Autodrom: David Staretz Poetry in Motion
Wir haben offenbar den schwierigsten Auftrag aller Generationen: das Glück zu verwalten, ohne in Überdruss oder Kriegerei zu verfallen. Stattdessen springen wir an Kreuzungen aus unseren Autos und fügen einander Nasenbeinbrüche und Schnittverletzungen zu. Woher kommt solcher Überdruss? Wohin ging die Freude verloren? Wäre dies eine Golf-Kolumne, ließe sich der Niedergang der Welt vom 19. Loch aus erklären. Hier geben wir vorzugsweise dem Auto die Schuld. Gehe ich die Straßen entlang, sehe ich nur formgewordenen Überdruss. Es ist wie bei der Mode: In den Auslagen werden die ausgesuchtesten Stücke geschmackvoll präsentiert. Aber wohin verschwinden all diese Sachen? Was man an den Menschen sieht, hat nicht das Geringste damit zu tun. (Ausnahmen honoriert.)
Spreche ich mit Autodesignern, habe ich es ausnahmslos mit hochintelligenten, wachen und offenen Menschen zu tun. Sie können jeden Radius, sämtliche Lichtkanten, jede schwebende Linie bis hin zum virtuellen Momentanschwerpunkt erklären. Ihre Kreationen werden scharf angestrahlt, es gibt Ouvertüre, Nebel und oft noch Choreografie mit Lycra-Morphsuits, also alles mit Sinn und Verstand und Hang zur großen Parade, doch kaum landen diese Autos an der Gehsteigkante, sehen sie nur mehr aus wie die Keller-Klons der Thule-Boxen auf dem Dachträger. Nicht im Geringsten scheren sie sich um eine Außenwelt. Es scheint, als hätte man noch eine extra Nanoschicht auf die Lacke gesprüht, um die Karosserien besonders scharf vom Umfeld abgegrenzt wirken zu lassen. Wäre es immer so gewesen, könnte man nichts dagegen einwenden, weil man es nicht besser wüsste.
Es gab allerdings einige Epochen in der kurzen Geschichte des Autos, als eine erstaunliche Harmonie herrschte zwischen Natur, Architektur und Automobilismus. Es hatte mit der Strukturierung zu tun, den Proportionen, den Materialien (als man ohne Kunststoff auskommen musste), und vor allem gab es nicht diese Raumnutzen-Stromlinienform, dieses glasiert Fettgebackene, das viele hypertrophe Monozellen-Commuter unserer Tage bezeichnet. Die Autos standen damals außerdem im Bewusstsein um ihren Pionierstatus: dass das alles noch besser, schneller, komfortabler werden könnte. Es gab einen Zug in der Sache. Heute, saturiert, scheinen wir im Schwemmgebiet zu dümpeln, ohne Strömung und Gestaltungswillen. Die nächste Generation Auto wird den logischen Schritt vollziehen und ohne Fahrereinwirkung auskommen.
Warum aber sind wir im Zweifel so schnell bereit, den guten Geschmack über Bord zu werfen für ein paar gewonnene Hundertstel im Luftwiderstandsbeiwert? Der wird doch überschätzt. Man argumentiert gut und treffend mit geringerem Verbrauch und damit weniger CO2-Belastung. Dass unsere Autos durchgehend übermotorisiert sind, überklimatisiert, überassistiert und übersafetyfiziert, geht im Kanon der Wirtschaftlichkeit und Vernunft unter. Die zahlreichen Reglement-Netze sind so dicht gewoben, dass, wie Laurens van den Acker von Renault unlängst sagte, wir Designer selbst uns oft wundern, dass sich dazwischen noch ein Auto ausgeht.
Das mag ein Zug unserer Tage zu sein: Dass sich vieles in sich selbst verstrickt hat, in seinen eigenen und äußeren Regelwerken, und dass unser Wohlstand so ein amorphes Fettgebilde ist, das sämtliche Lebensbereiche anfüllt wie kalter Aspik, und dass wir im Kreuzfeuer von Handytarifen, Computernetzwerken, Coolnesszwang zu keiner Entrücktheit oder Poesie fähig sind. Unlängst, als ich mit Viktoriya über das erwähnte Phänomen Überdruss sprach, kam uns ein oranger Schneepflug entgegen. Es genügte ihm nicht, Schneepflug zu sein. Auf der Schaufel stand: WIEN IST COOL. Siehst du? Genau, was ich meine. Überdruss. Es genügt nicht, ein Schneepflug zu sein. Er muss noch eins drauflegen, um jeden Preis. Wer denkt sich so was aus? Wien ist außerdem ganz und gar nicht cool, und das ist, was man noch am meisten daran schätzen kann. Wenn man wenigstens geschrieben hätte, Wien sei uncool. Uncool ist das neue cool.
Wo waren wir? Poesie. Das schwierig Herzustellendste. (Leserbriefe stopp!) Wie kann man in einem gebähten Familienvan sitzen und sich den Umständen entheben, die mit Heute Österreich ja natürlich Hausverstand vorgegeben sind? Man sieht eine sehr späte Oktoberfliege an der Seitenscheibe kleben. Um sie ein wenig aufzuheitern, haucht man sie mit tiefer Liebe zum Geschöpf an. Eine Erinnerung an Leben scheint in den kleinen Insektenkörper zurückzukehren, wie ein kaum wahrnehmbares Zucken in den Flügeln verrät. Die Scheibe beschlägt vom Atem, und an den feinen Tröpfen rutscht die Fliege nach unten weg, feinste Kalligrafien ihrer sechs Fliegenbeinchen in der Hauchspur am Fenster hinterlassend. Das macht mich so traurig, dass ich denke, ja, so könnte Poesie im Familienvan gehen.