Wissenschaft

Ballone über Nordamerika: eine Flugbahnanalyse

Zuerst die USA, dann Kanada und die Ukraine: Scheinbar ständig tauchen plötzlich Ballone und merkwürdige Objekte am Himmel auf. Worum könnte es sich handeln? Was sich im Moment ohne viel Spekulation sagen lässt.

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Womit begann die aktuelle Serie? 
Mit einem 60 Meter großen Ballon, der über den Pazifik und dann von Alaska über Kanada bis nach South Carolina trieb. Er wurde am 28. Jänner erstmals gesichtet und am 4. Februar von einem Jet vom Typ F-22 abgeschossen. Sicher ist, welchem Zweck er nicht diente: der Erfassung von Wetterdaten. Wetterballone seien so konstruiert, dass sie nur wenige Stunden in der Luft bleiben, erklärt Gernot Grömer, Direktor des Österreichischen Weltraumforums. Das Gas in ihrem Inneren – Wasserstoff oder Helium – dehnt sich beim Aufstieg mit sinkendem Luftdruck aus, sodass die Hülle schließlich reißt. Nach etwa dreistündigem Aufstieg sinkt der Ballon zu Boden, was ungefähr eine halbe Stunde dauert. Wetterballone messen zum Beispiel Wind oder Wolken und werden häufig eingesetzt: Global starten von rund 1000 Stationen zwei bis vier Ballone täglich.
Was für ein Ballon war es dann?
Es gibt auch andere Konstruktionsarten, zum Beispiel Zero-pressure-balloons. Sie können deutlich länger fliegen, je nach Typ einige Tage bis zu zwei Wochen. Diese Ballone sind unten offen, sodass zu viel Druck entweicht. Außerdem kann Gas durch das Material – das man sich ungefähr wie einen Obst- oder Gemüsesack im Supermarkt vorstellen kann – diffundieren. Noch längere Missionen sind mit Super-pressure-balloons möglich.
Handelte es sich um einen Spionage-Ballon?
Gut möglich. Rein technisch betrachtet könnte er ebenso Forschungszwecken dienen. In jedem Fall war der Ballon dafür geeignet, Messinstrumente zu betreiben. Die Solarpaneele umfassten wohl an die 50 Quadratmeter und könnten etwa zehn Kilowatt Energie geliefert haben, allerdings nur bei Tag. „Das ist eine erkleckliche Stromleistung“, meint Grömer. Ein derart ausgestatteter Ballon ließe sich mit Kameras und Sensorik bestücken, die andere Bereiche des elektromagnetischen Spektrums wie Infrarot- oder Radiowellen erfasst. Die Daten ließen sich auch übermitteln – am besten an einen Satelliten, der sich im Erdorbit befindet und in regelmäßigen Abständen über den Ballon hinwegfliegt.
Und all die anderen Objekte?
Nach der Sichtung des Ballons wurden der Reihe nach weitere rätselhafte Objekte gesichtet: noch ein Ballon über Südamerika, am 9. Februar ein Flugobjekt zwölf Kilometer über Alaska, das die Größe eines VW Beetle gehabt haben soll. Einen Tag später detektierten die Überwachungssysteme einen zylinderförmigen Gegenstand über Kanada, am 12. Februar ein achteckiges Gebilde an der Grenze zwischen Kanada und den USA. Die Behörden  vermeldeten zunächst bloß, die mysteriösen Objekte besäßen keinen Antrieb. Heftig spekuliert wurde, nachdem ein Behördenvertreter meinte, er könne gar nichts ausschließen. Da kam sofort der Verdacht auf: Aliens!
Was ist achteckig, hat keinen Antrieb und fliegt in der Stratosphäre?
Der Behördenvertreter hatte formal Recht: Man kann nicht beweisen, dass etwas nicht existiert und folglich auch nicht ausschließen, dass Außerirdische die Erde entdeckt haben. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Was für zylindrische oder achteckige Objekte kommen dann infrage? Ebenfalls Ballone der Zero-pressure-Bauart, vermutet Grömer. Um Ballone zusätzlich zu stabilisieren und langlebiger zu machen, gebe es sogenannte Formbegrenzungen, eine Konstruktionsweise, die verschiedenste Gestalt haben kann, auch achteckig. Könnten nicht auch Drohnen in fremden Luftraum eingedrungen sein? Unwahrscheinlich, denn Drohnen haben meist nicht die erforderliche Reichweite. Ohne allzu kühn zu spekulieren, darf man davon ausgehen, dass es sich bei allen zuletzt aufgespürten Objekten um Ballone handelt.
Weshalb tauchen genau jetzt so viele Ballone auf?
Die Frage ist vielleicht eher: Wieso entdeckt man im Moment so viele davon? Vermutlich deshalb, weil man nun nach solchen Objekten Ausschau hält. Normalerweise werden die Observationsinstrumente kalibriert, um den Luftraum im Hinblick auf schnell fliegende Eindringlinge zu überwachen – nicht aber, um langsam dahingleitende Ballone in der Stratosphäre zu erspähen. Nach der ersten Sichtung justierten die Amerikaner ihr Radarsystem North American Aerospace Defense Command (NORAD) neu, und prompt fingen sie der Reihe nach Bilder verdächtiger Flugobjekte ein. Was die Welt im Moment wahrnimmt, ist vermutlich auch das Ergebnis gesteigerter Aufmerksamkeit. In der Ukraine zwingt der Krieg zusätzlich zu höherer Wachsamkeit. Offenbar dürften dort schon seit Monaten immer wieder Ballone auffallen, die Russland zugeordnet werden.
Sind Ballone nicht veraltete Technik?
Nicht unbedingt. Zwar benutzt man heute im Regelfall Satelliten, um in großer Höhe Daten zu gewinnen. Doch Satelliten haben auch Nachteile: Erstens umrunden sie ständig die Erde und befinden sich daher stets nur kurz über jener Region, die sie beobachten sollen. Die nächste Chance, Bilder aufzuzeichnen, ergibt sich nach einem weiteren Orbit etwa 90 Minuten später. Zweitens befinden sie sich sehr hoch über der Erde – zumindest in 180 bis 2000 Kilometer Höhe. Kommunikationssatelliten können sogar in bis zu 36.000 Kilometer Höhe kreisen. High-altitude surveillance balloons können diese Nachteile ausgleichen: Sie befinden sich viel näher zum Erdboden, meist in 20 bis 30 Kilometer Höhe. Außerdem bewegen sich Ballone langsam und befinden sich vergleichsweise lange über einer ausgewählten Region. Und man kann sie mit modernster Sensor- und Übertragungstechnik ausstatten, sodass alte und neue Technologie verquickt wird. Sie sind auch nicht gänzlich unsteuerbar: Zwar gleiten Ballone mit dem Wind, doch in der Stratosphäre sind Windströmungen viel besser berechenbar als auf dem Erdboden.
Werden Ballone tatsächlich für Spionage eingesetzt?
Auf jeden Fall. Aus der Geschichte sind zahlreiche Fälle bekannt. Die USA schickten in den 1940er- und 1950er-Jahren jede Menge Ballone empor, um die damalige Sowjetunion auszuspionieren. Eines dieser Unterfangen trug den Namen „Project Genetrix“. Während des kalten Krieges trachteten sowohl die USA als auch die Sowjets danach, gegnerisches Territorium mit Ballonen zu überwachen. Von China ist bekannt, dass es zumindest über mehrere Jahre Bestrebungen gab, Ballon-Programme zu betreiben. Operationsbasis soll  Hainan an Chinas Südküste gewesen sein, das Interesse dürfte Japan, Indien, Vietnam, Taiwan und den Philippinen gegolten haben. Aufzeichnungen über den Einsatz von Ballonen bei Konflikten reichen aber zurück bis Ende des 18. Jahrhunderts: Damals setzte Frankreich einen Heißluftballon zu Aufklärungszwecken ein, um gegnerische Truppen auszuspionieren.
Was könnte China bezwecken?
Fachleute meinen, dass es vielleicht gar nicht so sehr darum ging, geheime Infrastruktur auszuspionieren, sondern eher um eine Botschaft: Seht her, wir können in euren Luftraum eindringen, und ihr merkt erst einmal nichts davon. Womöglich wollte man die USA bloßstellen und demonstrieren, wie löchrig das amerikanische Sicherheitsnetz ist – und ein Objekt wie ein Ballon, das man im 21. Jahrhundert buchstäblich nicht am Radar hat, eignet sich dafür perfekt.
Warum die große Aufregung in den USA?
Die Reaktion könnte auch historische Gründe haben: Im Zweiten Weltkrieg schickte Japan eine Flotte von Ballonen nach Nordamerika, die mit Brandbomben bestückt waren und Todesfälle in der Bevölkerung verursachten. Für welche Vorfälle welches Land verantwortlich ist, lässt sich nicht immer leicht klären – und selbst nach der Bergung von Ballonresten muss nicht  Gewissheit herrschen: Schließlich ist eine Vielzahl der weltweit verwendeten technischen Bauteile made in China.
Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft