Biologe Iain Couzin: "Wir hatten es mit Kannibalen zu tun!“
profil: Zu Beginn Ihrer Forschung mit Heuschrecken befürchteten Sie, verrückt zu werden. Warum? Iain Couzin: Ich habe die Heuschrecken in eine Arena gesetzt und sie Runden laufen lassen. Damit wollten wir einen nie endenden Schwarm simulieren. Ich setzte also am Morgen 15 Heuschrecken hinein, mein Kollege holte abends aber nur 13 oder 14 wieder heraus. Ich dachte, ich würde mich permanent verzählen, und begann, an meinem Verstand zu zweifeln. Doch dann sah ich mir die Videos, mit denen wir das Geschehen in der Arena dokumentierten, genauer an und beobachtete: Wir hatten es mit Kannibalen zu tun! Manche Heuschrecken wurden von ihren Nachbarn einfach verschlungen. Bis dahin hatte man gedacht, es handle sich um rein vegetarisch lebende Insekten. Heuschreckenschwärme können enorme landwirtschaftliche Schäden anrichten, die Ernährung von zehn Prozent der Weltbevölkerung ist durch sie potenziell bedroht. Wir haben entdeckt, warum sich ein so riesiger Schwarm in Bewegung setzt. Finden die Insekten nicht mehr genug zu fressen, leiden sie vor allem unter dem Mangel an Eiweiß, Wasser und Salz. Eine andere Heuschrecke, die genau daraus besteht, wird dann zur perfekten Ressource.
profil: Die Heuschrecken schwärmen also aus, weil sie voreinander davonlaufen? Couzin: Genau. Die eine wird von ihrem Hintermann gejagt, während sie versucht, ihren Vordermann zu kriegen. So setzen sie sich, von außen betrachtet, sehr organisiert in Bewegung.
Wir haben Kameras und Computerprogramme entwickelt, die erkennen, wie sich einzelne Menschen bewegen, wohin sie schauen und wie sie untereinander agieren.
profil: Was kann man dagegen tun, dass sie starten und auf der Suche nach Nahrung ganze Landstriche verwüsten? Couzin: Es ist sehr schwer, Heuschreckenschwärme vorab zu finden. Mithilfe von Satelliten können wir in schwer zugänglichen Gebieten in Afrika die Vegetation beobachten und die Nahrungssituation abschätzen. Dadurch lässt sich besser vorhersagen, wo Schwärme entstehen und wohin sie ziehen könnten.
profil: Sie haben auch Menschenmengen untersucht. Was haben Sie herausgefunden? Couzin: In einer Menge, zum Beispiel am Bahnhof oder in einer großen Einkaufsstraße, bewegen sich die Menschen per Autopilot. Sie denken an ihre Familie und was sie am Abend kochen werden. Unter allen Tiergruppen, die wir bisher untersucht haben, waren Menschenmengen die am besten vorhersagbaren. Wir können zwar schwer ahnen, was ein einzelnes Individuum tun wird, aber es ist sehr einfach, vorauszusehen, was eine Menschenmenge tun wird. Wir haben Kameras und Computerprogramme entwickelt, die erkennen, wie sich einzelne Menschen bewegen, wohin sie schauen und wie sie untereinander agieren.
profil: Kann diese Software helfen, Katastrophen wie jene bei der Loveparade in Duisburg 2010 zu verhindern? Damals starben 21 Menschen im Gedränge. Couzin: Ja. Interaktionen in Menschenmengen haben immer einen lokalen Charakter. Niemand sieht das große Ganze, sondern höchstens ein paar Meter seines Umfelds. Evolutionär gesehen sind wir für große Menschenmassen nicht ausgelegt und haben keine Instinkte, auf die wir uns in solchen Situationen verlassen könnten. Manchen Individuen ist es gar nicht bewusst, dass sie andere drängen. Einige Meter weiter kann das fatale Folgen haben. Menschen, die bedrängt werden, geraten in Panik. Das macht alles noch schlimmer, denn sie schieben dann noch mehr. Es entstehen Kräfte, die sogar Stahl brechen können, wie wir aus den Katastrophen in Fußballstadien wissen. Diese Mechanismen zu verstehen, hilft uns, gefährliche Zonen wie Brücken oder Unterführungen zu entschärfen. Wir können mittlerweile simulieren, wie sich Menschenmengen in bestimmten Straßenzügen bewegen und Gefahrenquellen beim Bau neuer Stadtviertel von vornherein ausschalten.
Ein Autofahrer sieht nur sein unmittelbares Umfeld, während ein intelligentes Auto mit anderen Fahrzeugen kommuniziert und weiß, wo sich ein Stau bilden könnte.
profil: Sie haben Schauspieler engagiert, die sich auf einem Bahnhof und in einer Einkaufsstraße merkwürdig benahmen. Warum? Couzin: Wir wollten sehen, wie die Passanten reagieren. Die meisten beobachteten die Szenen eingehend, griffen aber nicht ein. Wir nennen das beobachtende Apathie - jeder verlässt sich auf den anderen, sodass letztlich niemand Verantwortung übernimmt. Menschen können grundsätzlich gut unterscheiden, ob jemand einfach nur betrunken ist oder ob von jemandem tatsächlich Gefahr ausgeht. Einen Betrunkenen streifen sie höchstens mit dem Blick, eine Gefahrenquelle beobachten sie eingehender. Wir nützen diese Blicke als Sensoren. Unsere Software kann herausfiltern, wo viele Menschen hinstarren. Bei großen Veranstaltungen kann das dabei helfen, Problemzonen schnell zu erfassen, auch ohne dass einer der Umstehenden Alarm schlägt.
profil: Auch Ameisen gehören zu Ihren Versuchstieren. Sie produzieren im Gegensatz zu Menschen selten Staus. Was ist ihr Geheimnis? Couzin: Ameisen agieren völlig selbstlos. Die Evolution hat sie darauf programmiert, möglichst keine Staus zu erzeugen. Bewegt sich eine Ameisenkolonne auf ein Hindernis zu, versuchen die Ersten, es zu beseitigen, während die anderen über sie hinwegklettern. Schneidet ein Spalt den Weg ab, formen die Vordersten spontan eine lebende Brücke, die Nachkommenden überqueren sie. Ingenieure interessieren sich sehr für dieses flexible System und entwickeln Roboter, die sich ebenfalls zusammenschließen können, um Hindernisse zu überwinden.
profil: Menschen sind hingegen egoistisch, besonders im Straßenverkehr. Couzin: Das stimmt. Durch Technologien wie selbstfahrende Autos und GPS könnte sich das ändern. Ein Autofahrer sieht nur sein unmittelbares Umfeld, während ein intelligentes Auto mit anderen Fahrzeugen kommuniziert und weiß, wo sich ein Stau bilden könnte. Es kann im Idealfall entsprechend reagieren.
Unsere Forschung profitiert auch sehr von den Fortschritten in der Spiele-Industrie.
profil: Können wir uns noch mehr von Ameisen abschauen? Couzin: Ameisen dienen bereits als Vorbilder für Algorithmen, die Telefongespräche und Internetverbindungen koordinieren.
profil: Wie funktioniert das genau? Couzin: Die Algorithmen legen mithilfe virtueller Chemikalien Spuren aus. Damit kommunizieren sie innerhalb von Netzwerken. Genauso legen die Ameisen ihre Wegenetze an.
profil: Sie untersuchen auch, wie sich Krebszellen ausbreiten. Couzin: Das Gefährliche an Krebszellen ist, dass sie von einem Teil des Körpers in andere Teile wandern. Dabei nutzen sie ebenfalls das Prinzip der Ameisen. Sie manipulieren ihre Umwelt mithilfe von chemischen Stoffen, wodurch sie Feedback aus ihrer Umgebung bekommen, was wiederum den Selektionsdruck auf sie selbst erhöht. Dieser Vorgang wiederholt sich immer wieder. Ihn möglichst genau zu kennen, könnte dabei helfen, Medikamente zu entwickeln, die ihn stoppen.
profil: Sie nutzen für Ihre Experimente virtuelle Realitätssoftware, wie sie auch in Filmen wie "Batman“ und "Herr der Ringe“ oder in Videospielen verwendet wird. Wie funktioniert das? Couzin: Wir planen in Konstanz, ein 15 Meter langes, 15 Meter breites und acht Meter tiefes Aquarium zu bauen. Dort werden wir echten Fischschwärmen eine virtuelle Umgebung vorgaukeln. Obwohl die Fische in einem leeren Becken schwimmen, sehen sie Felsen, Wasserpflanzen oder Haie, die sie fressen wollen. In kleinen Aquarien funktioniert das bereits sehr gut. Wir können die virtuelle Welt inzwischen sogar aus der Perspektive eines einzelnen Fisches verfolgen. Umgekehrt programmieren wir virtuelle Fisch-, Vogel- oder Schafherden, die uns als Modelle dienen. Das Biocenter Wien ist ein Vorreiter für die Entwicklung solcher Programme. Andrew Straw vom Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) hat die derzeit beste Technologie entwickelt, um für echte Tiere eine virtuelle Realität zu schaffen. Unsere Forschung profitiert natürlich auch sehr von den Fortschritten in der Spiele-Industrie.
Unsere Fähigkeit für die Entscheidungsfindung ist evolutionär auf kleine, familiäre Strukturen ausgelegt.
profil: Sie sagten einmal, Golden Shiners seien die dümmsten Fische, die es gibt. Trotzdem arbeiten Sie mit ihnen. Sind sie gerade wegen ihrer Dummheit gute Versuchstiere? Couzin: So dumm sind sie gar nicht, ich habe den kleinen, aus Nordamerika stammenden Fischen unrecht getan. Sagen wir, sie sind von simpler Eleganz. Golden Shiners lösen Probleme im Kollektiv. Das ist eine sehr effektive Taktik, die viel Energie spart, weil sie wenig Gehirnkapazität beansprucht. Als Schwarm bewegen sich die Golden Shiners koordiniert und höchst elegant. Man könnte annehmen, dass sie untereinander kommunizieren. Wir haben jedoch herausgefunden, dass die Fische ganz simplen Prinzipien folgen: Ist meine Umgebung hell, bewege ich mich. Ist es dunkel, bleibe ich, wo ich bin - weil ich dort vor Fressfeinden am sichersten bin. Dazu kommt der Instinkt, sich immer in der Nähe von Nachbarn aufzuhalten, ohne diese zu berühren.
profil: Die Fische sind besonders gut darin, demokratische Entscheidungen zu treffen. Wie machen sie das? Couzin: Sie haben ein besonders gutes Gespür für Mehrheiten. Ein Fisch in einem Schwarm schließt sich immer der Mehrheit an. Wollen sechs Fische nach links und nur fünf nach rechts, wird der Schwarm sich für links entscheiden. Wir konnten auch beobachten, dass unparteiische Fische die Gruppe enorm demokratisieren. Je mehr unparteiische Individuen in einem Schwarm sind, desto mehr schließen sich der Mehrheitsmeinung an. Das ist übrigens ein fundamentales Muster, das sich in vielen Gruppen zeigt. Die Art, wie Fischschwärme kollektiv Entscheidungen treffen, ähnelt zum Beispiel in vielen Punkten der Entscheidungsfindung hoch entwickelter Affengruppen. Wir untersuchten eine wilde Herde von Pavianen in Kenia. Wir vermuteten, dass die soziale Stellung einzelner Affen einen starken Einfluss auf Entscheidungen haben würde. Das stellte sich als falsch heraus. Spaltete sich die Gruppe auf der Futtersuche in zwei Teile, entschieden sich die Nachkommenden immer, der größeren Gruppe zu folgen. Es spielte keine Rolle, ob sich darin die ranghöchsten Paviane befanden oder nicht.
profil: Könnte man ein solches Modell auch auf politische Entscheidungen bei Menschen übertragen? Couzin: Das ist schwierig, weil Fische oder Affen weder Facebook noch Massenmedien kennen. Unsere Fähigkeit für die Entscheidungsfindung ist evolutionär auf kleine, familiäre Strukturen ausgelegt. Es funktioniert jedoch gut, mit unseren Modellen die Entscheidungen in Jäger- und Sammlergesellschaften nachzubilden. Ebenso relativ gut vorhersagbar wäre die Dynamik in einem Geschworenengerichtssaal, in dem sich Menschen gegenseitig beeinflussen. Politische Meinungsbildung unterliegt heute hingegen so vielen Einflüssen, dass wir dafür noch kein verlässliches mathematisches Modell zur Verfügung haben.
Zur Person
Iain Couzin, 42, aus Schottland, ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Konstanz sowie Professor an der Universität Konstanz, wo er derzeit ein neues Institut für kollektives Verhalten aufbaut. Mithilfe virtueller Realitätssoftware analysiert und simuliert er Entscheidungen und Bewegungsmuster von Fischschwärmen, Ameisenstaaten, Pavianherden und Menschenmengen. Couzin war Gastredner bei der 8. Europäischen Konferenz für Verhaltens- und Kognitionsbiologie, die Mitte Juli an der Universität Wien stattfand.