Flüchtlinge. Wir können gegen Vorurteile steuern, indem wir sie uns bewusst machen.

Angstbeißer - Evolutionsbiologen erklären die Angst vor dem Fremden

Woher stammt der Fremdenhass, woher die diffuse Furcht vor anderen Kulturen? Evolutionsbiologen können die Wurzeln der Xenophobie heute genau benennen: Der eiserne Zusammenhalt der eigenen Gruppe war einst das Erfolgsgeheimnis des Homo sapiens. Doch wir sind nicht Sklaven eines fernen urgeschichtlichen Erbes.

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Die "Angst vor Fremden“ sei sein Motiv gewesen, sagte der Täter. Derart begründete der 25-jährige Feuerwehrmann seinen Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim im deutschen Altena. Auch die Einschätzung der Staatsanwaltschaft tendierte in dieselbe Richtung und klang fast verstörend: Der Mann sei keineswegs rechtsradikal, sondern habe nur aus dem diffusen Gefühl der Angst gehandelt. Ist das eine zulässige Erklärung? Grenzt das nicht beinahe an eine Entschuldung, an allzu viel Verständnis für eine abscheuliche Tat? Und allgemeiner gefragt: Darf Angst jemals als Begründung für unverhohlenen Rassismus, für rechte Wahlerfolge, für Hasspostings oder gar rohe Gewalt dienen? Im Zuge der Flüchtlingskrise werden die Ursachen und Auswüchse von Xenophobie, die Angst vor dem Fremden, wieder heftig und kontrovers erörtert.

Wo aber liegen die Wurzeln dieses Verhaltens? Um diese zu erkennen, muss man tief in der Evolutionsgeschichte des Menschen graben. Nach Ansicht von Kurt Kotrschal, Verhaltensforscher an der Universität Wien, lebt unser Gehirn "noch in der Welt der Kleingruppen des Neolithikums“. Die Frühphase des Menschen sei von Gruppen mit 100 bis 150 Leuten geprägt gewesen, die stark von Ressourcen abhängig waren, erklärt Bernard Wallner, Vergleichender Anthropologe der Universität Wien. Deren Verfügbarkeit war wichtig zum Überleben und zur Fortpflanzung, es herrschte enormer Konkurrenzdruck. "Wenn da jemand von außen hereinkommt, den ich nicht kenne, kann das ein potenzieller Konkurrent sein, und somit zeigten sich Xenophobie und Vorurteile“, sagt Wallner.

Überlebt haben nicht die friedlichen, sondern die erfolgreichen.

Die Folgen sind heute noch spürbar, denn Xenophobie könne als "programmierte Denkneigung“ bezeichnet werden, wie Bernhard Verbeek erläutert. Er lehrt Didaktik der Biologie an der Technischen Universität Dortmund und hat die Evolution ethnischer und religiöser Konflikte erforscht. Bereits bei sozial lebenden Tieren sei es ein unter Selektionsdruck durch Anpassung entstandener Prozess, in Gruppen zu leben, und in diesen gelte: "Groupness vor Fairness.“ Und auch die ersten Vertreter der Gattung Homo konnten nur durch intensive Zusammenarbeit innerhalb bekannter Gruppen überleben. Sie standen stets in Konkurrenz zu anderen, die ihnen Jagdgründe streitig machten. Jene Gruppen, die am wirksamsten ein Wir-Gefühl erzeugen und Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Gruppen ausprägen konnten, hatten einen Vorteil. "Überlebt haben nicht die friedlichen, sondern die erfolgreichen. Das macht uns heute noch zu schaffen“, meint Verbeek.

Vorsicht gerade gegenüber Gleichartigen scheint eine alte Konstante zu sein, ergänzt Wallner - nicht nur bei Menschen. Das ist auch bei nichtmenschlichen Primaten kaum anders, zum Beispiel bei Rhesusaffen, die in Gruppen von 50 bis 100 Tieren leben. Auch bei diesen gibt es eine grundlegende Reserviertheit gegenüber Gleichartigen, die unbekannt sind, weil sie potenzielle Konkurrenten im Kampf um Ressourcen darstellen. In Versuchen wurden ihnen Bildern anderer Rhesusaffen vorgelegt. Fotos von jenen, die sie bereits kannten, wurden kaum betrachtet, doch die Bilder unbekannter Affen wurden ganz genau angesehen. "Solche evolutionsbiologischen Komponenten haben wir Menschen noch in uns drin und nicht herausgebracht“, sagt Wallner.

Wo kooperative Gruppen in der Natur existieren, gibt es immer das Ausgrenzen von Gruppenfremden.

Der deutsche Evolutionsbiologe Bert Hölldobler ist überzeugt: Um die Evolution von Xenophobie zu verstehen, muss man sich zuerst mit ihrem Gegenteil beschäftigen, dem Altruismus. Fremdenfeindlichkeit ist just bei jenen Arten stark ausgeprägt, die hoch entwickeltes Helferverhalten zeigen. Soziales Leben ist erfolgreich: Gene selber Abstammung werden nicht nur durch Eltern und deren Nachkommen, sondern auch durch Geschwister und andere Nahverwandte erhalten. Ein Individuum kann seine Gene nicht nur durch eigene Fortpflanzung weitergeben, sondern auch, indem es den Nachkommen seiner direkten Verwandten hilft.

"Familienbezogener Altruismus ist der Kernfaktor des Zusammenlebens der Menschen, ganz gleich, welcher Zivilisation, welcher Kultur oder welchem politischen System sie angehören“, sagt Hölldobler. Konkurrenz innerhalb einer Gruppe schlägt in Kooperation um, wenn Konkurrenz von außen droht. "Wo kooperative Gruppen in der Natur existieren, gibt es immer das Ausgrenzen von Gruppenfremden.“ Das Ausgrenzen anderer stärkt letztlich auch die Bindung innerhalb der Gruppe.

Sogar die Angst vor Ansteckung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Der kanadische Psychologe Mark Schaller von der University of British Columbia in Vancouver hat den Begriff "verhaltensbasiertes Immunsystem“ geprägt: Abwehr von Infektionskrankheiten sei Ursache vieler Verhaltensweisen bis hin zur Xenophobie. Um sich vor Ansteckung zu schützen, können Organismen eine Art Frühwarnsystem entwickeln, das beispielsweise Ekel vor verdorbenem Fleisch auslöst. Teilnahme an Verhaltensweisen innerhalb der Kleingruppen, in denen unsere Vorfahren über einen Gutteil der Evolutionsgeschichte lebten, war generell ein Schutz gegenüber unterschiedlichen Gefahren - von Gewalt bis hin zu Infektionskrankheiten.

Dass gegenwärtige Vorurteile uralte evolutionäre Wurzeln haben, bedeutet nicht, dass sie nicht überwunden werden können.

Bei Personen von außerhalb der Gruppe war es wahrscheinlicher, dass sie diese Normen ignorieren und verletzen, was wiederum alle in der Gruppe gefährdet hätte. "Fremde bedeuteten neben der erhöhten Gefahr physischer Gewalt auch erhöhte Anfälligkeit gegenüber infektiösen Krankheiten“, glaubt Schaller. Und diese Reaktion auf Fremde trage durch die menschliche Evolution hindurch zu manchen heutigen Vorurteilen bei. Diese wiederum sind davon abhängig, wie verwundbar sich Individuen fühlen - gegenüber Krankheiten, Gewalt und anderen Szenarien.

Wenn sich Menschen beispielsweise anfällig gegenüber ansteckenden Krankheiten wähnen, werden sie vermutlich mehr Vorurteile gegen Leute haben, die besonders fremdartig aussehen. Eine Fülle von Forschungsmaterial beweise das, sagt Schaller. Indes sinkt die Wahrscheinlichkeit von Vorurteilen, wenn sich Menschen weniger verwundbar fühlen. Schaller sieht das als "ermutigendes“ Signal: "Dass gegenwärtige Vorurteile uralte evolutionäre Wurzeln haben, bedeutet nicht, dass sie nicht überwunden werden können.“ Und zwar mit aktivem Zutun: "Gesellschaftliche Interventionen, die das Gefühl der Verwundbarkeit reduzieren, können problematische Reaktionen verhindern.“ Im Klartext: Wenn sich Menschen um ihre Gesundheit sorgen, führt das zu mehr Vorurteilen. Wenn sie sich hingegen auf ein effektives Gesundheitssystem verlassen können, sollte das diese Vorurteile senken.

Wenn wir uns nur an der Natur orientieren, dann gute Nacht.

Viele Jahre scheuten sich Wissenschafter, solch evolutionsbiologische Wurzeln von Xenophobie überhaupt anzusprechen: "Man muss vorsichtig darüber reden, denn es gibt die Tendenz, zu glauben, dass, wenn sich etwas entwickelt hat, es etwas Natürliches sei. Und das wiederum sei gut und richtig. Das ist aber völlig falsch. Wissenschaftliche Erklärungen sind einfach wissenschaftliche Erklärungen und keine moralischen Rechtfertigungen. Wissenschaft ist keine Moralphilosophie“, sagt Schaller.

Bernhard Verbeek spricht vom "naturalistischen Fehlschluss“: Disposition zu Rassismus und Xenophobie könne als Rechtfertigung für inhumanes Verhalten missbraucht werden. Es gebe die Vorstellung, die Natur sei harmonisch und friedlich: Was natürlich ist, sei gut und könnte daher als ethische Richtschnur dienen. "Dem ist aber überhaupt nicht so. Wenn wir uns nur an der Natur orientieren, dann gute Nacht.“ Die Kultur müsse sich vor dem naturalistischen Fehlschluss hüten, zugleich aber wissen, was dahintersteckt und "was von Demagogen wieder herausgekitzelt werden kann“.

Was gegen Angst helfen kann, ist Empathie. "Es gibt ein enormes Reservoir an prosozialem Verhalten, zu dem wir prädestiniert sind“, erklärt Bernard Wallner. Und auch dieses Verhalten, gleichsam ein Gegenstück zur Xenophobie, ist sogar aus biologischer Sicht sinnvoll: "Positives Feedback und prosoziale Interaktion setzen Dopamin frei, das berauscht uns sozusagen und gibt ein gutes Gefühl. Darin sind wir Menschen einzigartig“, sagt Wallner.

Wir können aktiv gegen Vorurteile steuern, indem wir sie uns bewusstmachen und dadurch brechen.

Doch selbst hier gibt es die Unterscheidung zwischen fremd und nicht fremd. Die Wissenschaft hat zahlreiche Belege dafür, dass wir für Menschen, die uns ähnlicher oder näher sind, mehr Empathie empfinden und ihnen bereitwilliger helfen als Fremden. Claus Lamm, Neurowissenschafter und Psychologe an der Uni Wien, dokumentierte das in einem denkwürdigen Experiment: Er zeigte seinen Studenten, allesamt Europäer weißer Hautfarbe, zwei Videos. Im ersten konnten die Probanden beobachten, wie die Hand eines Weißen mit einer Nadel gestochen wird. Im zweiten Video sahen sie eine Injektion in die Hand eines Menschen mit dunkler Hautfarbe. Anschließend fragte Lamm die Studenten, mit welchem Menschen sie mehr Empathie empfanden. Die Antwort war bei den meisten gleich: Es gebe keinen Unterschied. Das stimmte freilich nicht ganz: Der Forscher hatte während des Tests die Aktivität in den Gehirnen der Probanden gemessen - die großteils auf das Stechen der weißen Hand signifikant intensiver reagiert hatten. Ob wir es wollen oder nicht: In unseren Gehirnen sind hinterhältige Mechanismen der Diskriminierung verankert, die sich der bewussten Beeinflussung widersetzen.

Dabei geht es nicht immer um Hautfarbe oder Verwandtschaft: Fans des FC Basel empfinden den Mitgliedern ihres Fanclubs gegenüber mehr Empathie als gegenüber jenen des FC Zürich, wie Schweizer Forscher herausfanden. Nicht alles an diesem einprogrammierten Erbe ist zwangsläufig schlecht, wie Hölldobler meint. Das Ingroup-Outgroup-Verhalten führt eben auch dazu, dass wir begeisterte Fußballfans oder stolz auf unsere Universität sind, wenn wir im weltweiten Ranking gut gereiht sind.

Was die Schattenseite der Gruppenbildung betrifft, die Xenophobie, gibt es aber offenkundig auch Menschen, welche die ererbte Neigung durchstoßen - und Fremden bereitwillig helfen. Wie groß ist der Aufwand, sich gegen die psychologische Disposition aus grauer Vorzeit zu wehren? Er sei nicht besonders groß, meint Lamm. Die Antworten der Studenten in besagtem Experiment hätten auch das gezeigt. Obwohl sie physiologisch unterschiedlich reagierten, empfanden sie subjektiv keinen Unterschied zwischen der schwarzen und der weißen Hand - wohl auch deshalb, weil Ausländerfeindlichkeit unter seinen Studenten verpönt sei, meint der Forscher. "In unserem Gehirn gibt es keine fixe, unveränderliche Verdrahtung. Wir können aktiv gegen Vorurteile steuern, indem wir sie uns bewusstmachen und dadurch brechen.“ Zu wissen, dass auch dunkle Seiten in uns schlummern, sei der erste Schritt, um sich von Vorurteilen und Ängsten freizumachen.

Emotional leben wir zum Teil noch in der Steinzeit.

Mark Schaller verweist auf die Diskrepanz zwischen der evolutionär eingeprägten Angst vor Infektionskrankheiten und dem Status quo: "Obwohl einige der psychologischen Phänomene, die mit dem verhaltensbasierten Immunsystem assoziiert werden, in der menschlichen Evolutionsgeschichte adaptiert wurden, haben sie keine Funktion mehr zur Abwehr von Infektionen in unseren heutigen Gesellschaften.“ Als wichtigsten Puffer gegen Xenophobie sieht Anthropologe Wallner zudem die Verfügbarkeit von Ressourcen: Mehr Ressourcen bedeuten mehr und bessere Nahrung, das führe erwiesenermaßen zu höherer Friedfertigkeit und weniger Aggressionen.

"Emotional leben wir zum Teil noch in der Steinzeit“, warnt Bert Hölldobler. Das sei eine "schwere evolutionsgeschichtliche Belastung“, ein archaisches Merkmal, das einst beim Konkurrieren um Ressourcen sinnvoll war, heute aber "maladaptiv“ ist. "Wir sollten vor allem mit pädagogischen Instrumenten entgegenwirken.“ Verbeek stimmt zu: "Die evolutionsbiologische Disposition schleppt die Menschheit mit sich. Es muss aber nicht darauf hinauslaufen, dass sich dieses Potenzial zur Aggression gegenüber Fremden ständig manifestiert.“ Er empfiehlt Bildung und Wissen: "Wenn man eine pädagogische und kulturelle Hygiene erzeugt, kann man Entgleisungen ins Barbarische vermeiden. In der europäischen Kultur sind wir in dieser Hinsicht, gemessen an schlimmen vergangenen Zeiten, erfreulich weit gekommen. Und ich hoffe, dass das nicht gefährdet ist.“ Für Kurt Kotrschal steht fest: "Fremdenfeindlichkeit zu minimieren, funktioniert nur über den Ausbau des Bildungssystems.“

Mitgefühl und Bildung können gegen die Vorherrschaft urzeitlichen Verhaltens helfen, zumindest prinzipiell. Mark Schaller: "Menschen sind nicht Sklaven ihrer uralten psychologischen Reaktionen.“ Ein Gutteil der menschlichen Evolution sei gekennzeichnet durch die Fähigkeit zum rationalen Denken, zur Selbstregulierung und zur Fähigkeit, irrationale psychologische Reaktionen eben nicht unser Verhalten bestimmen zu lassen.

Mitarbeit: Franziska Dzugan