Beißhemmung: Die Gefahr durch Haie ist verschwindend gering
19. Juli 2015, später Vormittag: Mick Fanning, dreifacher Surf-Weltmeister, sitzt auf seinem Board und blickt gespannt zum Horizont. Mehrere Kameras beobachten den Australier, Drohnen umkreisen ihn. Millionen Zuschauer verfolgen jede seiner Bewegungen live vor dem Fernseher. Fanning steht im Finale der World Surf League in Jeffreys Bay, Südafrika. Mit seinem Herausforderer Julian Wilson wartet er auf die perfekte Welle. Plötzlich taucht, die TV-Zuschauer sehen sie zuerst, eine dunkelgraue Flosse hinter ihm auf. Ein drei Meter langer Weißer Hai stößt von unten an das Brett, an das sich Fanning nun verzweifelt klammert. Er tritt nach dem Hai, der Raubfisch schnappt nach ihm, erwischt die Leine, die Fannings Bein mit dem Surfboard verbindet. Der Hai zieht ihn mit sich, er verschwindet in den Fluten. Doch dann hat der 34-Jährige unfassbares Glück: Der Hai beißt die Leine durch und nimmt das Brett ins Visier. Fanning nützt seine Chance, krault in Richtung Strand, ein Jetski-Fahrer zieht ihn schließlich aus dem Wasser - unverletzt. "Ich habe die ganze Zeit auf einen Biss gewartet. Ich habe ihn in den Rücken getreten und laut geschrien“, erzählt Mick Fanning kurz nach dem Angriff in einem Interview.
Die Szene löste weltweite Debatten aus, die nun wieder aufflammten, da die Universität Florida ihre Analyse des Jahres 2015 vorlegte: Es gab demnach rund um den Globus mehr Unfälle mit Haien als je zuvor. Von einem "Rekordjahr“ war die Rede in internationalen Medien, eindringliche Warnungen für die kommende Urlaubssaison inklusive. Doch wie groß ist das Risiko wirklich, von einem Hai attackiert zu werden? Und was bedeutet "Rekord“ in konkreten Zahlen?
Die Gefahr ist tatsächlich gleich null. Zum Vergleich: Das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist eins zu fünf. Die Möglichkeit eines Menschen, im Laufe seines Lebens zu ertrinken, beträgt eins zu 1134. Die Chance, von einem Blitz erschlagen zu werden, tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 80.000 ein. Sie ist bei Weitem höher, als von einem Hai tödlich verletzt oder gefressen zu werden: Das passiert einem Menschen unter 3,7 Millionen. 2015 war, zugegeben, ein vergleichsweise gefährliches Jahr. 98 Menschen wurden von einem Hai angegriffen, so viele wie noch nie. Sechs Menschen starben dabei. Den bisherigen Höchststand verzeichnete die Uni Florida, welche die Angriffe weltweit dokumentiert, im Jahr 2000 mit 88 Attacken. Die meisten Unfälle passierten in Florida, gefolgt von Australien, Hawaii und Südafrika. "Ein Grund für den leichten Anstieg ist, dass durch die Erwärmung der Weltmeere zusätzliche Gebiete sowohl von Haien als auch von Menschen genutzt werden“, sagt George Burgess von der Universität Florida. Trotzdem: Gemessen an den Millionen von Schwimmern, Surfern und Tauchern, die sich jährlich im Meer tummeln, ist die Zahl der Zwischenfälle verschwindend gering.
Furchteinflößender Kontrollverlust
Woher kommt diese irrationale Angst des Menschen vor dem Meerestier überhaupt? Im Ozean schwimmend bewegen wir uns in einem Terrain, das nicht unser natürlicher Lebensraum ist. Dementsprechend unsicher sind wir, und Unsicherheit befeuert Angst. Ebenso furchteinflößend ist der Kontrollverlust, dem wir uns im Meer stellen müssen: Wir können unmöglich erkennen, ob in der Tiefe etwas auf uns lauert. Rational gesehen müssten uns eher beim Gedanken ans Telefonieren mit dem Handy im Auto die Knie schlottern - doch bei dieser riskanten Angewohnheit haben wir das (oft trügerische) Gefühl, die Situation im Griff zu haben. Außerdem fürchten sich Menschen vor einem grausamen Tod ungleich mehr als vor einem unspektakulären, wie Psychologen herausfanden. Im Schlaf zu sterben, ist tatsächlich eine vergleichsweise schönere Vorstellung, als jene, bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden.
Hinzu kommt die Beschaffenheit unseres Gehirns. Wenn wir über Haie nachdenken, sind wir nicht objektiv. Sehen wir einen Hai oder auch nur das Bild des Raubfischs, landet die Information im Hypothalamus. Er gibt die Information an die Amygdala weiter, vereinfacht gesagt an unser Angstzentrum, und gleichzeitig an den präfrontalen Kortex, wo das Denken passiert. Nur: Die Leitung zum Kortex ist länger. Die Information über den Hai kommt zuerst in der Amygdala an und löst eine instinktive Angstreaktion aus. 22 Millisekunden später sendet der präfrontale Kortex die rationale Einschätzung der Situation. Erst jetzt hat die Amygdala beide Informationen. Die Angst hat bereits zu wirken begonnen, bevor die Fakten ankommen. Aus evolutionärer Sicht ist diese Form der Informationsverarbeitung durchaus sinnvoll - sie veranlasst uns, ohne zu überlegen vor einer potenziellen Gefahr zu flüchten. Im Fall der Haie schürt sie Ängste, die fast immer überflüssig sind.
Dabei sind es vielmehr die Raubfische, die sich vor dem Menschen fürchten müssen, nicht umgekehrt. 1950 wurden etwa 25.000 Tonnen Haifisch aus dem Meer gezogen, heute verenden mehr als 200.000 Tonnen des Fischs als Beifang in Netzen oder landen in Chinas Suppentellern. Für Haie ist die Überfischung besonders dramatisch, da die meisten Arten lebende Jungen gebären. Im Gegensatz zu eierlegenden Fischen ist die Fortpflanzung langwierig und energieaufwendig. Manche Arten werden erst mit zwölf Jahren geschlechtsreif, der kanadische Dornhai sogar erst im stolzen Alter von 30. Die Chance, Nachwuchs zu bekommen, bevor sie in den Fischernetzen landen, ist für manche Arten dementsprechend gering. Viele sind vom Aussterben bedroht.
Bescheidene Fortschritte bei Fangquoten
Ein knappes Viertel der weltweit gehandelten Haifischflossen kommt aus der EU, insbesondere aus Spanien und Portugal, sagt die deutsche Biologin und Haiexpertin Heike Zidowitz. Sie war dabei, als vergangenen Februar Delegierte aus 40 Staaten in Costa Rica über den Schutz der Raubfische verhandelten. Das Ergebnis: Zusätzlich zu den bereits geschützten Weißen, Riesen- und Walhaien kamen weitere 22 Hai- und Rochenarten, darunter der Große Hammerhai, der Riesenmanta und drei Fuchshaiarten auf die Liste. Für sie sollen nun Schutzzonen eingerichtet, Fangquoten reduziert oder Fangstopps ausgerufen werden. Unterzeichnet haben die Vereinbarung unter anderen die USA, die EU, Australien und Südafrika, nicht aber China und viele andere südostasiatische Länder. Ein bescheidener Fortschritt.
Die rasiermesserscharfen Zähne glitzern in der Sonne. Das dunkle Maul, aus dem sie ragen, klappt auf und wieder zu. Mit seinen knapp drei Metern gehört dieser sich windende weiße Hai zu den kleineren seiner Art. In den Gesichtern der Menschen, die seinen massigen Körper umringen, entdeckt man keine Angst. Im Gegenteil: Mit Sandkübeln, Schaufeln und sogar Frisbee-Scheiben versuchen sie nach Kräften, das Tier zu retten. Der Weiße Hai war vergangenen September in Cape Cod, Massachusetts, gestrandet. Dutzende Badegäste begannen sofort, ihn mit Wasser zu benetzen. Andere schaufelten eine lange Rinne Richtung Meer, in der sie den Hai schließlich an der Schwanzflosse zurück ins Wasser zogen. "Früher gab es solche Szenen nur mit Delfinen oder Walen. Heute sind spontane Hairettungen durchaus üblich“, sagt die Biologin Zidowitz. Angst und Groll hätten sich in den vergangenen 20 Jahren zunehmend in Faszination gewandelt. 1975 hatte Steven Spielbergs "Der weiße Hai“ eine Welle des Hasses auf den Raubfisch ausgelöst, der vor allem Fischer in den USA zur erbitterten Jagd veranlasste. Man wollte die angeblich so blutrünstigen Monster am liebsten ausrotten.
Auch in Asien denken immer mehr Menschen um. Vor zehn Jahren war Haifischsuppe auf jeder Hochzeit ein Muss - heute entscheiden sich viele Chinesen dagegen. In Thailand und Singapur zeigen Kampagnen von Haischützern ebenfalls Wirkung. Sie machen auf das grausame "Finning“ aufmerksam, bei der dem Tier bei lebendigem Leib die Flosse abgetrennt wird, woran es qualvoll verendet.
Ein Restrisiko, im Meer auf einen Hai zu treffen, besteht natürlich - vor allem für Surfer. Die Hälfte der 98 Unfälle von 2015 betrafen Wellenreiter, in 42 Prozent der Fälle waren Schwimmer die Opfer, neun Prozent betrafen Schnorchler. Surfer bewegen sich in Zonen, in denen auch Haie sich gerne aufhalten. "Wir dringen in ihr Revier ein, nicht umgekehrt“, sagte Mick Fanning kurz nach seinem Kampf gegen den Weißen Hai im Vorjahr. Das Strampeln mit Armen und Beinen oder "wipe outs“, spektakuläre Stürze ins Wasser, können das Interesse der Tiere wecken.
Jetskis mit Sonargeräten
Um Zusammenstöße wie jenen von Fanning künftig zu verhindern, setzten die Veranstalter des weltweit höchstdotierten Surfturniers "Margaret River Pro“ im April in Westaustralien auf speziell ausgerüstete Jetski-Teams. Zumal Surfer am Tag vor Beginn des Wettkampfs einen großen Hai in der Bucht gesehen hatten. Die Jetskis hatten Sonargeräte an Bord, jeder Fahrer überwachte den Umkreis von 45 Metern über und unter Wasser: "So konnten wir sofort feststellen, ob sich nur ein Delfin oder doch ein Hai den Surfspots nähert“, so Justin Majeks, einer der Verantwortlichen des jährlichen Spektakels südlich von Perth. Passiert ist diesmal nichts.
Auch in Südafrika suchen die Behörden nach geeigneten Maßnahmen, die den Tieren nicht schaden. Eine Gruppe von Wissenschaftern hat im Auftrag der Stadtregierung von Kapstadt Ende 2015 einige Lösungen vorgestellt. Zwei Jahre lang haben die Forscher ein 350 Meter langes Haifischnetz getestet, das sie täglich in der Früh in der Bucht von Fish Hoek Beach ausgebracht und abends wieder eingeholt haben. Dessen Maschen sind enger als übliche, fix installierte Haifischnetze entlang der Küsten von New South Wales und Queensland in Australien, in denen sich immer wieder Haie, Rochen und Delfine verheddern und sterben. Die Testphase in Kapstadt lief gut, berichtet Sarah Waries im Fachmagazin "Nature“. Weder Menschen noch Tiere seien zu Schaden gekommen. Das Netz eigne sich aber nur für kleine Strände und schütze hauptsächlich Schwimmer, so Waries.
Der sechsmonatige Test eines elektromagnetischen Netzes, das auch Surfer abschirmen sollte, blieb indes ergebnislos. Der Grund: Während der gesamten, sehr kostspieligen Beobachtungszeit ließ sich kein einziger Hai im Testgebiet der False Bay blicken. Die Forscher hoffen nun in einer zweiten Untersuchung auf die Anwesenheit der Raubfische.
Derweil hatte Phil Richardson, ebenfalls Teil des von Kapstadt engagierten Forscherteams, mit einer günstigeren Idee Erfolg. Er zog verschieden bemalte Surfbretter an langen Leinen hinter seinem Boot her, mit dem er über die Haihotspots Südafrikas jagte. Richardson testete einfarbige Bords und solche mit dem gestreiften Muster giftiger Seeschlangen, auf dessen Wirkung australische Wellenreiter schon länger setzen. Deutlich besser abschrecken ließen sich die Raubfische allerdings von der prägnanten Zeichnung ihres einzigen Feindes außer dem Menschen: des Orcas. Der schwarz-weiße Bauch des Schwertwals schützte nicht nur das dementsprechend bemalte Brett, sondern auch dessen einfarbiges Begleitbord. "Die Haie änderten ihre Meinung und drehten ab, sobald sie das Muster des Orcas erkannten“, sagt Richardson. Er hat bereits ein Patent für seine Erfindung angemeldet.