Wissenschaft

Bestie Mensch: Zweifel am berühmten Stanford Prison Experiment

Ein legendärer Versuch sollte zeigen, wie schnell der Mensch zum enthemmten Monster wird. Für heutige Sozialforscher ein wertloses Experiment.

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Es ist eines der berühmtesten Experimente der Wissenschaftsgeschichte: Im August 1971 lud der Psychologe Philip G. Zimbardo 24 Studenten zu einem außergewöhnlichen Versuch an der Stanford University ein. Zwölf von ihnen sollten in die Rolle von Strafgefangenen schlüpfen, die andere Hälfte sollte Gefängniswärter spielen. Zwei Wochen lang wollte Zimbardo anschließend im Keller der Universität eine Gefängnissituation simulieren – und untersuchen, ob und wie dadurch das Verhalten und die Psyche der „Wärter“ und „Gefangenen“ beeinflusst wurde.

Die Ergebnisse der heute als „Stanford Prison Experiment“ bekannten Studie waren schockierend, werden bis heute häufig zitiert und gelten als mahnendes Beispiel dafür, wie schnell sich Menschen, sofern man sie unter entsprechenden Umständen gewähren lässt, offenbar in sadistische, grausame Zeitgenossen verwandeln können, die andere  erniedrigen und quälen.

Wie schnell wird der Mensch zur Bestie?

Allerdings: Ob die Resultate des Experiments wirklich aussagekräftig und die Schlüsse daraus gültig sind, wurde immer wieder bezweifelt. Nun verfasste Augustine Brannigan, emeritierter Professor für Soziologie, einen Essay für die Online-Plattform „Retraction Watch“, dem er sogar die Frage voranstellte: Sollte man Zimbardos Arbeit zurückziehen?

Wenn man einen wissenschaftlichen Artikel zurückzieht, heißt das in der Fachsprache „Retraction“. Es ist die größte Schmach für Forschende und das publizierende Journal: Einer Retraction geht im Regelfall eine Prüfung voran, die Fehler, grobe Unsauberkeiten oder glatte Schummeleien zutage gefördert hat. Ein Beispiel für solch einen Fall ist die berüchtigte Studie, die Impfungen mit Autismus in Verbindung brachte. Das Portal Retraction Watch berichtet ständig über solche Vorgänge, befasst sich aber auch umfassender mit Wissenschaftsethik. Insofern ist es naheliegend, dass Brannigan seinen Text nun dort veröffentlichte.

Gefangene und ein Wärter

Die „Häftlinge“ im Experiment mussten Kutten mit Nummern tragen und Bestrafungen und Demütigungen ertragen. Die „Wärter“ trugen Sonnenbrillen und hatten Gummiknüppel zur Verfügung. Bildquelle: PrisonExp.org.

Das Stanford Prison Experiment startete, indem jene Studenten, die die Gefangenen spielen sollten, tatsächlich von der eingeweihten Polizei verhaftet und ins „Gefängnis“ im Keller der Uni gebracht wurden. Dort mussten sie ihre Kleidung abgeben, statt dessen erhielten sie Kutten mit Häftlingsnummern. Wollten sie die Toilette aufsuchen, bekamen sie Säcke über den Kopf gestülpt und wurden von den „Wachen“ zum WC geführt.

Sie wurden gleichsam ihrer Persönlichkeit und Identität geraubt, was man „Deindividuation“ nannte. Zugleich dauerte es nicht lange, bis die Wachen scheinbar begannen, ihre Machtposition auszunutzen: Sie weckten die Häftlinge mitten in der Nacht mit schrillen Pfeiftönen, ließen sie zu Zählappellen antreten, schüchterten ihre Gefangenen mit Gummiknüppeln ein oder besprühten sie mit Feuerlöschern.

„Die Teilnehmer zeigten pathologisches Verhalten“, schreibt Brannigan. Rasch hätten die Wachen Anzeichen von Dominanz und Brutalität gezeigt, während bei den Inhaftierten depressives Verhalten und sogar Nervenzusammenbrüche auftraten. Und bereits am zweiten Tag dürfte es zu einer Art Rebellion der Insassen gekommen sein, die wiederum von den Wachen geahndet wurde.

Strafaktion im Gefängnis

Die Inhaftierten mussten zur Strafe beispielsweise Liegestütze machen. Manchmal wurden sie mitten in der Nacht mit schrillen Pfeiftönen geweckt. Bildquelle: PrisonExp.org.

Nach sechs Tagen eskalierte die Situation dermaßen, dass das Experiment vorzeitig abgebrochen wurde. Es schien die schlimmsten Annahmen über die dunklen Seiten der Spezies Mensch zu bestätigen: Schon in kürzester Zeit kann der Mensch, wenn mit Pseudo-Autorität ausgestattet und entsprechend ermutigt, zur gemeinen und mitleidlosen Bestie mutieren. Diese Lehren zog man jedenfalls aus dem legendären Experiment.

Fragwürdiges Studiendesign

Doch sind diese Schlüsse wirklich zulässig? Nein, glauben Brannigan und andere Kritiker. Zimbardos Versuch sei vielmehr ein Beispiel dafür, wie sich fragwürdige Ergebnisse aus einer uralten und nach heutigen Standards völlig unzulänglichen Studie für immer im öffentlichen Gedächtnis halten – samt dem Anspruch, menschliches Verhalten zu erklären.

Es lassen sich zahlreiche Kritikpunkte anführen: So veröffentlichte Zimbardo seine Resultate statt in einem Fachjournal zuerst in den Medien, was unter Forschenden verpönt ist – und Auslöser echter Revolten in US-Gefängnissen war. Ethische Standards wurden ebenso verletzt wie die Regel, dass man zuerst ein Studiendesign entwirft und eine Hypothese formuliert, also angibt, welche Fragestellungen man überhaupt untersuchen möchte.

Gravierender als solch formale Fehler ist jedoch, dass die Wachen offenbar von den Studienleitern beeinflusst und aktiv ermuntert wurden, die Gefangenen zu demütigen. Außerdem sagten manche von ihnen später aus, dass sie vor allem Theater gespielt hätten. Sie hätten einfach die an sie gestellten Erwartungen erfüllt, indem sie besonders hartes Verhalten zeigten. Als britische Psychologen 30 Jahre später das Experiment wiederholten, kamen denn auch ganz andere Resultate heraus: Da solidarisierten sich die Wachen vor allem mit den Gefangenen.

Historische Experimente wirken nach

Und schließlich: Selbst wenn das Experiment korrekt abgelaufen wäre – die Studiengruppe war völlig ungeeignet, um überhaupt irgendwelche belastbaren Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Design mit zwei Gruppen zu nur je zwölf Personen, alle im selben Alter und derselben sozialen Schicht zugehörig, wäre heute praktisch denkunmöglich. Bei so wenigen Probanden kann schon zufälliges Verhalten von ein, zwei Teilnehmern das Gesamtergebnis beeinflussen und zu völlig verzerrten und damit unbrauchbaren Schlüssen führen.

All das ist natürlich keine generelle Entlastung für die Spezies Mensch: Es bedeutet mitnichten, dass nicht manch einer unter geeigneten Umständen rasch zum Monster werden kann, das andere Menschen grausam „depersonalisiert“. Aber Zimbardos Versuch war mit Sicherheit nicht in der Lage, verlässliche Aussagen darüber zu treffen.

Und noch eine Lehre lässt sich aus der Geschichte ziehen: Manch eines der großen historischen Experimente, gerade aus dem Feld der Psychologie, das vorgeblich menschliches Verhalten erklärt, würde heute durch alle Prüfungen fallen. Anders als vielfach unterstellt, ist Wissenschaft heute weitaus normierter, transparenter und sehr rigorosen Regeln unterworfen. Und jene, die dagegen verstoßen, müssen mit ungewollter Präsenz auf Retraction Watch rechnen.

Alwin Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft