Berg Unheil: Wie die Klimakrise das Bergsteigen verändert
Als Bergführerin Magdalena Habernig und ihr Begleiter an einem heißen Augusttag im vorigen Sommer vom Gipfel des Großvenedigers absteigen, kreist plötzlich ein Polizeihubschrauber über ihnen. Es dauert nicht lang, bis ihnen klar wird, warum: Das Gletscherfeld sieht völlig anders aus als noch am Vortag. Durch die Hitze haben sich unzählige neue Spalten geöffnet. „Viele Passagen waren nicht mehr passierbar. Wir mussten uns durch ein Labyrinth aus Abgründen kämpfen und neue Wege suchen“, sagt Habernig. Ein mühsames und kraftraubendes Unterfangen, das weniger Geübte nach einem anstrengenden Gipfelsturm wohl zur Verzweiflung gebracht hätte. Als die Seilschaft endlich die große Gletscherspalte erreichte, die schon seit einigen Jahren mithilfe einer Leiter überwunden werden muss, standen sie vor der nächsten Herausforderung. Die Kletterhilfe lag nur noch ganz knapp an den Spaltenrändern auf. Im Polizeihubschrauber über ihren Köpfen sondierten indes Expertinnen und Experten die Lage. Sie mussten entscheiden, ob das Gebiet behördlich gesperrt werden sollte.
„Dass sich das Gelände innerhalb von 24 Stunden grundlegend verändert, hat mich sehr überrascht“, sagt Magdalena Habernig. Die Bergführerin aus Osttirol ist studierte Meteorologin und beobachtet die Klimaveränderungen in den Alpen seit Jahren genau. Im aktuellen Tauwetter-Podcast erzählt sie über ihren Alltag in den Bergen. Gesperrt wurde das Gebiet am Großvenediger dann übrigens nicht, aber das Team der am Anstieg auf 2558 Meter liegenden Kürsinger Hütte warnte alle Bergsteiger eindringlich vor den Gefahren am Gletscherfeld.
Bergführerin Magdalena Habernig
Im Tauwetter-Podcast erzählt sie, wie die Klimakrise ihren Alltag verändert. Hier anhören
Situationen wie die am Großvenediger häufen sich. Die Klimakrise ist mit voller Wucht in den Alpen angekommen. Gleichzeitig sind mehr Menschen denn je in den Bergen unterwegs. Was heißt das für den heurigen Bergsommer? Welche Gefahren lauern beim Gipfelsturm? Und welche Touren sollten wenig erfahrene Bergsteiger besser meiden?
Die Videos von Augenzeugen waren furchteinflößend. Mitte Juni donnerte vom Fluchthorn in Tirol eine Million Kubikmeter Gestein die Hänge hinab. Der 3.399 Meter hohe Gipfel in der Silvrettagruppe gilt als beliebte Eingehtour. Der Berg ist um 19 Meter geschrumpft, das Gipfelkreuz wurde fortgerissen, und eine gewaltige Mure ergoss sich ins Tal. Es war großes Glück, dass an diesem Sonntag niemand zu Schaden kam.
Im schweizerischen Brienz wurden die Bewohnerinnen und Bewohner schon vor Wochen aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. In der Nacht vom 15. auf 16. Juni war es dann so weit: Ein gewaltiger Felssturz verfehlte das Bergdorf in Graubünden nur knapp. Wenige Meter vor dem ersten Haus des Ortes kamen die Gesteinsmassen zum Liegen.
Jenen Seilschaften, die vor genau einem Jahr auf der Marmolata in den Dolomiten unterwegs waren, war dieses Glück nicht beschieden. Als sich ein riesiger Eisblock vom Gletscher löste, riss er zwölf Bergsteigerinnen in den Tod, acht weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Die Route über den Normalweg war an diesem sonnigen Sonntag stark begangen. Gab es Anzeichen für diese Katastrophe? „Keine Sekunde hätte man daran gedacht, dass dort so ein Eissturz möglich ist“, sagt Bergführerin Magdalena Habernig. Ein Felssturz kündige sich meist dadurch an, dass im Vorfeld vermehrt Steine herunterfallen – wenn das halbe Gletscherfeld abrutsche, passiere das hingegen schnell. Befindet man sich in diesem Gebiet, ist ein Entkommen unmöglich.
Alarmstufe rot
Dass sich Ereignisse wie diese häufen, ist kein Zufall. Die Erderhitzung setzt dem Permafrost auf über 2500 Metern Seehöhe enorm zu. Das Eis hält in diesen Höhen den Fels zusammen. Schmilzt es bis tief in die Gesteinsschichten hinein, kann das die Hänge und Gipfel destabilisieren. Für Bergsteiger heißt das Alarmstufe rot: Eis- und Felsschläge drohen, steile Blankeisfelder bergen Absturzgefahr, und an den schmelzenden Gletschern tun sich unweigerlich gefährliche Spalten auf.
Martin Gurdet, Geschäftsführer der Österreichischen Bergrettung, erinnert sich an einen heiklen Einsatz der Tiroler und Salzburger Kollegen. Eine Gruppe Deutscher wollte im August 2017 eine Skitour auf den Gabler im Zillertal machen. „In den Jahren davor gab es immer genug Schneeauflage, was eine Querung des Gletschers mit Tourenski problemlos möglich machte“, sagt Gurdet. Doch nicht in diesem Sommer. Weil zu wenig Schnee lag, nahm die Seilschaft den Aufstieg mit Steigeisen in Angriff. Nach zwei Dritteln des Weges zum Gipfel kam einer der Bergsteiger ins Rutschen und riss die gesamte Mannschaft mit. Die Gruppe stürzte 165 Meter über die Eisflanke und blieb auf einem Felsvorsprung liegen. Fünf waren auf der Stelle tot, einer erlag wenige Wochen später seinen Verletzungen.
Die Rettung gestaltete sich äußerst schwierig. Die Einsatzkräfte wurden am Tau eines Hubschraubers zur Unfallstelle gebracht. Obwohl der Pilot oberhalb einen Wachposten abgesetzt hatte, der vor herabfallenden Trümmern warnte, wurde einer der Flugretter verletzt. „Wir müssen immer genau abwägen, wie gefährdet wir als Retter sind. Situationen wie diese werden häufiger“, sagt Gurdet. „Steinschläge bedrohen nicht nur die Einsatzkräfte am Boden, sondern auch die Rotorblätter des Hubschraubers. Ist die Gefahr zu groß, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich die Lage entspannt.“
Wie eine spätere Analyse ergab, hatten sowohl die Hitzewelle (es war der damals drittheißeste Sommer der Messgeschichte) als auch die Wetterlage einen Anteil an dem verheerenden Unglück. Am Abend, die sechsköpfige Gruppe saß schon auf der Zittauer Hütte bei der Jause, hatte es gewittert und in der Nacht dann aufgeklart. Zum Unfallzeitpunkt war die Oberfläche mit hart gefrorenem Wassereis glasiert. Zudem lag die Unfallstelle noch im Schatten. Deswegen hatte die Seilschaft beim Absturz auf dem blanken Eis fast wie im freien Fall beschleunigt, ohne dass sie irgendetwas gebremst hätte.
Rekordwerte für alpine Vereine
Aufgrund der verschärften Bedingungen ist auch die Bergrettung immer stärker gefordert: 2022 hat sie erstmals in ihrer Geschichte mehr als 9000 Personen geborgen, darunter 266 Tote. Zudem wird der Bergsport immer beliebter. So stieg etwa die Mitgliederzahl des Österreichischen Alpenvereins in den vergangenen zehn Jahren von 470.000 auf einen Rekordwert von aktuell 725.000.
Wer heute in die Berge geht, muss flexibel sein. Wettervorhersagen sind wichtiger denn je. Die Zahl der Blitze auf den Bergen hat sich in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt. Klassische Hochtouren ins vergletscherte Hochgebirge verschieben sich in Richtung Frühjahr, weil man noch mehr Schnee auf den Gletschern vorfindet, die Bedingungen also besser geeignet sind.
Alte Wanderkarten wirft man am besten ins Altpapier; die Routen ändern sich ständig, manche sind gar nicht mehr begehbar. „Zum Beispiel das Zuckerhütl in den Stubaier Alpen, das in der Sommersaison von lokalen Bergführern wegen Steinschlags gar nicht mehr begangen wird“, sagt Thomas Wanner vom Österreichischen Alpenverein. Oder der Hohe Dachstein, wo sich im Sommer im Übergangsgebiet zwischen Gletscher und Fels ständig neue Gletscherspalten auftun. Auf den Großglockner wiederum führt seit einigen Jahren eine neue Route, die das sogenannte Eisleitl umgeht, weil die Flanke im Sommer ausapert und sich immer wieder Felsbrocken lösen (siehe Karte auf den Seiten 50/51). „Veränderte Bedingungen werden uns in Zukunft immer mehr beschäftigen“, sagt Bergretter Gurdet. „Klimaprognosen sagen das voraus, in der Risikoabwägung reagieren wir darauf.“
Aber nicht nur im Hochgebirge, auch in den niederen Wanderlagen birgt die Klimakrise neue Gefahren. Durch vermehrte Wetterextreme entstehen enorme Schäden am Wegenetz. Starkregen und Muren können Routen unbegehbar machen. Wegsperren und Warnungen sind unbedingt ernst zu nehmen, es herrscht unter Umständen Lebensgefahr.
Dagegen wirkt die hitzige Debatte um die Gipfelkreuze nachgerade lächerlich. ÖVP und FPÖ sahen gar die österreichische Identität gefährdet, weil der Alpenverein keine weiteren mehr aufstellen will. Die Gründe: Es gebe mit 4000 Exemplaren ohnehin genug, zudem sei der Aufbau höchst aufwendig.
Eines steht fest: Gipfelkreuze wird es vermutlich künftig häufiger in die Tiefe reißen. Der Alpenverein hat jedoch erklärt, kaputte Kreuze ersetzen zu wollen.
Sieben Tipps für sicheres Bergsteigen im Hochgebirge
1. Selbsteinschätzung
Kondition und Können aller Teilnehmer müssen realistisch eingeschätzt werden. Danach richten sich Länge und Schwierigkeitsgrad der Tour. Häufige Unfallursachen sind Übermüdung, Erschöpfung und Überforderung. Die Kräfte müssen auch für den Abstieg noch reichen.
2. Wetterbericht
Vorab Wetter- und Lawinenwarndienste konsultieren und auch während der Tour ständig das Wetter im Auge behalten. Bei einem Wetterumbruch rechtzeitig umkehren oder Schutz suchen. Nässe und Kälte führen rasch zu Unterkühlung und Erschöpfung. Bei Gewittern mit Blitzen Pickel und Steigeisen weg vom Körper bringen und auf den Boden kauern.
3. Tourenplanung
Möglichst aktuelle Wanderkarten verwenden, da sich Routen immer häufiger ändern. Alternativen einplanen, falls sich die Bedingungen so ändern, dass eine Durchführung der Tour zu gefährlich wäre. Das digitale Tourenportal alpenvereinaktiv.com gibt Hinweise und listet für eine Vielzahl von Routen die aktuellen Bedingungen auf. Auch Hüttenwirtinnen und Einheimische haben oft wertvolle Tipps. Zudem sollte immer jemand wissen, welche Tour man sich vornimmt, und wann die Rückkehr geplant ist. Verirren führt oft zu aufwendigen, langwierigen und teuren Sucheinsätzen.
4. Ausrüstung
Karte, Erste-Hilfe-Set, Biwaksack, Handy mit vollem Akku, Regenschutz, Lampe und Signalmittel gehören in jeden Rucksack. Im Hochgebirge ist auch ein Helm unerlässlich.
5. Tempo
Die Geschwindigkeit muss sich stets am schwächsten Mitglied der Gruppe orientieren. Zu schnelles Gehen führt zu frühzeitiger Erschöpfung.
6. Verpflegung
Gehaltvolle, aber fettarme Nahrung, für zwischendurch schnell verwertbare Kohlenhydrate wie Trockenfrüchte oder Müsliriegel sowie Traubenzucker als akuter Energiespender. Ausreichend trinken, Dehydration kann zu einer gefährlichen Schwächung des Kreislaufs führen.
7. Verhalten in Notfällen
Ruhe bewahren, Erste Hilfe leisten und Verletzte sichern. Notruf wählen (Alpinnotruf 140 oder Euronotruf 112). Unfallgeschehen und Ort genau schildern, den Anweisungen folgen und warten, bis Hilfe eintrifft. Sparsam telefonieren, damit der Akku reicht.
Quellen: Österreichische Bergrettung, Alpenverein