist speziell für Adipositas-Patient:innen entwickelt worden. Ozempic etwa kostet hierzulande je nach Dosierung zwischen 130 und 260 Euro im Monat. Die Krankenkassen bezahlen für Diabetes-Patient:innen mit hohen Zuckerwerten, ab einem Body-Mass-Index von über 30 und wenn zwei andere Diabetesmedikamente nicht erfolgreich waren. Bei Adipositas ist Semaglutid ab einem BMI von 30 zugelassen oder ab 27, wenn zusätzlich andere Krankheiten wie Bluthochdruck oder Fettleber bestehen - erstattet wird es von den Kassen häufig noch nicht.

Leidet Patientin Anneliese Widhalm unter Nebenwirkungen? "In den ersten drei Wochen der Therapie war mir häufig schlecht, ich hatte Kopfweh und leichte Verstopfung", sagt sie. Mittlerweile habe sich das gelegt, ab und zu sei ihr noch flau im Magen. Das deckt sich sowohl mit denklinischen Studien als auch mit der Praxiserfahrung von Internistin Bianca Itariu. "Wir fangen mit kleinen Dosen von 0,25 Milligramm an und steigern sie langsam. Übelkeit und Verdauungsbeschwerden hören in der Regel wieder auf", sagt Itariu. Wie bei allen, die viel abnehmen, können in seltenen Fällen Gallensteine und Bauchspeicheldrüsenentzündungen auftreten.

Den Nebenwirkungen stehen die enormen Benefits gegenüber. Bluthochdruck, Diabetes, Fettleber, Herz-Kreislauf-Probleme, Gelenkschmerzen, Krebs-das Risiko für all diese Erkrankungen geht durch Gewichtsverlust deutlich zurück. Auch psychisch gehe es Adipositaspatient:innen durch die Semaglutid-Therapie besser, berichtete Anja Hilbert kürzlich bei einer Pressekonferenz des deutschen Wissenschaftsdienstes Science Media Center. Die psychologische Leiterin der Adipositasambulanz an der Uniklinik Leipzig kann aus der Praxis bestätigen, was Studien bereits gezeigt haben: Die Lebensqualität verbessert sich, die Stimmung hellt sich auf, die Kontrolle des Essverhaltens gelingt plötzlich. "Das ist ganz klar ein Gamechanger", sagt Hilbert.

Könnten aber Langzeitnebenwirkungen auftreten, von denen man aktuell noch nichts ahnt? Die Wahrscheinlichkeit dafür sei sehr gering, weil Sättigungshormone in der Diabetestherapie bereits seit Ende der 2000er-Jahre im Einsatz seien-wenn auch in geringerer Dosierung, sagt Expertin Itariu. "Adipositas unbehandelt zu lassen, ist viel gefährlicher."

Übergewicht ist eines der wesentlichen Gesundheitsprobleme in Österreich. Laut Statistik Austria sind hierzulande 3,7 Millionen Menschen über 15 Jahre übergewichtig, 17 Prozent davon haben einen BMI von über 30 und leben mit Adipositas. Die Tendenz ist klar steigend: Wie eine Auswertung von Bundesheer-Daten durch die MedUni Wien zeigte, hat sich der Anteil der jungen Männer mit Adipositas bei der Stellung seit 2003 verdoppelt. Die Studienautoren Lisa Gensthaler und Gerhard Prager gehen davon aus, dass die Lage bei jungen Frauen ähnlich ist.

"Fasten +Ozempic/Wegovy+ kein köstliches Essen in meiner Nähe",twitterte Tesla-Gründer Elon Musk kürzlich auf die Frage, wie er in kurzer Zeit 13 Kilo abgenommen habe. Reality-Star Kim Kardashian soll ebenfalls mit Semaglutid experimentiert haben. Seit ihrem Auftritt bei der Met Gala im Mai 2022 wird spekuliert, sie habe mit der Abnehmspritze nachgeholfen, um in das eng anliegende Kleid von Marilyn Monroe zu passen.

Unter dem Hashtag #Ozempic geht es seither vor allem auf TikTok rund. Im Zeitraffer wird da in Bäuche gespritzt, während die Pfunde purzeln und die Kleidergrößen schrumpfen. Manche der TikTokerinnen (es sind zum überwiegenden Teil junge Frauen) fallen in die Kategorie übergewichtig, verwenden das Mittel also entsprechend seiner Bestimmung. Bei Kardashian und vielen anderen stehen aber offensichtlich nicht medizinische, sondern kosmetische Gründe im Vordergrund.

Das Problem dabei: Bisher gibt es nur Studien mit Übergewichtigen. Niemand weiß genau, wie das Mittel bei Schlanken wirkt. Möglicherweise habe es gar keinen großen Effekt, sagt der Pharmakologe Timo Müller vom Helmholtz Zentrum München. Er forscht in Kooperation mit Novo Nordisk, dem bisher einzigen Hersteller von Semaglutid, an dessen Auswirkungen. "In der Mausstudie haben wir gesehen, dass der Gewichtsverlust stark nachlässt, wenn das Körperfett gering ist", sagt Müller.

Wir werden noch stärkere  Medikamente entwickeln.

 

Timo Müller, Helmholtz Zentrum München

So ging es auch der Wienerin Anneliese Widhalm. Seit zwölf Monaten injiziert sie sich wöchentlich ein knappes Milligramm Ozempic. Ihre anfangs 88 Kilo Körpergewicht bei einer Größe von 164 Zentimetern sind auf 72 Kilo geschmolzen, wo sie nun stagnieren. "Für mich ist das perfekt. Ich will nicht weiter abnehmen", sagt sie. Um ihr Gewicht zu halten, muss sie die Therapie aber weiterführen-möglicherweise für immer. Denn vor dem Jo-Jo-Effekt schützt die Spritze nicht. Wie die Studien zeigten, nehmen die Menschen wieder zu, sobald sie mit den Injektionen aufhören.

"Früher hat man Adipositas zeitlich begrenzt therapiert, das ist völlig falsch. Das ist eine chronische Erkrankung, die chronisches Management benötigt", sagt Bianca Itariu von der Meduni Wien.

Von einer Therapie ohne ärztliche Begleitung rät Itariu ab. Durch die Spritzen lassen sich Störungen wie Essanfälle oder nächtliches Überessen gut in den Griff bekommen. Aber es besteht auch die Gefahr, eine andere Essstörung zu entwickeln-bis hin zur Magersucht.

Den Hype auf TikTok sieht Medizinerin Itariu mit gemischten Gefühlen. Einerseits sei es wichtig, die Probleme von Übergewicht und Adipositas ins Bewusstsein zu rufen. "Es ist eine Chance, offen darüber zu reden. Andererseits erhöht das neue Medikament den Druck auf Mehrgewichtige", sagt Itariu.

Verhaltensmedizinerin Hilbert von der Uniklinik Leipzig sieht das ähnlich. "Adipositas ist eine der am meisten stigmatisierten Krankheiten. Man schreibt den Menschen zu, selbst daran schuld zu sein", sagt sie. Dabei weiß man inzwischen aus vielen Untersuchungen, dass es kaum zu schaffen ist, durch Ernährungsumstellung und Sport auf Dauer mehr als fünf bis zehn Prozent seines Körpergewichts zu verlieren. Das betrifft Normalgewichtige ebenso wie Mehrgewichtige. Nun wird zwar die Spritze das Abnehmen deutlich erleichtern. "Aber es wird immer Personen geben, die das Medikament nicht nehmen wollen oder es sich nicht leisten können",sagt Hilbert. Zudem sind etwa fünf Prozent der Patienten sogenannte Non-Responder-sie reagieren überhaupt nicht auf Semaglutid. Die Ursache dafür ist noch unklar.

Außerdem werden die Patient:innengruppen zunehmend gegeneinander ausgespielt. Menschen mit Übergewicht würden Diabetikern lebensnotwendige Medikamente wegnehmen, so der Furor in den sogenannten sozialen Medien. Tatsächlich gab es im vergangenen Jahr immer wieder Lieferengpässe, was die Rivalität befeuerte. Eine schädliche Debatte, findet Medizinerin Itariu. "Für Diabetiker gibt es ein großes Arsenal an Medikamenten, für Adipositas-Patient:innen ist Semaglutid aktuell am effektivsten."

Die Knappheit wird ohnehin bald kein Thema mehr sein. Denn Ozempic und Wegovy sind erst der Anfang. Die EU-Kommission hat gerade den Wirkstoff Tirzepatid des US-Pharmakonzerns Eli Lilly für Diabetiker zugelassen, der ersten Daten zufolge noch effektiver beim Abnehmen hilft. "Wir werden nicht nur stärkere Adipositas-Medikamente entwickeln. Wir werden Medikamente sehen, die spezialisiert sind für bestimmte Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Fettleber oder Arteriosklerose", sagt Pharmakologe Timo Müller. In den nächsten Jahren könnte damit auch der Magenoperation Konkurrenz erwachsen-sie ist bis dato mit bis zu 30 Prozent Gewichtsverlust immer noch die effektivste Behandlung für hochgradige Adipositas.

Anneliese Widhalm ist nach einem Jahr Therapie nicht nur fitter, sondern auch gesünder. Anstatt dreier Blutdruckmedikamente braucht sie nur noch zwei, ihre Schilddrüsenwerte haben sich deutlich verbessert. Das Laufen fällt ihr viel leichter als vor dem Abnehmen. Ihr Fazit: "Ich fühle mich einfach wohl in meiner Haut."

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.