Anton Zeilinger: „Wir galten als totale Außenseiter“
Anton Zeilinger über die Faszination der Quantenphysik, die Schönheit von Mathematik, das Wesen von Wahrheit und Wirklichkeit – und die Frage,
ob unser Gehirn die Welt je verstehen kann.
Was hat Ihr Interesse an Quantenphysik geweckt? Im Physikstudium an der Universität Wien hatten Sie nie eine Vorlesung dazu gehört.
Zeilinger
Damals gab es die Quantenphysik nur in speziellen Anwendungen der Festkörper-, der Teilchen- und der Kernphysik. Niemand beschäftigte sich direkt mit einzelnen Quanten. Das sagen auch die anderen beiden Nobelpreisträger, Alain Aspect und John Clauser: Wir wurden damals als totale Außenseiter angesehen. John Clauser bekam aus diesem Grund nie einen guten Job an einer Uni.
Wie also kamen Sie zur Quantenphysik?
Zeilinger
Am Ende des Studiums wollten eine Kollegin, ein Kollege und ich mehr darüber wissen. Wir besorgten uns das Manuskript der Quantenvorlesung von Otto Hittmair von der TU Wien. Wir arbeiteten es von vorn bis hinten durch und waren total fasziniert.
Was hat Sie dermaßen fasziniert?
Zeilinger
Die wunderschöne Mathematik, die verwendet wurde. Das ist absolut einmalig. Der Nobelpreisträger Paul Dirac hat einen Formalismus der Quantenmechanik geschrieben, der einfach genial ist. Ebenfalls großartig für uns war das Buch des Nobelpreisträgers Claude Cohen-Tannoudji. Aber am Beginn der Bücher hieß es immer, dazu, was das alles bedeutet, kommen wir noch. Dann las man, aber das Versprochene kam nicht. Da habe ich gemerkt, das war ein Thema, das nicht berücksichtigt wurde.
Ist es auch Teil der Faszination, mit der Sprache der Mathematik in eine Welt einzudringen, die sich der Erfahrbarkeit der Alltagswelt entzieht?
Zeilinger
Die direkte Erfahrbarkeit kümmert einen als Physiker eigentlich nicht. Man sieht das sehr operativ. Es gibt mathematische Vorhersagen und experimentelle Möglichkeiten, diese zu testen.
Braucht man bestimmte Eigenschaften oder Talente, um diese Art von Wissenschaft zu betreiben?
Zeilinger
Richard Feynman schrieb am Ende seiner berühmten „Lectures on Physics“, dass er sich entschuldigen möchte. Und zwar bei denjenigen Studentinnen und Studenten, denen er nur erklärt habe, was sie im Prinzip schon wussten. Das ist die Begabung. Mir ging es in den Mathematik-Vorlesungen genauso. Wenn der Professor an der Tafel ein Argument entwickelte, war mir der nächste Schritt immer im Vorhinein klar. In der Physik kommen dann die Erfahrung aus der Beobachtung der Welt und die Experimente hinzu, die man nicht rein logisch herleiten kann.
In der Quantenphysik geht es um Dinge, die offenkundig wahr sind, aber mit der sichtbaren Welt vielfach nicht übereinstimmen. Führt das nicht zwangsläufig zur Frage, was Realität eigentlich ist?
Zeilinger
Das ist die zentrale Frage in den Grundlagen der Quantenmechanik. Sie hat uns alle drei, Aspect, Clauser und mich, motiviert. Wir sind draufgekommen, die Welt ist nicht so, wie wir aus der Alltagserfahrung heraus glauben würden. Ein wesentlicher Punkt aus der Alltagserfahrung ist doch: Ich sehe ein blaues Auto und gehe richtig in der Annahme, dass es auch dann blau ist, wenn ich nicht hinschaue. In der Quantenphysik funktioniert das nicht immer. Wenn Verschränkung auftritt, wofür ja der Nobelpreis vergeben wurde, funktioniert das schon gar nicht.
Wie geht man damit um? Was ist dann wahr?
Zeilinger
Auf der tiefsten Ebene können wir derzeit nur sagen, was nicht wahr ist. Es ist nicht wahr, anzunehmen, dass die Eigenschaften, die man beobachtet, schon vor der Beobachtung vorhanden waren. Wenn ich an mehreren verschränkten Teilchen Messungen mache, sind die einzelnen Resultate erstens zufällig, zweitens aber sehr stark korreliert, die Teilchen müssen also irgendwie voneinander wissen. Drittens sind die Beobachtungen völlig unabhängig von Raum und Zeit. Es spielt keine Rolle, ob etwas vorher, nachher, hier oder Tausende Kilometer entfernt stattfindet. Die Auffassung von Raum und Zeit müssen wir also auch hinterfragen. Darüber gab es lange heftige Diskussionen, diese Fragen wurde deshalb als philosophische Kringel bezeichnet. Die Experimente haben aber gezeigt, dass es stimmt.
Gibt es eine Lösung?
Zeilinger
Wir wissen nicht, wie sie aussieht, aber ich bin überzeugt, dass es sie gibt. Ich glaube sogar, dass sie ganz klar und einfach ist, sobald wir sie sehen. Wir werden uns an den Kopf greifen und uns fragen: Warum haben wir das nicht früher gesehen?
Trifft der Grundsatz noch zu, dass die Natur in einfachen und schönen Formeln beschrieben werden kann?
Zeilinger
Das ist nach wie vor eines der großen Wunder. Selbst in der Komplexitätsforschung sind die Grundgesetze einfach. Warum ist die Mathematik so effektiv in der Beschreibung der Natur und der Welt? Eigentlich ist das irrational. Darüber haben sich viele den Kopf zerbrochen. Wenn ich mit Lehrern spreche, sage ich immer, dass sie das allen Kindern mitgeben müssen: dass die Mathematik fantastisch genau funktioniert. Wenn ich in ein Flugzeug steige, vertraue ich den mathematischen Beschreibungen aufs Prozent genau. Jeder, der ein Flugzeug besteigt oder ein Smartphone benutzt, kann eigentlich nicht wissenschaftsfeindlich sein.
Ist also die Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben, oder ist die Mathematik unser Hilfsmittel, uns an die Naturgesetze anzunähern?
Zeilinger
Meine persönliche Meinung ist, dass die Trennung zwischen Mathematik und Natur eine künstliche ist. Wir brauchen eine neue Sichtweise, ein Konzept der Einheit.
Geht es dabei auch um das Vereinen von bisher unvereinbaren Dingen wie der Quantenwelt und der Gravitation?
Zeilinger
Die Vereinigung von Quanten und Gravitation fasziniert Physiker seit bald 100 Jahren. Einige der intelligentesten Menschen haben sich darüber den Kopf zerbrochen – und zwar erfolglos. Das heißt: Wahrscheinlich suchen wir an der falschen Stelle.
Ist unser Verstand überhaupt in der Lage, alles zu verstehen?
Zeilinger
Ich glaube, in den Naturwissenschaften: ja. Unser Gehirn wurde durch die Evolution geformt, und die komplexesten Abläufe betreffen soziale Strategien. Warum um Himmels willen können wir damit Quantenphysik machen? Eigentlich brauchen wir das nicht. Aber das Gehirn ist fantastisch in der Informationsverarbeitung, und seine Grenzen sind noch lange nicht ausgeschöpft.
Das war ein Stichwort: Was ist Information überhaupt?
Zeilinger
Bei der Teleportation ist die Information etwas völlig Unbeachtetes, nicht Wahrgenommenes. Die Frage, was von A nach B übertragen wird, ist an sich schon unsinnig. Wichtig ist nur, wo es herkommt und wo es hingeht. Ich glaube, die Trennung von Wirklichkeit und Information ist falsch – was nicht heißt, dass alles nur Information ist. Wir brauchen einen neuen Begriff, wie ihn zum Beispiel Isaac Newton mit der Gravitation geschaffen hat.
Wäre Information also eine Art von Abbild der Wirklichkeit?
Zeilinger
Nein, das ist zu realistisch gedacht. Information ist eher eine Möglichkeit, Wissen zu gewinnen.
Was war Ihr bisher wichtigstes Experiment?
Zeilinger
Die Teleportation 1997 war nur ein Schritt auf dem Weg zum GHZ-Experiment 1998, das bis heute mein wichtigstes Experiment ist. Der GHZ-Zustand ist benannt nach Daniel Greenberger, Michael Horne und mir, wir haben diesen in der Theorie entdeckt. Im Experiment konnten wir die Dreiteilchen-Verschränkung zeigen und widerlegten die Existenz versteckter Variabler für definitive, also nichtstatistische Eigenschaften. Das war für viele eine große Überraschung. Denn lange hatten viele gemeint, die Verschränkung von Teilchen sei auf noch unbekannte statistische Einflüsse zurückzuführen. Das Ergebnis von damals ist auch deshalb wichtig, weil die GHZ-Zustände ein zentraler Aspekt für Quantencomputer sind.
Wie entwickelt man ein quantenphysikalisches Experiment?
Zeilinger
In den späten 1980er-Jahren habe ich die Entscheidung getroffen, nicht mehr mit Neutronen, sondern mit Photonen zu arbeiten, weil man sie in viel größerer Dichte erzeugen kann. Also suchte ich nach den führenden Forschergruppen auf diesem Gebiet. Ich fand sie in Kalifornien und Rochester, New York. Die Kollegen waren total offen, zeigten mir ihre Labors, kamen zu uns nach Innsbruck und bauten mit unseren Studenten die Experimente auf.
Wie viel Kreativität erfordern solche Experimente?
Zeilinger
Ich muss mir überlegen: Wie muss ich den Strahl lenken, welche Spiegel nehme ich dafür, welche Kristalle, um die verschränkten Photonen zu erzeugen? Ich habe viel telefoniert und bei den Kollegen herumgefragt, was möglich ist. Die Kreativität kommt aus der Gruppe – und mit der Zeit, wenn man sich mit einem Problem sehr lange auseinandersetzt.
Ihre Experimente wurden im Maßstab immer größer, zuletzt wurden mithilfe eines chinesischen Satelliten Nachrichten quantenverschlüsselt zwischen Wien und Peking geschickt. Was kommt als Nächstes?
Zeilinger
Wir wollen das weltweit ausprobieren, auch auf anderen Kontinenten. Wenn ich abhörsicher über Quantentelefonie zwischen Wien und der Antarktis kommuniziere, wird das in allen Zeitungen stehen. Das machen wir hauptsächlich, um die Menschen für die Quantenphysik zu begeistern – das ist mir ganz wichtig. Aber wir arbeiten auch an anderen Experimenten, die nicht mehr als einen Quadratmeter benötigen.
Was wollen Sie damit herausfinden?
Zeilinger
Sie können sich vorstellen, wenn ich das jetzt verrate, dann wird das zum Wettrennen. Das will ich nicht, ich möchte in Ruhe daran arbeiten.
Google, IBM und viele andere bauen bereits Quantencomputer in kleinem Maßstab. Wann wird eine kommerzielle Anwendung denkbar sein?
Zeilinger
Das ist vollkommen offen. Sehen Sie sich die klassischen Computer an. Niemand konnte vor wenigen Jahrzehnten vorhersehen, dass wir heute das tun würden, was wir gerade tun: videotelefonieren über mehrere vernetzte Computer.
Was könnten die ersten Aufgaben für Quantencomputer sein?
Zeilinger
Ich denke, man wird ihnen ganz spezifische Aufgaben stellen, etwa um ein Problem in der Festkörperphysik zu simulieren. Quantencomputer, die jeder zu Hause verwendet, sind noch im Bereich der Fantasie.
Sie haben 2004 die erste quantenverschlüsselte Banküberweisung getätigt. Warum ist das im Alltag nach knapp 20 Jahren immer noch nicht möglich? Schließlich ist die Technologie absolut abhörsicher.
Zeilinger
Das habe ich mit einem hochrangigen Bankier einmal besprochen. Er sagte, man müsse die aktuelle Technologie über Bord werfen und das System komplett umbauen. Die Sicherheit habe aktuell zwar kleine Lücken, deren Schließung würde den riesigen Aufwand aber nicht rechtfertigen. Und er sagte: „Ich werde die Quantenverschlüsselung natürlich sofort einführen, wenn die Konkurrenz das tut.“
Anton Zeilinger, 77
vergangenen Donnerstag im Video-Interview. Er ist auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt, seit ihm 1997 gemeinsam mit Kollegen mit einer erfolgreichen Teleportation ein Durchbruch in der Quantenphysik gelang: Das Team übertrug den Quantenzustand eines Lichtteilchens auf ein anderes. Das Interesse des gebürtigen Oberösterreichers an seinem Fachgebiet wurde von einem talentierten Physiklehrer im Gymnasium geweckt. Nach dem Studium forschte Zeilinger unter anderem am MIT, ab 1990 in Innsbruck und neun Jahre später an der Universität Wien. Zwischen 2013 und Juni dieses Jahres war der Liebhaber klassischer Musik Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.